Die Kreideleiche eines Gliedermännchens, wie es zu Bewegungsstudien von Malern benutzt wird, klettert behände Mauern längs und hoch, winkt einsamen Passanten zu und stützt verfallende Fenstersimse. Weiße Spuren Namenloser, welche ebenso rasch zu verschwinden drohen, wie sie gekommen sind.
Seit dem 16. Januar 1983 lässt sie ihr Schöpfer und Choreograph Jérôme Mesnager durch Pariser Winkel und Straßen streifen. Da begegnen sie zuweilen dem schwarzen Trenchcoatmann Nemos, der mit Schirm und Melone durch die Stadt tanzt, den Ratten, Ballerinas und Clochards von Blek le Rat, den Rimbauds und großformatigen Heraufbeschwörungen vergessener Geschichtsdramen eines Ernest Pignon-Ernest oder den lasziv-provokativ sich gebärdenden Frauenmotiven Miss.Tics. Mit ihrer poetisch-figurativen Motivik schreiben sie alle ein spezifisch französisches Kapitel der Graffitikunst, welches in den 1980er Jahren seinen Anfang nahm. Klaus-Peter Flügel und Jorinde Reznikoff trafen Jérôme Mesnager in seinem Atelier.
Wir seien neugierig auf das Libertäre in der französischen Kultur. Wie er, Jérôme Mesnager, sich denn zum kapitalistischen Détournement von kritisch engagierter Kunst im öffentlichen Raum verhalte. „Können wir nicht über Topinambur reden?“, wirft er uns über den runden Tisch hinüber, an dem wir schließlich doch Platz genommen haben. Denn fast hätten wir kehrt gemacht vor dem blauen Malerhaus im mittlerweile angesagten Banlieue Montreuil, die Klingel blieb lange ungehört. Künstlerattitüde oder der Absinth am Vormittag? Mit ein bisschen Bohème-Inszenierung die lästig-unentbehrlichen JournalistInnen sich vom Leibe halten – in der leisen Hoffnung, sie könnten dann doch eine Brücke schlagen. Denn wie kann sich ein Künstler in einer ausnahmslos alles kapitalisierenden Gesellschaft denn durchschlagen?
„Auf der Straße werden wir mit Lächeln bezahlt.“ Auf Ausstellungen zu verkaufen, sei eine Frage des Glücks, doch vor allem der Zeit und des Geldes; man habe höhere Produktionskosten, müsse sich mit Anträgen und auf Vernissagen herumschlagen, der Karriere sein ganzes Leben widmen. Und dann geriete der Künstler rasch in eine starke Abhängigkeit von Medien und Geldgebern. Jérôme klingt lustlos.
„Ich male auch Mauern und Straßen auf Leinwände und Tafelbilder auf Wände.“ Letztere blieben, die Straßenbilder verschwänden schnell, seien ephemer. Aber niemand wolle sie haben, die traditionellen Tafelbilderformate mit seinen „corps blancs“. Stimmt, sie wirken unglücklich-gefangen, scheinen bei der nächsten Gelegenheit aus dem Rahmen fallen und springen zu wollen, zurück auf die Straße. „Ich mache energiegeladene Männchen, die laufen, springen und turnen und Glück bringen auf die Straße.“ Und es sei ein Geschenk, wenn einem die Leute beim Malen zuschauen, das verändere die Alltäglichkeit. Wenn man in der Galerie ausstelle, sei das Publikum beschränkt. „Das Bild ist dann die ganze Straße, ich füge mein Männchen in das Straßenbild ein. Das Bilduniversum ist bereits da, ich habe es nicht mehr zu erschaffen.“
Begeistert schildert Jérôme die vielfältigen Territorien, welche sich seinen Männchen in Paris bieten. Besonders Fenstergesimse, blinde Toreingänge sowie die vorgezogenen Mauern gegeneinander verschobener Häuserzeilen haben es ihm angetan, „Ausdrucksmauern“ nennt er sie. „Und wenn es Einbahnstraßen sind und die Mauer in der Gegenrichtung, ist es nur für die Fußgänger sichtbar. Diese Mauern ziehen die Aufmerksamkeit auf sich, oft sehen Kinder das Gemalte zuerst.“ Ob es auch die von Ordnungshütern auf sich gezogen hätten, wollen wir wissen. Nein, er suche immer Mauern, die ohnehin baufällig seien, sonst wäre es ja Vandalismus. „Es geht darum, meine Malerei zu zeigen, nicht Probleme zu schaffen.“ Doch im Gegensatz zu Kollegen wie Miss.Tic und Nemo male er ohne Genehmigung. Es solle schnell, billig und leicht gehen. Ohne Schablonen, wie sie die meisten seiner Kollegen benutzen, malt er mit dem Pinsel direkt auf die Mauern.
Seit diesem 16. Januar 1983, Rue Béliard, wo Jérôme sein erstes Männchen aus dem Pinsel gehüpft ist und einfach da war und blieb. Ein Abdruck seines eigenen weiß angemalten Körpers. Doch auch, fügt er hinzu, eine postmoderne Erinnerung an die Corps nus, die Nacktstudien und Marmorstatuen, die sich durch die europäische Kunstgeschichte ziehen.
Denn auf heutigen Straßen dominiert grell und laut die kapitalistische Werbung – die provoziert gerade das Ephemere, Leichte und Zarte von Jérôme Mesnagers anarchistischer Phantomtruppe: „Geflüster neben dem Geschrei“. „Wir machen dem Geldimperium Konkurrenz, wollen einfach nur sympathisch sein, ein lustig-poetischer Stolperstein, ein Clown, der der Werbung die Zunge zeigt. Poesie die Alternative zum Kapitalismus.“ Sie seien viele, sich auf der Straße auszudrücken, ohne sich zu bekriegen. „Meine Botschaft sind Friede und Liebe.“
Ich sehe mir die Männchen noch einmal an. Ist es nicht doch stets dieser eine selbige Lichtkörper – „corps blanc“, welcher nicht müde wird, die Mauern der Stadt zu beleben und zu verdichten? Gesichtslos und anonym, ein und der gleiche – und doch einzigartig in seiner Einsamkeit? So, als wäre er nicht überall und austauschbar unterwegs, sondern immer nur genau hier und jetzt? Am Boulevard Macdonald, Nummer 126, hat er sich jedenfalls eine rote Hängematte zwischen Fenstergitter gehängt und eine weiße Fahne gehisst. Im Gefängnis der Straße oder just davor ausharrend? Wie fast immer reißt er flehend – oder ekstatisch? – Arme und Hände zum Himmel empor. Weiße Vögel fliegen auf.