Seit Mitte der Achtziger Jahre interveniert die Pariser Graffiti-Künstlerin Miss.Tic sichtbar im urbanen Raum. Nur wenige Jahre nach Auflösung der Situationistischen Internationale 1972 nutzt sie Techniken aus dem Verfremdungsrepertoire für ihre künstlerischen Zwecke. Das Sprühen ihrer Schablonentextbilder auf die Pariser Mauern beim Umherschweifen (dérive) durch die Stadt wurde zum konspirativen Ausgangspunkt ihres kreativen Schaffens. Die Umdeutung von Werbemotiven (détournement), besonders im Hinblick auf die Selbst-
und Fremddarstellung der Frau, war und ist ihr Sujet.
Klar, dass ihre Werke nicht nur auf Anerkennung stoßen, sondern auch auf Widerspruch. Von einem Strafprozess wegen Sachbeschädigung im Jahr 1999 mal ganz zu schweigen, der ihr letztendlich aber mehr genutzt als geschadet hat. Zu betonen ist, dass sie immer die Absicht gehabt hat, von ihrer Kunst leben zu können. Daher hat sich für Miss.Tic nie die Frage nach dem Widerspruch von Street Art und dem Ausstellen in Galerien gestellt.
Wie war das mit den Situationisten?
„In den 1970er Jahren begegnete ich Leuten, die sehr von den Situationisten inspiriert waren, Guy Debord lasen und ihn ständig zitierten“, erzählt Miss.Tic. „In jener Zeit war Debords Hauptwerk Die Gesellschaft des Spektakels ungeheuer wichtig. Das öffnete uns den Horizont und wies uns in eine neue Richtung.“ Allerdings habe sie Raoul Vaneigems Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen inspirierender gefunden. Dieses Buch habe sie leichter verdauen können und außerdem sei ihr Guy Debord wegen seiner Chef-Allüren eher unsympathisch gewesen.
Street Art hat sie erstmals Anfang der Achtziger in den USA gesehen. „Damals kam dort gerade Hip-Hop auf und mit ihm Graffiti, Lettrages, Video Art und all das. In Los Angeles waren ganze Hauswände von Künstlern bemalt worden, die sich allerdings vorher eine Erlaubnis besorgt hatten. Als ich Anfang 1983 aus den USA wieder nach Frankreich zurückkehrte, tauchte auf den Pariser Straßen allmählich Kunst auf.“ Das f
and sie toll und eines Nachts habe sie „offenen Auges vor einer Mauer stehend das verweigert, was andere geschlossenen Auges akzeptieren. Aus einer Provokation heraus habe ich eine literarische Fiktion aus dem Schwarz der Wimperntusche geschaffen und Frauen gemalt, um der Sprache einen Körper zurückzugeben.“
Die von ihr verfremdeten Frauenmotive nimmt Miss.Tic aus Frauenzeitschriften. Sie legt Wert auf die Feststellung: „Ich entwerfe aus ihnen ein bestimmtes Image der Frau, nicht um es zu bewerben, sondern um es zu befragen. Ich unterziehe weibliche Positionen einer Art von Inventur.“ Weder male noch schreibe sie ihren persönlichen Roman. „Mir geht es darum, als Künstlerin und als Frau in der Stadt und der kreativen Welt Stellung zu beziehen. Kreieren heißt Widerstand leisten.“ Und natürlich auch auf Widerspruch stoßen. Insbesondere ihre Darstellung der Frau wird oftmals von letztendlich konservativen Feministinnen kritisiert. Miss.Tic verwendet bewusst ein klischeehaftes Frauenbild, wie wir es aus den Hochglanzillustrierten von Vogue bis Elle kennen. „Ich übernehme die Ikonografie dieser Frau, die immer schön, verführerisch, sexy – und natürlich zu allem bereit ist…“ Allerdings, und dieser Aspekt ist für das Verständnis ihrer Intention absolut unerlässlich, kontrastiert sie dazu ihre poetischen, zumeist doppelsinnigen Slogans. „Dass meine Frauenbilder zuweilen aggressiv rüberkommen, liegt an der Art, wie ich sie zeichne: sie sind schwarz, ich verfremde die Bilder. So bekommen sie eine andere Konnotation. Vor allem liegt es an dem, was ich sie sagen lasse. Ich lege ihnen schon mal provozierende, aggressive Sätze in den Mund. Manchmal aber auch sanfte, liebevolle Wörter, die für Männer vielleicht einschüchternd sind.“
Letztendlich könnte Miss.Tic, was die explizite Darstellung femininer Frauenposen betrifft, als Vorläuferin einer Position bezeichnet werden, auf die sich Pussy Riot oder die ukrainische Femen-Bewegung bezi
ehen könnten. Aber im Unterschied zu den genannten aktivistischen Künstlerinnen hält sich Miss.Tic zumeist aus der Tagespolitik heraus bzw. zieht sie sich in den Schutzraum der Kunst zurück. Nur während des Wahlkampfes um die Präsidentschaft interveniert sie mit einer eigenen „Miss.Tic Presidente“-Kampagne. Ihr Programm: „Grenzen überschreiten. Langeweile desorganisieren. Leidenschaften für sich erfinden. Klischees dekonstruieren.“ Oder sie fragt Godard: „Qu‘ est-ce que l’art?“
Und genau diese Frage, was denn Kunst ist, muss Miss.Tic ebenfalls heute mehr denn je gestellt werden. Bei ihrer Kunst liegt heute die Gefahr im zu gefällig daherkommenden Dekorativen. Positionen und Posen, die einmal produktiv verstört haben, nutzen sich mit der Zeit zu schnell ab.
Beide haben das Buch Bomb it, Miss.Tic in der Edition Nautilus herausgegeben.