Als die Polizei eine Versammlung von streikenden Arbeitern in Südafrika am 16. August mit Waffengewalt auflöste und dabei 34 Bergarbeiter tötete, war es der verheerendste Einsatz seit dem Ende der Apartheid. Damit rückten auch die desaströsen Arbeits- und Lebensbedingungen für die Masse der schwarzen Bevölkerung zumindest für kurze Zeit ins Rampenlicht. Südafrikas Bergbau dürfte zu den technologisch rückständigsten weltweit zählen, mit einfachsten Mitteln und unter gesundheits- und lebensgefährlichen Bedingungen werden dort vor allem Edelmetalle wie Platin und Gold abgebaut. Seine Wettbewerbsfähigkeit basiert auf den niedrigen Lohnkosten. Ein Bergarbeiter verdient in der Regel. umgerechnet kaum mehr als 500 Euro im Monat. Die von der National Union of Mineworkers (NUM, siehe unten) mit den einzelnen Bergwerksunternehmen vereinbarten Tariflöhne liegen in der Regel nur wenig über der Inflationsrate. Seit Beginn der globalen Wirtschaftskrise 2008 ist zudem die Nachfrage nach Platin deutlich gesunken, der Druck auf die Lohnabhängigen mithin gestiegen, immer mehr Jobs werden ausgelagert an Leiharbeitsfirmen und Kontraktarbeiter, deren Bezahlung noch schlechter ist, als die der direkt Angestellten. Angesichts dessen versuchen die Arbeiter, die bei den Funktionären der NUM kaum noch Gehör finden, immer wieder mit wilden Streiks zusätzliche Lohnerhöhungen durchzusetzen. Insbesondere seit Krisenbeginn hat sich die Zahl der wilden Streiks im Platin- und Goldbergbau deutlich erhöht. Am 10. August dieses Jahres hatten die Rock-Driller (Felsbohrer) beim Platinförderer Lonmin in der Nähe von Johannesburg die Nase voll. Sie wollten mithilfe der NUM zusätzliche Lohnerhöhungen durchsetzen, was diese jedoch verweigerte. Mehr noch, als die Arbeiter zum örtlichen Gewerkschafts-Büro marschierten, um den dortigen Funktionären ein Memorandum mit ihren Forderungen zu übergeben, eröffneten diese das Feuer auf die unbewaffneten Arbeiter, die in ihrer großen Mehrheit in der NUM organisiert waren. Zwei von ihnen starben vor Ort. Daraufhin traten die 3000 Felsbohrer bei Lonmin in den Streik und bewaffneten sich. In den nächsten Tagen eskalierte die Gewalt, vier weitere Arbeiter, zwei Polizisten und zwei Wachleute wurden getötet, bis es schließlich zu dem verhängnisvollen Massaker kam, bei dem 34 Bergarbeiter getötet und 78 verletzt wurden; 259 Streikende wurden festgenommen.
Die Bewohner der umliegenden, zumeist informellen Siedlungen solidarisierten sich daraufhin mit den Streikenden und Lonmin musste Ende August einräumen, dass die Streikbeteiligung unter den Bergarbeitern nahezu vollständig sei. Eine Woche nach den tragischen Ereignissen in Marikana traten erstmals Kumpel eines anderen Platin-Bergwerkes der Region mit in Streik, Ende desselben Monats griff die Streikwelle schließlich auf den Goldbergbau über. Nun schaltete sich die Regierung ein und beraumte Verhandlungen für ein „Friedensabkommen“ zwischen Management, Gewerkschaften und Arbeiterdelegierten an, jedoch ohne Erfolg. Die Streikenden weigerten sich, ohne Lohnangebot wieder an die Arbeit zu gehen. Nach 6 Wochen Streik bei Lonmin gab das Unternehmen nach. Es wurde ein Abkommen unterzeichnet, das Lohnerhöhungen für die Felsbohrer auf 11.000 Rand (knapp 1000 Euro) vorsieht. Die Ausbreitung der Streiks beschleunigte sich weiter. Während sich Mitte September knapp 40.000 Bergarbeiter im Streik befanden, waren es Anfang Oktober bereits über 80.000. Und beinahe täglich kommen Nachrichten von neuen Ausständen.
Der Streik bei Lonmin war von den Arbeitern selbst organisiert. Entscheidungen wurden auf den Massenversammlungen der Streikenden gefällt, Streikkomitees wurden gewählt, die sich auf die Arbeiter ungeachtet ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit stützen. Noch immer kommt es zu Auseinandersetzungen mit Schlägertrupps der NUM – die aber nicht die Ursache, sondern eine Folge der Streiks und des für die Arbeiter verheerenden Agierens der NUM sind. Die Unternehmen beklagten, dass Auseinandersetzungen zwischen den beteiligten Gewerkschaften um die Vorherrschaft in den Bergwerken, zwischen NUM und ihrer Abspaltung Association of Mineworkers and Construction Union (AMCU, siehe unten), die Ursache für die Streiks gewesen seien. Tatsächlich versucht die AMCU in jüngster Zeit immer nachdrücklicher im Bergbausektor Fuß zu fassen. Sie kann sich dabei auf den weitverbreiteten Frust der Arbeiter über die NUM, die de facto zu einem Teil des Managements geworden ist, stützen. In diese Lücke stößt nun die AMCU, die aktiv gerade die am niedrigsten bezahlten Arbeitergruppen, einschließlich der Kontrakt- und Leiharbeiter, organisiert. Allerdings gibt die AMCU auch dort, wo sie in den Verhandlungsprozess einbezogen worden ist, sehr schnell ihre Forderungen auf.
Der regierende ANC und die mit ihm eng verbundene NUM versuchen die Streikenden überall zu diffamieren. Die zumeist aus ländlichen Gegenden stammenden Felsbohrer werden als ungebildet und latent gewalttätig und daher selbstorganisierter Handlungen unfähig dargestellt, die sich leicht von radikalen Elementen mit „unrealistischen“ Lohnforderungen aufstacheln lassen. In den Medien wurde verbreitet, dass sich Streikende von Wunderheilern unverwundbar machen lassen und deswegen so militant aufträten usw. Von Anfang an wurden zudem Befürchtungen laut, dass ein erfolgreicher Streik bei Lonmin eine ganze Welle von Streiks im gesamten Sektor und darüber hinaus im Lande zur Folge haben könnte. Nicht nur der Bergbau, der gesamte Investitionsstandort Südafrika sei in Gefahr, wenn sich die gewaltsamen Auseinandersetzungen nicht eindämmen ließen.
Der ANC und die Unternehmer reagierten mit Zuckerbrot und Peitsche. Einerseits wurde eine genaue Untersuchung des Massakers von Marikana und der sozialen Lage der Bergarbeiter angekündigt, Unternehmer offerierten „Nachverhandlungen“ zu den laufenden Tarifverträgen. Auf der anderen Seite verbot der Staat zahlreiche Demonstrationen und Versammlungen, führte Razzien durch, schickte Militäreinheiten zur Unterstützung der Polizei und drohte mit der Verhängung des Ausnahmezustandes über die sogenannten Unruheprovinzen. Die Unternehmer drohen mit Entlassungen und Schließung ganzer Minen. Amplats, der größte Platinförderer der Welt, hat die Drohungen inzwischen wahr gemacht und verkündete Anfang Oktober die Entlassung von insgesamt 12.000 Streikenden, die sich den firmeninternen Disziplinarmaßnahmen verweigert hatten, inzwischen sind einige andere Unternehmen diesem Beispiel gefolgt.
Die Streikenden reagieren den Umständen entsprechend, sie wehren sich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln – vom Speer bis hin zu Brandbomben. Streikbrecher werden massiv eingeschüchtert, es kam mehrfach zu Anschlägen auf NUM-Funktionäre, wobei unklar ist, von welcher Seite diese erfolgen. Immer wieder besetzen die Arbeiter ihre Minen, verweigern die Ausfahrt und wehren sich militant gegen Räumungsversuche durch die Polizei.
Obwohl die Beurteilung des Konfliktes gegensätzlich ausfällt, sind sich die meisten Beobachter einig, dass es bei den Kämpfen um mehr geht, als um Lohnerhöhungen. Die meisten Arbeiter haben es satt, ihr Leben für Hungerlöhne und vage Zukunftsversprechen zu ruinieren. Die etablierten Gewerkschaften und der ANC verlieren zusehends an Vertrauen und Einfluss. Hattingh Shawn vom südafrikanischen anarcho-kommunistischen Netzwerk ZABALAZA sieht durchaus Chancen für eine neue Bewegung der Selbstemanzipation. Allein die Tatsache, dass all die wilden Streiks ihren Ausgang bei den Arbeitern selbst nahmen, stimmt ihn zuversichtlich. In den Massenversammlungen und deren Forderung nach öffentlich zugänglichen Verhandlungen sieht er die zentralen Ansatzpunkte für eine Weiterentwicklung der Kämpfe. Gleichzeitig warnt er vor der gerade unter linken populären Forderung nach einer Verstaatlichung des Bergbausektors und räumt den Hoffnungen auf die Revolutionierung der bestehenden Gewerkschaften nur geringe Chancen ein. Auch sieht er die nicht zu unterschätzende Gefahr, dass Populisten die Unzufriedenheit der Massen für ihre eigenen Machtambitionen ausnutzen könnten. Entscheidend sei es, dass sich die Ansätze von Basisorganisierung verstetigen lassen, Strukturen entstehen, die Populisten und Clanchefs keine Chancen lassen. Darin sieht Shawn auch die nächstliegende Aufgabe der eher schwachen radikalen Linken in Südafrika. Sie könne ihre Erfahrung in basisdemokratischen Prozessen einbringen und so populistischen Tendenzen etwas entgegensetzen, hofft er.
NUM
AMCU
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