Ungeachtet der Kontroverse ob Prostitution nun als ein Beruf wie jeder andere betrachtet werden kann, ist es keine Frage, dass sich die Arbeitsbedingungen für SexarbeiterInnen noch deutlich verbessern müssen. Kämpfe für sicherere gesundheitliche Bedingungen sowie für die Verbesserungen der sozialen Situation der SexarbeiterInnen sind heute längst Normalität. Selbsthilfegruppen und Beratungsvereine existieren bereits seit Jahrzehnten und werden in den meisten Fällen öffentlich finanziert. Da diese Kampagnen und Organisationen in der Regel von aktiven oder ehemaligen SexarbeiterInnen getragen werden, kann hier trotz der abhängigen Finanzsituation von einer Selbstorganisation der Betroffenen gesprochen werden. In den letzten Jahrzehnten konnte aus diesem Grund viel für Prostituierte erreicht werden. Durch fundamentale gesundheitliche Aufklärung für Prostituierte und KundInnen, spezifische Rechts- und Steuerberatung für die formell selbstständigen SexarbeiterInnen und politische Kampagnen, mit denen beispielsweise in Deutschland eine Legalisierung der Prostitution erreicht werden konnte, wurde die Situation von SexarbeiterInnen ganz konkret verbessert.
Aus syndikalistischer Perspektive bleibt allerdings anzumerken, dass sich diese Aktionen und Kampagnen meist als Dienstleistungen für SexarbeiterInnen begreifen. Eine gewerkschaftliche Organisierung um die Arbeitsbedingungen direkt im „Betrieb“ anzugehen, findet zur Zeit nicht statt. Kämpferische Betriebsgruppen in prekären Arbeitsverhältnissen sind in der „normalen“ Wirtschaft schon extrem selten. Eine kämpferische Basisgewerkschaft im Rotlicht-Mileu wäre da eine bemerkenswerte Entwicklung.
Erfreulicherweise ist genau diese Entwicklung zur Zeit in Genf zu beobachten. Auch hier existiert mit Aspasie schon seit 30 Jahren eine sehr erfolgreiche Selbsthilfeorganisation für SexarbeiterInnen.
Eine grosszügige öffentliche Finanzierung ermöglicht nicht nur Büroräume in der Genfer Innenstadt, sondern auch ein breites Angebot an Beratungen und sozialen Diensten. Um aber über diese Dienstleistungen hinaus selbstbestimmt direkt für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen, wagten im September Genfer SexarbeiterInnen den entscheidenden Schritt und gründeten das Syndikat der Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter STTS (syndicat des travailleuses et travailleurs du sexe).
Und zwar mit Erfolg. Nach nicht einmal 3 Monaten hat es heute schon über 150 Mitglieder. Bei knapp 1000 aktiven SexarbeiterInnen in Genf ein beachtlicher Organisierungsgrad.
Kein Wunder, kann das neue Syndikat doch mit einigen klaren gewerkschaftlichen Vorteilen aufwarten. Bei rechtlichen Auseinandersetzungen steht den GenossInnen ein Anwalt kostenfrei zur Seite. Wichtiger ist aber noch eine andere, direkte Schutzfunktion des Syndikats: Bei Konflikten mit den BordellbetreiberInnen oder mit den VermieterInnen bietet das Syndikat die Möglichkeit die Forderungen und Beschwerden anonym zu artikulieren und über das Syndikat unerkannt mit der Gegenseite diskutieren zu können. In diesen prekären Beschäftigungsverhältnissen ein wertvolles Instrument.
Da die GenossInnen als formell Selbständige keine Lohnerhöhungen über Tarifverträge erkämpfen können, haben sich die Mitglieder des Syndikats verpflichtet ihre Dienste nicht unter einer vom Syndikat beschlossenen Lohnuntergrenze anzubieten. Ein erster Schritt zur Etablierung der syndikalistischen Registermethode (siehe Alternativen zum Tarifvertrag).
Klassische Streiks sind allerdings, nach Einschätzungen Angelinas, der Präsidentin des Syndikats, in nächster Zeit nicht zu erwarten. Hierfür sind die Arbeitsplätze der GenossInnen zu prekär und ungesichert. Völlig machtlos ist das Syndikat trotzdem nicht. Vor allem der gute Kontakt zu den städtischen Behörden und die große Bereitschaft der Presse über die Situation im Rotlichtmilieu zu berichten, können bei Konflikten für den nötigen Druck sorgen.
Doch nicht nur das Betätigungsfeld des STTS ist für klassische Gewerkschaften ungewöhnlich, sondern auch die Organisationsstruktur. Alle Entscheidungen werden basisdemokratisch auf den monatlichen Vollversammlungen getroffen. Bezahlte FunkonärInnen gibt es nicht und die Mitgliedschaft steht auch Menschen ohne Papieren offen. Das Syndikat sichert darüber hinaus seine Unabhängigkeit damit, dass es sich aus den Mitgliedsbeiträgen komplett selbst finanziert.
Über die gewerkschaftlichen Aktionen hinaus ist das Syndikat außerdem politisch tätig. Da in der Schweiz die Prostitution auf kantonaler Ebene geregelt wird, haben sich bereits mehrere Kantone an das Syndikat gewandt, um die Bedürfnisse und Forderungen der Betroffenen im Gesetzgebungsprozess zu berücksichtigen. Interessanterweise ist eine der Forderungen des Syndikats an die Gesetzgebung, dass es eine gesetzliche Verpflichtung zur Registrierung als SexarbeiterIn geben sollte. Dies habe sich in der Vergangenheit als gutes Mittel gegen mafiöse Strukturen bewährt.
Wie sich dieses Syndikat in den nächsten Jahren weiterentwickelt, wird spannend zu beobachten sein. Besonders die Arbeitskampfformen, die sich im extrem prekären Arbeitsumfeld der Prostitution bewähren, sind sicher auch für andere prekäre Beschäftigungen interessant.