Gerd Stange, Aktivist seit den 1970er Jahren, kehrt in die politische Bewegung zurück mit einem Text, der deutlichen Manifest-Charakter hat und in dem er eine Lanze für die Utopie bricht – eben mit dem Zitat Victor Hugos, dass die Utopie die Wahrheit von morgen sei.
Revolutionär Neues muss man dabei nicht erwarten – und vielleicht ist das auch vollkommen in Ordnung so, denn die alten Ideen und Utopien sind ja nun teilweise so verschütt gegangen, dass es ein durchaus lohnenswertes Projekt darstellt, diese noch mal in Erinnerung zu rufen und neu zu kombinieren – gerade in einer Zeit, in der Utopien als „utopisch“ gelten.
Dass sie das nicht sind, hat der Frankfurter Sozialwissenschaftler Alex Demirovic mal auf den Punkt gebracht, als er betonte, dass die VertreterInnen des Neoliberalismus im Gegensatz zur Neuen Linken Mut zur Utopie bewiesen hätten – und ihre Utopie dann eben auch durchgesetzt haben.
Gerd Stange schlittert dabei allerdings manchmal nur haarscharf an der Grenze zwischen der Formulierung einer Utopie und einem Utopismus vorbei: Der Utopismus der FrühsozialistInnen, der ab den 1840er Jahren vermehrt von der aufkeimenden Arbeiterbewegung kritisiert wurde, war eben nicht nur die Formulierung einer Welt von morgen, sondern in vielen Beispielen eine sehr konkrete Formulierung von Einzelpersonen die dann – im Kern autoritär – genauso von den arbeitenden Massen vollzogen werden sollte, ohne dass sie sich selber in die Ideendebatte einbringen konnten. Die Idee der Demokratie war hier noch keineswegs selbstverständliches Element der sozialen Bewegungen.
In diesem Sinne stößt Stange manchmal mit seinen sehr konkreten Vorschlägen – bei denen zu betonen ist, dass es sich eben um Vorschläge handelt, die nicht von heute auf morgen realisierbar sind – über das Ziel hinaus: Etwa, wenn er ein recht eindeutiges Bezahlungssystem vorschlägt, in dem jeder das gleiche verdient und aber darüber hinaus, sozusagen für „Luxus“, aber ohne die Möglichkeit der Akkumulation (der Anhäufung von Reichtum), mehr arbeiten und damit auch mehr verdienen darf. Oder aber auch mit dem Vorschlag eines (wenn auch individuellen) Kontingents an Bildungsstunden – mir persönlich will es ehrlich gesagt nicht in den Kopf, dass „Bildung“ überhaupt in Einheiten aufgeteilt und verteilt werden muss. Das misst die Bildung schon mit heutigen Wertverständnissen. Gerd Stange umgeht das Problem – sowohl der Bezahlung wie auch des zugestandenen Bildungskontingents – damit, dass er Arbeitspflicht, Bildungsrecht und Bezahlung jeweils mit so niedrigen (im ersten Fall) oder hohen (bzgl. Bildung und Bezahlung) Zahlen ansetzt, dass sich Protest dagegen erübrigen würde. Dennoch: Bei allem Mut zur Utopie ist ein wenig Realismus angebracht, und der sagt uns, dass diese Zahlen nicht sofort erreicht werden können. Und wenn diese nicht erreicht werden, heißt das, die Bezahlung oder auch die Möglichkeiten der Bildung müssten reglementiert werden. Hier wäre eine Diskussion zu führen, wie dies unter der Beteiligung aller überhaupt möglich wäre, ohne gleich wieder in ein neues Herrschaftsverhältnis abzurutschen.
Wie viele – wohl die meisten – Linken und Libertären beruft Gerd Stange sich auf Geschichte und Tradition. Das ist in erster Linie die Geschichte der Arbeiterbewegung. Und da sich die verschiedenen linken und libertären Traditionen immer auch auf verschiedene Geschichten berufen, besteht auch bei Stange hier ein Abgrenzungsbedürfnis, um die Tradition neu zu formulieren: „Die traditionelle Linke bezieht sich auf die Arbeiterklasse, worunter sie diejenigen versteht, die einen Arbeitsplatz haben und gewerkschaftlich organisiert sind“ (S.15). Nanu? Das mag vielleicht dem Umstand geschuldet sein, dass linkslibertäre Strömungen nicht als „traditionelle Linke“ gelten oder aber auch dem, dass Gerd Stange sich nahezu zwei Jahrzehnte aus einer entsprechenden Diskussion herausgehalten hat, aber es ist eigentlich nicht neu, dass die „Arbeiterklasse“ keineswegs nur aus Berufstätigen und erst recht nicht nur aus GewerkschafterInnen besteht. Neben Anti-Atom-Protesten und den Protesten gegen den Irak-Krieg 2003 waren immerhin die größten sozialen Proteste der 2000er Jahre die Proteste gegen die Hartz-Gesetzgebung. Und die wurden teilweise, wenn auch zum Leidwesen vieler Beteiligter, von sehr, sehr traditionellen „Linken“ begleitet.
Worauf Stange hinaus will, ist freilich das Spannungsverhältnis mit den Neuen Sozialen Bewegungen, das es zu überwinden gälte. Und wenn man als „Arbeiterbewegung“ die großen, korporatistischen Gewerkschaften im Auge hat, ist hier tatsächlich einiges im Argen: Wir müssen uns nur mal den Konflikt zwischen ArbeiterInnen in den Atomkraftwerken und den zu Recht zahlreichen VerfechterInnen des Atomausstiegs vor Augen halten oder – noch deutlicher – die Verlautbarungen aus den Reihen der DGB-Gewerkschaften zum Thema Bundeswehr.
Mit der daraus resultierenden Ablehnung der Berufung auf eine solche Tradition baut Gerd Stange dann teilweise eine schon fast absurde Argumentationskette auf: „Viele Tätigkeiten und Aktivitäten finden allein oder im Verein statt, die ohne Lohnarbeit auskommen. Man nehme zum Beispiel das Engagement, mit dem zahlreiche junge Menschen das freiwillige soziale, ökologische oder europäische Jahr machen. Sie bekommen ihren Lebensunterhalt annähernd bezahlt, ohne Lohnarbeiter zu sein. Trotzdem leisten sie Erstaunliches. Oder gerade deswegen“ (S.32).
Hier fehlt leider vollkommen die Einbettung in eine Kritik des Kapitalismus: Gerd Stange hatte zuvor, ganz richtig, das Genossenschaftswesen dahingehend kritisiert, dass es nach wie vor in kapitalistischer Konkurrenz steht und zur Selbstausbeutung tendiert. Im selben Sinne ist es doch – und es gibt ja auch zahlreiche entsprechende Kritiken von Freiwilligendiensten – überdeutlich, dass FSJ, FÖJ etc. Lohnarbeitsstrukturen sind, die dazu noch von einer Überausbeutung geprägt sind. Stange selbst schreibt das ja sogar: Die Bezahlung reicht „annähernd“ für den Lebensunterhalt. Und folglich sind FSJler u.ä. eindeutig LohnarbeiterInnen – hier wird lediglich die rechtliche und die politische Kategorie durcheinandergeworfen. Jedenfalls sind diese Strukturen staatlich subventionierter Überausbeutung bestimmt nicht geeignet, um aus ihnen eine Utopie zu formulieren.
Ein solches Verständnis von „Arbeiterklasse“ war noch nie richtig und es ist letztlich auch nicht das „traditionelle“, sondern ein in Weimarer Zeit mit ihren Rationalisierungsdebatten aufkommendes Klischeebild, das insbesondere von kommunistischen Parteien aufgenommen wurde und auch in den 1960er und 1970er Jahren als „Proletkult“ fröhliche Urstände feierte – daher wird Gerd Stange es sicherlich auch haben. Nichtsdestotrotz war es schon immer schlicht falsch. Und aus einer Kritik an dieser Sicht formuliert Stange dann auch, dass die „klassenlose Gesellschaft“ nicht Ziel des Kampfes des Proletariats sei – sondern daraus lediglich eine neue Klassenherrschaft resultieren könne – und zieht sodann den Nationalsozialismus als Beispiel einer Herrschaft von vielen über wenige heran (S.47).
Kurz: Aus einem begrenzten Klassenbegriff resultiert die Annahme eines begrenzten Ziels des Klassenkampfs. Die Schlussfolgerung ist – in jedem Fall – eine Untauglichkeit des Klassenbegriffs. Die Konsequenz daraus ist für Gerhard Stange die vollkommene Verwerfung des Klassenbegriffs. Die syndikalistische Schlussfolgerung wäre eine andere Formulierung des Klassenbegriffs.
Das waren letztlich in der Geschichte immer zwei: Ein relativ eng an Marx orientierter, der die Arbeiterklasse an den Aspekt der Besitzlosigkeit und der daraus resultierenden Notwendigkeit zum Verkauf der Arbeitskraft definierte, und der an dem Punkt der Betonung einer Arbeitermacht, die zu direkter Aktion und zum Generalstreik befähigt, über Marx hinausging; sowie ein kultureller, der die Errungenschaften der Arbeiterbewegung, aber auch soziokulturelle Aspekte wie gemeinsame wirtschaftliche Lage, in den Mittelpunkt stellte. Kann Gerd Stange auch an diese Position anschließen? Oder: Kann ein aktueller Syndikalismus an Stange anschließen?
Ja, denn in der Gesamtbetrachtung ist Gerd Stanges Die libertäre Gesellschaft trotz der erwähnten Mankos durchaus lesens- und auch diskutierenswert. An dieser Stelle die Kritikpunkte hervorzuheben, ist auch deutlich dem Wunsch von Autor und Verlag geschuldet, über den Text in die Diskussion zu kommen. Und wenn Gerd Stange in seinen manchmal zu konkreten Zukunftsvisionen eine doppelte Netzstruktur mit einem „regionalen Netz zwischen Gleichen“ und einem „inhaltlichen Netz zwischen Verschiedenen“ vorschlägt, knüpft er damit an die Doppelstruktur syndikalistischer Gewerkschaften (Branchen- und Regionalstruktur) an. Besonders deutlich wird die Anschließbarkeit im Aspekt der Sozialisierung des Eigentums: Gerd Stange macht deutlich, dass es nicht einfach reicht, einige „selbstverwaltete Projekte“ zu haben, die vor sich hinwurschteln. Heutige „autonome Strukturen“ wie etwa linke Zentren leiden zumeist daran, dass eine ebenso „autonome“ Clique sie verwaltet, die Regeln bestimmt und das Ganze zu einem Szeneloch versumpfen lässt. Gerd Stange schlägt für solche „autonomen Strukturen“ neutrale Prüfungskommissionen vor (S.43).
Das klingt autoritär, ist es aber nicht, im Gegenteil: Wenn man den Anspruch ernst nimmt, dass irgendwann alles allen gehören soll, dann darf man keine Cliquen dulden, die allein ihre Interessen durchsetzen, sondern benötigt basisdemokratische Kontrollinstanzen, die den gesamtgesellschaftlichen Anspruch aufrechterhalten. Denn Anarchie ist ja schließlich nicht Chaos, sondern, wie es so schön heißt „Ordnung ohne Herrschaft“.
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