DA -Kollektiv-Reihe: Eine Reportage aus Berlin und was Adorno mit dem Falschen meinte
Georg will los: „Es gibt für morgen früh zwei Bestellungen, die noch vertickt werden müssen!“ „Alles klar“, sagt Patrick, der die Dispo-Schicht gerade von Georg übernommen hat. Dispo steht für Disposition oder Dispatch, für die Arbeit in der Kommunikationszentrale von Fahrwerk, einem Kollektivbetrieb von KurierfahrerInnen in der Warschauer Straße im Berliner Bezirk Friedrichshain. Patrick sitzt vor zwei großen Monitoren, auf denen die aktuellen und die geplanten Kurieraufträge gemanagt werden. Eigentlich wollen wir das Interview anfangen, aber das Funkgerät meldet sich. „Wer ruft?“ fragt Patrick. „Hier 2-6. Ich finde den Namen nicht am Klingelschild.“ Patrick ruft beim Auftraggeber an. Innerhalb von zwei oder drei Minuten hat sich das Problem geklärt: Der Name des Auftraggebers steht nur an einem Briefkasten, nicht an der Klingel. Es ist ein anstrengender Job, bei Fahrwerk in der Dispo zu arbeiten. Obwohl es schon abends ist, klingeln in einer Tour abwechselnd Telefon und Funkgerät. „Ganz schön stressig“, sage ich. „Ja“ gibt Patrick zu und lächelt.
Fahrwerk ist Berlins einziges Fahrradkurierkollektiv und wurde 2009 gegründet. „Es fängt damit an, dass einfach einige Leute in einem Berliner Kurierforum gepostet haben, dass sie unzufrieden mit den Arbeitsbedingungen sind“, erzählt Patrick. Daraufhin sei eine lose Gruppe entstanden, aus der sich schließlich eine Gruppe von Leuten herauskristallisiert habe, die allesamt genug vom Einzelkämpfertum und der harten Konkurrenz untereinander hatten und die deshalb einen solidarischen Kollektivbetrieb gründeten. „Bei uns herrscht ein guter sozialer Zusammenhalt, wir sind miteinander befreundet und machen zum Beispiel auch gemeinsam Ausflüge am Wochenende“ sagt Patrick. Andere Dinge haben dagegen nicht so gut geklappt wie erhofft: „Am Anfang dachte ich, bis in drei Jahren könnten wir durchschnittlich 10 Euro pro Stunde verdienen. Derzeit sind es aber leider nur 5 Euro und manchmal ein bisschen mehr.“ Wenig Geld dafür, bei Wind und Wetter und oftmals unter starkem Zeitdruck mit dem Fahrrad durch Berlin zu düsen.
Das wichtigste Gremium bei Fahrwerk ist das zweiwöchentliche Plenum, an dem sich gegenwärtig etwa 10 der insgesamt knapp 20 Kollektivmitglieder regelmäßig beteiligen. Keine schlechte Quote. Hier werden alle wichtigen Entscheidungen gemeinsam im Konsens getroffen. Derzeit wird ein ausführlicher Binnenvertrag von einer AG erarbeitet, der die demokratische Mitbestimmung sowie die Rechte und Pflichten der Mitglieder endlich verbindlich regeln soll. „Wir waren alle ziemlich unerfahren, als wir angefangen haben. Es war ein Sprung ins kalte Wasser – learning by doing“, sagt Patrick. „Die Entscheidungen, die wir treffen, sind gut durchdacht; dafür dauert alles furchtbar lange.“ Was Fahrwerk besonders fehlt, meint Patrick, seien mehr Leute mit betriebswirtschaftlichem Sachverstand, insbesondere für ein verbessertes Controlling und für die Neukundenakquise.
Mit den 31 anderen Berliner Kollektiven, die sich auf der Internetseite kollektiv-betriebe.org zusammengeschlossen haben, arbeitet man bei Fahrwerk teilweise gut zusammen. „Insbesondere Hinkelstein Druck hat uns am Anfang tatkräftig unterstützt, wofür wir sehr dankbar sind“, sagt Patrick. Synergien zu nutzen innerhalb eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes von Kollektivbetrieben – scheint das nicht eine geradezu traumhafte Perspektive zu sein auf dem Weg zu einer alternativen, befreiteren Arbeitswelt? Die 32 Berliner Kollektive treffen sich jedenfalls regelmäßig zum gemeinsamen Austausch, seit sie vor gut zwei Jahren eine gemeinsame Konferenz mit dem von Adorno ent- und gewendeten Titel „Das Richtige im Falschen“ im ebenfalls als Kollektivbetrieb organisierten Nachtclub ://about blank auf die Beine gestellt hatten.
Der Frankfurter Sozialphilosoph Theodor W. Adorno hatte in einem Aphorismus seiner „Minima Moralia“ postuliert, dass es kein richtiges Leben im Falschen gebe. Unter dem Titel „Asyl für Obdachlose“ wendet sich Adorno darin gegen das fetischisierte Privatleben in der bürgerlichen Gesellschaft: „Die Kunst bestünde darin, in Evidenz zu halten und auszudrücken, daß das Privateigentum einem nicht mehr gehört, in dem Sinn, daß die Fülle der Konsumgüter potentiell so groß geworden ist, daß kein Individuum mehr das Recht hat, an das Prinzip ihrer Beschränkung sich zu klammern; daß man aber dennoch Eigentum haben muß, wenn man nicht in jene Abhängigkeit und Not geraten will, die dem blinden Fortbestand des Besitzverhältnisses zugute kommt.“
Gut 5 Euro Stundenverdienst sind wohl zu wenig, um jener Not, nämlich dem Zwang zur normalen Lohnarbeit, ganz zu entgehen. Aber auch eine möglichst große Verdienststeigerung gehört schließlich zum „work in progress“ bei Fahrwerk, und eben als ein kollektives und nicht privat und vereinzelt verfolgtes Ziel.
Kollektivbetriebe sind in Berlin wieder in. Zuletzt entstand etwa das Veganladenkollektiv Dr. Pogo im Neuköllner Stadtteil Rixdorf. Ob es hier wieder so wie in den 70er Jahren in West-Berlin werden wird, wo im Zuge der Kollektivbewegung Tausende Alternativbetriebe entstanden, ist aber zweifelhaft, zumal eine kritische Auseinandersetzung mit den Gründen für das weitverbreitete Scheitern der Kollektivbewegung bislang nur in Ansätzen stattfindet.
Innerhalb der FAU wird das Thema jedenfalls weiter diskutiert. In einem Positionspapier der FAU Hamburg von 2011 etwa werden folgende Punkte als Zielvorgaben für die gute Praxis von Kollektivbetrieben vorgeschlagen: Basisdemokratische Entscheidungsstrukturen, die Herstellung gesellschaftlich nützlicher Produkte, Mitgliedschaft aller Arbeitenden im Kollektiv (keine Lohnarbeit), keine Privatisierung von Überschüssen, gerechte Entlohnung, Transparenz, Kooperation statt Konkurrenz und schließlich das Vorhandensein eines Statuts; also eine schriftliche, rechtsverbindliche Niederlegung der Strukturen und Verfahren eines Kollektivbetriebs unabhängig von der bürgerlichen Rechtsform des Betriebes. Kritisch zu überprüfen, ob und inwieweit heutige Kollektivbetriebe diesem Idealzustand entsprechen, wäre eine überaus wichtige gewerkschaftliche Aufgabe. Indes klingelt bei Fahrwerk wieder das Telefon.
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