Die diesjährige Auswahl neuer Spielfilme aus Italien, die durch Deutschland tourt, setzt sich auch mit der tiefen Wirtschaftskrise des Landes auseinander.
Nach der Befreiung 1945 kamen aus Italien sozialrealistische Filme, die als „Neo-Realismus“ bekannt wurden. Die Kinoindustrie rund um Cinecitta hat seitdem viele Entwicklungen durchlaufen, in denen sich die gesellschaftlichen Konflikte und Interessengegensätze im Land spiegelten. Einmal im Jahr gibt es hierzulande beim Festival des Italienischen Films Originalfassungen mit deutschen Untertiteln zu sehen, die es nicht auf den deutschen Filmmarkt schaffen. Jetzt tourt das jährliche Festival durch 29 Städte und 32 Kinos. Dieses Jahr wird „Cinema! Italia!“ fünfzehn. Zeit, sich nach der Pubertät zu orientieren in der Arbeitswelt: Drei von sechs Filmen stellen dieses Jahr die sozialen Verwerfungen durch die Krise in den Mittelpunkt. Unter der nichtgewählten Technokratenregierung von Mario Monti haben sich das Schuldenkrisendiktat und die Privatisierungsdoktrin noch weiter verschärft. Die Verzweiflung in der Arbeiterklasse und der Mittelschicht nimmt dramatisch zu, aber auch die teilweise filmreife Empörung.
So besetzten 100 Minenarbeiter die einzige, von der Schließung bedrohte Kohlenmine Carbosulcis auf Sardinien nicht nur – sie verschanzten sich dort Ende August mit 350 Kilo Sprengstoff 400 Meter unter Tage. Als sie ein Fernsehteam besuchte, schnitt sich ein Minenarbeiter mit einem Messer den Arm auf, um dramatisch zu zeigen, dass es um ihre Existenz geht. In Italien leiden wie in Spanien und Griechenland die unteren Einkommensschichten und die Einkommenslosen heftig unter der neoliberalen Austeritätspolitik.
Ist das italienische Kino auch in der Krise? Kommt jetzt als Antwort ein Neo-Neorealismus?
Auch in Zeiten paralysierter sozialer Bewegungen gibt es Filme, die ich als neo-neorealistisch bezeichnen würde – über soziale Konflikte. Die Auswahl von „Cinema! Italia!“ zeigt die unterschiedlichsten Zugänge zu italienischen Realitäten, der Schwerpunkt liegt auf der Arbeitswelt.
„La nostra vita“ („Unser Leben“) von Regisseur Daniele Luchetti, bekannt durch seinen vorigen Film „Mein Bruder ist ein Einzelkind“, beginnt fröhlich. Eine Hochschwangere und ihr Mann liegen zusammen auf dem Bett und singen zusammen ein Lied mit. Aber bald steht der Bauarbeiter Claudio (vielschichtig gespielt von Elio Germano) vor unerwarteten Problemen. Seine Frau stirbt bei der Geburt, er steht mit den Kindern alleine da. Auf der Baustelle scheint sich eine gute Gelegenheit zu ergeben, mehr zu verdienen: als Subunternehmer, der eine ganze Baustelle eigenverantwortlich betreut. Aber so gerät Claudio in neue Probleme. Doch er wird unterstützt. Sein Alltag mit den Kindern und der Arbeit ist eine ständige neue Herausforderung. Es wird gelacht, geweint, gekämpft. Die Kamera ist in „La nostra vita“ oft dicht an den Gesichtern, nah an den Menschen. Die Zuschauenden mittendrin im prekären Familienleben. Der Regisseur hatte zuvor einen Dokumentarfilm über die besetzten Sozialwohnungen in Ostia gedreht: „Bei dieser Gelegenheit lernte ich eine andere Art der Armut kennen, als ich sie vielleicht erwartet hatte. Ich sah dort Leben, Heiterkeit.“ Das hat Lucchetti auf eine Spielfilmhandlung übertragen. Daniele Luchetti: „Das Italien von heute? Eine Baustelle voller Schwarzarbeiter auf der einen Seite, und diejenigen, die davon profitieren, auf der anderen.“ Aber in den Vorstädten der Arbeiterklasse sieht er keine Resignation in den Schlafstädten, die „vor Leben und Widersprüchen nur so sprühen.“
In „Il mio domani“ („Die Zukunft liegt vor mir“) erzählt Regisseurin Marina Spada von einer scheinbar erfolgreichen Geschäftsfrau in Mailand, Monica (überzeugend gespielt von Claudia Gerini). Aber durch den Tod ihres Vaters gerät ihr Leben plötzlich aus den Fugen. Die toughe Businessfrau muss sich dem Scheitern von Beziehungen stellen. Die Kameraeinstellungen in „Il mio domani“ sind ebenso eine gelungene Bebilderung des Arbeitens in einer Konzernzentrale wie auch der persönlichen Auseinandersetzungen, die sich nicht wirklich von der Arbeit trennen lassen. Die Zuschauenden sind hier auch in Distanz zur Protagonistin, durch Auslassungen, die auffordern eine eigene Sicht auf ihre Konflikte zu denken.
In „l’Industriale“ („Der Unternehmer“) zeigt uns Giuliano Montaldo, der Regisseur von „Sacco und Vanzetti“, seine Sicht der Krise: Dass die sozialen Verwerfungen, Angst vor Verlust, die schlechtesten menschlichen Eigenschaften zum Vorschein bringen können.
Nicola (Pierfrancesco Favino) gehört eine Fabrik in Turin, ein Familienbesitz. Ohne Konzern im Hintergrund gerät die Fabrik durch die Wirtschaftskrise in die Schuldenfalle. Er ist gestresst, gehetzt. Da hilft auch die teure Armbanduhr, ein großes Haus nicht weiter. Die Ehe von Nicola und Laura (Carolina Crescentini) ist auch in der Krise, aber eigentlich braucht er Geld von ihr, um die Fabrik am Laufen zu halten. Der Unternehmer ändert sich, wird skrupelloser. Aber kann er dadurch seinen Besitz, seine Ehe retten? Nicola, „l’Industriale“, kann sich im Film mehrmals entscheiden. Die Inszenierung ist spannend, die Filmmusik steigert die Dramatik noch. Ein Lehrstück, was sich hier vor unseren Augen abspielt. Dass Giuliano Montaldo die Auswirkungen der Krise auch auf die Familie des Kapitalisten zeigt, die Brüche in den Beziehungen, unterstreicht nur das Ausmaß der Wirtschaftskrise.
Infos: www.cinema-italia.net
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