Fallen wir ruhig mal mit der Tür ins Haus, denn der Aufschrei ist vorprogrammiert: Im achten Abschnitt seiner Streitschrift fordert Oskar Lubin „solange das Parteiensystem besteht, eben trotz Stasi-Vergangenheit vieler Führungskader die Zusammenarbeit mit der Partei Die Linke zu suchen, wenn es um die Abschaffung von Hartz IV und anderer neoliberaler Zumutungen oder um die Durchsetzung der Vermögenssteuer geht“.
Das sind Töne, die man aus spezifisch anarchistischen Publikationen selten hört. Und Oskar Lubins Triple A – Anarchismus, Aktivismus, Allianzen ist sehr spezifisch anarchistisch. Der Autor baut seine gesamte Argumentation ausschließlich auf anarchistischen Schriften und Diagnosen auf. Wie kann man dann, so werden nicht wenige fragen, um Himmels Willen auf die Idee kommen, mit der Linkspartei zusammenzuarbeiten? Ist das nicht schon bei der Russischen Revolution, bei der deutschen Revolution, bei der Spanischen Revolution … schiefgegangen?!
Man sollte Lubin nicht falsch verstehen, dieses Missverständnis fürchtet er auch selbst und betont mehrfach, dass es sich eben nicht um einen Wahlaufruf handele. Aber: Es macht eben doch einen Unterschied, „an wen und wofür die Rosa-Luxemburg-Stiftung Stipendien verteilen kann […] oder ob Presseförderungen an feministische Zeitschriften gehen oder gestrichen werden, ob Frauenhaus-, Asyl- und Weltladeninitiativen Geld bekommen oder nicht“. Und daraus schließt Lubin eben nicht nur die Notwendigkeit einer punktuellen Zusammenarbeit mit der Linkspartei, sondern viel allgemeiner „mit Pro Asyl gegen die restriktive Flüchtlingspolitik“, „mit medico international und Südwind für linke Positionen in der sogenannten Entwicklungszusammenarbeit“, „Umweltstandards einfordern mit Robin Wood, BI Lüchow-Dannenberg“ usw. – kurz und gut, es geht um die im Titel der Schrift angemerkten „Allianzen“. Denn „ohne Allianzen – temporäre, zweckgebundene, strategische Bündnisse mit den Unzufriedenen etablierter Kräfte – drohen selbst die beeindruckenden Bewegungen plattgemacht und von noch regressiveren, konservativen Kräften erdrückt zu werden“.
Gegenwartsanalyse
Oskar Lubins leidenschaftliches Plädoyer für neue Allianzen über die Grenzen des Anarchismus hinaus, basiert auf seiner Gegenwartsanalyse aus libertärer Sicht: „Sich […] einzugestehen, weder in der Gegenwart noch in naher Zukunft Teil einer Massenbewegung zu sein oder sich auch nur in einem den libertären Ideen wohl gesonnenen gesellschaftlichem Umfeld zu befinden, muss der Ausgangspunkt auch für strategische und taktische Überlegungen sein“. Dabei gibt der Autor zu, dass sich das gesellschaftliche Klima offenbar schon verändert hat, während er an seiner Zeitschrift arbeitete, denn die Mobilisierungen der Jahre 2011 und 2012 angesichts der Krise, insbesondere der Massenerfolg der Texte David Graebers, ließen den Schluss zu, der Anarchismus befinde sich im Aufwind. Aber weit gefehlt: Der Anarchismus, selbst bei Zunahme an Projekten, Organisationen, Webpages und sogar Personen, bleibt vorerst eine Randerscheinung und hat keinerlei gesellschaftliche Relevanz.
Der Begründungen dafür gibt es viele, und einige spricht Oskar Lubin sehr konkret an: Da wäre zum einen das „Schmoren im eigenen Saft“. „Wir sind echt nicht viele /und wir werden auch nicht mehr/ ein paar springen ab, ein paar kommen dazu /und ein paar laufen hinterher“ sang der autonome Liedermacher Yok Quetschenpaua vor zwei Jahrzehnten – aber anstatt das zu ändern, wurde weiterhin lieber dem autonomen Lifestyle gefrönt. Libertäre Räume, so schließt Lubin, sind heute „oft überreguliert“. Das beurteilt er jedoch nicht nur negativ: Das ist mit Ausgrenzungsmechanismen verbunden, aber auch ein „Ringen um die richtigen Regeln, das jedem Sozialismus, auch dem libertären, immer eigen“ ist.
Zum zweiten befindet sich der Anarchismus heute in unsympathischer Nachbarschaft: Angesichts der Pervertierung des Begriffs der „Freiheit“ als marktradikaler Ideologie durch Liberale, konservative „Freiheitliche“ und vor allem durch die sogenannten „Libertarians“ plädiert Lubin strategisch für eine linkslibertäre Identität. Wenn sich der Kapitalismus selber als anarchistisch fantasiert, müsse man deutlich betonen, dass man etwas anderes im Sinne hat: Also die Gleichheit – nicht eine bestehende, sondern eine als Ziel formulierte politische und rechtliche Gleichheit, „das sozialistische Moment“ müsse unbedingt betont werden.
Und das heißt für Lubin auch: „Ein strategischer Anarchismus heute sollte sich keinesfalls aus der Geschichte der Linken herausschreiben lassen“. Es geht eben nicht nur um eine Sitzbeschreibung im Parlament, sondern tatsächlich um gemeinsame Ziele, Wünsche und Strategien: Lucien van der Walt u.a. haben nicht umsonst, einen eurozentrischen Ansatz kritisierend, deutlich gemacht, dass global gesehen der Anarchismus in vielen Ländern weit einflussreicher als der autoritäre Sozialismus war (vgl. Internationalismus und Antiimperialismus von unten), Bernd Hüttner von der Rosa-Luxemburg-Stiftung betonte kürzlich erst, dass Anarchismus und insbesondere der Anarchosyndikalismus „zum Kanon linker Geschichte“ gehören. In Deutschland muss man die Geschichte des Anarchosyndikalismus unweigerlich mit der Geschichte und den Spaltungen der Sozialdemokratie in Kontext setzen – von heute aus gesehen ist es eben keine „Notwendigkeit“, dass sich der sozialdemokratisch-reformerische Weg durchgesetzt hat. Und um anarchistischer Theorie und Praxis zur Anerkennung zu verhelfen, ist es lohnenswert, zu betonen, dass die anarchistische Option immer bestand – um daraus folgern zu können, dass sie auch heute noch besteht.
Post-was-auch-immer
Mittlerweile, spätestens seit dem Erfolg David Graebers, ist es recht deutlich: Poststrukturalistische Ansätze sind im Gegenwartsanarchismus nicht gut angesehen. In diesem Sinne wird sicherlich ein zweiter Aufschrei folgen, denn die Referenzen Lubins auf den Poststrukturalismus sind eindeutig, auch wenn er sie nicht zitiert. Er spricht sogar sehr deutlich von einem „Postanarchismus“. Dabei muss man sicherlich deutlich betonen, dass „Postanarchismus“ in Analogie zu „Postmoderne“ oder auch „Postsozialismus“ eben nicht anti- meint, sondern die undogmatische Weiterentwicklung. Und man muss, um Lubins Vorschläge zu teilen, auch nicht Anhänger poststrukturalistischer Theorien sein, um Lubin zuzustimmen. Denn schließlich kritisiert auch der Autor Vorschläge aus dem poststrukturalistischen Spektrum, kann dem aber ebenso Gutes abgewinnen: Die Kritik der Repräsentation – der Vertretung also – wird hier direkt aus dem Anarchismus fortgeschrieben. Die Konsequenz der „PostanarchistInnen“ allerdings, dass keinerlei organisatorische Arbeit mehr möglich sei, teilt Lubin nicht. Im Gegenteil: Wenn der Anarchismus sich weiter entwickeln will, muss er organisatorisch tätig bleiben, und wenn dies nicht aus eigener Kraft geht, dann eben in „Allianzen“. „Allianzen“ setzen voraus, dass man auch die Unterschiede untereinander wahrnimmt, und diese Unterschiede sind es ja eben, die für den Anarchismus immer Argument waren, nicht vertreten werden zu wollen, andererseits aber auch nicht allein zu handeln: „Gleichheit als Ziel erfordert Differenzierungen im Weg“. Oder, um mit antisozialistischen Begrifflichkeiten der FDP dieser zu widersprechen: Gleich-machen statt „Gleichmacherei“. Das setzt ein gewisses Maß an Toleranz voraus, die eben nicht nur verschiedene Lebensweisen, sondern auch verschiedene inhaltliche Ansichten umfassen muss.
Auch hier geht es in erster Linie nicht um eine wahre oder unumstößliche Theorie, sondern um eine Theorie, die aus der Praxis entsteht: Die Prämisse ist, nach der Analyse eines schwachen Anarchismus, diesen zu stärken. Und die Antwort ist: Raus aus „Szeneghettos“, rein in die Gesellschaft, rein also auch in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, rein in die inhaltlichen Auseinandersetzungen, die fernab des Anarchismus stattfinden bzw. ihn bislang ausschließen.
„Rein in die Kräfteverhältnisse!“
Es geht also schlicht um „eine Frage der konkreten Erfahrung“. Rolf Cantzen beschrieb vor eineinhalb Jahrzehnten in seinem Buch Weniger Staat – mehr Gesellschaft die Kritik spanischer Anarchistinnen an ihren männlichen Genossen: „Wenn sie Männer sind, sind sie keine Anarchisten mehr“. Dem folgend könnte man heute sogar polemisieren: Wenn sie gesellschaftliche Relevanz erlangen, sind sie keine Anarchisten mehr. Sobald ein bekennender Anarchist kommunalpolitisch, wissenschaftlich oder im Betrieb Erfolge erringt und mit erklärten Nicht-AnarchistInnen diskutieren muss, geniert er oder sie sich wegen seiner/ihrer politischen Identität. Lubin erklärt letztlich auch, dass dies nicht so sein müsse. Mit seinem Ansatz kann man AnarchistIn bleiben, auch wenn man in der Lage ist, politisch etwas zu verändern oder gar politische Erfolge errungen hat. Denn: „Anarchistische Positionen sind notwendig, damit ein radikal Anderes denkbar bleiben kann und damit das Nicht-Einverständnis mit der Welt […] einen utopischen Ausdruck findet. Aber sie sind auch notwendig, um Arbeitskämpfe nicht nur um höhere Löhne zu führen, um systematischen Diskriminierungen nicht nur mit Gleichbehandlungsbeauftragten zu begegnen und der Atomenergie nicht nur mit Windrädern“. Angesichts der Vorschläge Lubins wird so manch eineR „Reformismus“ wittern, doch letztlich geht es Lubin nicht um eine Umwälzung durch Reformismus, sondern um Reformen, die das Leben verbessern, so lange die Umwälzung noch nicht da ist. Nahtlos schließt er dabei an Rudolf Rockers Der Kampf ums tägliche Brot an oder auch an Noam Chomskys Reformoffenheit. Nicht umsonst nennt Lubin als positives Beispiel die Satzung des Allgemeinen Syndikats der FAU Berlin.
„Direkte Aktion ist […] das trotzige Beharren darauf, so zu handeln, als wäre man bereits frei“ argumentierte David Graeber in den Diskussionen über Occupy für den Anarchismus. ‚Aber wir sind nun mal nicht frei!‘ protestiert Oskar Lubin, ‚die größte Lüge, die sie je verbreitet haben, behauptet, wir seien frei‘. Diese Zeile aus dem „Postmodern Protest Song“ der Band Daddy Longleg, die ich dem Autoren in den Mund legen möchte, weist auf die zentrale Problematik hin, die Lubin thematisiert: So zu handeln, als wäre man bereits frei, führt nicht immer so direkt ans Ziel, wie man es von einer Direkten Aktion erwarten sollte. Und wenn dieses Kriterium nicht erfüllt ist, sollte man es wagen, andere Wege zu gehen: Anarchismus, Aktivismus, Allianzen.