Hintergrund

Massenstreik, (Links-)Partei und Gewerkschaften

Manchmal kommen sie wieder: Zur Kontinuität der Massenstreikdebatte

Vielleicht erst mal die erfreulichen Nachrichten: Das Streikaufkommen in Deutschland hat sich im Jahr 2012 deutlich erhöht: es haben sechs Mal so viele Menschen an Streiks teilgenommen wie 2011 und die Zahl der ausgefallenen Arbeitstage hat sich verdoppelt. Das ist durchaus mehr als nur ein Zufall, weil entsprechende Tarifrunden anstanden: Entsprechend hohe Streikzahlen konnten die Gewerkschaften hierzulande seit 2008 nicht mehr vorweisen, vorweggegangen war eine kleine „Streikwelle“ seit 2006, aus der vor allem der einjährige Konflikt beim Düsseldorfer Flughafen-Caterer „Gate Gourmet“ in Erinnerung ist.

Dass der Streik wieder im Aufwind ist, scheint auch im globalen Kontext deutlich: Steven Colatrella machte 2011 in der Wildcat darauf aufmerksam, dass wir uns in einer globalen Streikwelle befinden,1 die Rebellionen in Ägypten und Tunesien wurden durch mächtige (wenn auch erst mal gescheiterte) Streikbewegungen im Textil- bzw. Bergbausektor angestoßen. Und spätestens nach dem grenzüberschreitenden Generalstreik am 14. November 2012 scheinen alle Dämme gebrochen: Der Generalstreik steht offenbar wieder auf der Tagesordnung und er könnte, so die allgemeine Hoffnung, systemverändernd wirken.

Das Ende der Generalstreiks

Allerdings sind die Generalstreiks in Südeuropa durchaus nicht als kraftvolles Zeichen zu bewerten, sondern tatsächlich sind sie eher ein wütendes Symbol der Ohnmacht. Das Forschungsteam von Kerstin Hamann, Alison Johnston und John Kelly hat die Generalstreiks in Europa seit den 1980er Jahren untersucht.2 Dabei stellen sie fest, dass die Generalstreiks der letzten zwei Jahre allein in Griechenland eine höhere Anzahl erreichen als die Generalstreiks in ganz Europa während der 1980er Jahre. Aber: Die ca. 20 Generalstreiks der 1980er Jahre waren allesamt in ihren Forderungen erfolgreich, während die aktuellen Generalstreiks in Südeuropa bislang keinerlei Veränderungen der Politik zur Folge haben. Hamann u.a. bemerken, dass es einen Trend weg von „ökonomischen“ Streiks hin zu politischen Warnstreiks auch deswegen gibt, weil die klassischen Streiks zunehmend bei den Unternehmen auf Granit beißen – das ist weniger zu vergleichen mit einer Massen- oder Generalstreikbewegung wie etwa in Russland 1905, als eher in den Bestrebungen der Callcenter-Gewerkschaft DPV-Kom (im Deutschen Beamten-Bund), für Callcenter-AgentInnen mehr Lohn in Form eines Antrags auf Mindestlohn nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz zu erbitten, weil aufgrund der schwachen Organisierung (auf Unternehmens- wie auf Arbeiterseite) ein Arbeitskampf aussichtslos erscheint. Die südeuropäischen Generalstreiks sind also erstens ein Ausweichmanöver aufgrund mangelnder Arbeitermacht, zweitens größtenteils erfolglos und drittens sind sie in ihrer Form weniger tatsächliche Streiks als eher Demonstrationen eines Generalstreikswillens – vergleichbar einem Warnstreik, dem auch nur selten ein längerer Streik folgt. Die Wildcat machte kürzlich darauf aufmerksam, dass in den griechischen Generalstreiks „nur wenige wirklich gestreikt“ haben und der „Zyklus der Generalstreiks in Griechenland“ vorbei sei.3

Aber auch wenn die Generalstreiks in ihrer Wirkung massiv überschätzt oder nach einem Mythos bewertet werden, haben sie gemeinsam mit dem globalen Streik eine bestimmte Wirkung entfaltet, die durchaus nicht zu unterschätzen ist: Die Debatte über Streiks ist stark politisiert. In den vergangenen Monaten fanden diverse Tagungen zum Thema „Streik“ statt, die Rosa-Luxemburg-Stiftung und ver.di haben in Stuttgart mit nahezu 500 Beteiligten, zumeist StreikaktivistInnen, die „Erneuerung des Streiks“ diskutiert,4 das Sächsische Industriemuseum in Chemnitz debattierte im April über Streiks in der DDR und in Westdeutschland im Vergleich.5 Der Tagung „Erneuerung durch Streik“ sollen entsprechende Regionaltagungen folgen und die DGB-nahe Hans-Böckler-Stiftung lädt im Juni in Hamburg zu einer Streiktagung, auf der der internationale Aspekt diskutiert werden soll.6 Ein Wiesbadener Linksparteiler initiiert eine Kampagne für die „Legalisierung“ des politischen Streiks,7 in Publikationen werden in diesem jubiläumsreichen Jahr der Generalstreik vom 17. Juni 1953, die Metallerstreiks des Jahres 1963 und die migrantisch geprägten „wilden“ Streiks der Jahre 1972 und 1973 thematisiert. Auch wenn das Streikgeschehen in Deutschland trotz steigender Zahlen immer noch marginal ist – der Streikdiskurs feiert fröhliche Urstände: Wir befinden uns mitten in einer neuen Massenstreikdebatte.

Ein Blick zurück

Obwohl tatsächlich eher von Generalstreiks als von Massenstreiks die Rede ist, scheint der Begriff der „Massenstreikdebatte“ eher zu passen. Denn der historische Aspekt eines sozialen Generalstreiks, einer generellen Arbeitsniederlegung als revolutionärem Mittel also, taucht in den aktuellen Debatten kaum auf. Vielmehr handelt es sich tatsächlich um eine Diskussion zwischen sozialdemokratischen Richtungen, die, wie in der historischen Massenstreikdebatte, über die Möglichkeiten, durch Streik die Politik zu beeinflussen, diskutieren. Daher könnte es sich lohnen, mal wieder einen Blick in die klassischen Texte dieser Debatte zu werfen, und zwar aus verschiedenen Gründen vorrangig in Rosa Luxemburgs Massenstreik, Partei und Gewerkschaften.8 Auch wenn es eine Vielzahl lesenswerter zeitgenössischer anarchistischer und syndikalistischer Beiträge zur Generalstreiksdiskussion gibt, so ist Luxemburgs Beitrag aufgrund des Fokus, den sie setzt, für die aktuelle Diskussion noch einmal besonders heranzuziehen: Die anarchistischen KlassikerInnen erläutern zumeist die Generalstreikstrategien und beweisen sich dabei manchmal als wissenschaftlich sehr modern, wenn man z.B. bedenkt, dass sie mit einer Idee vom Generalstreik an strategischen Punkten (z.B. bei der Eisenbahn) den Gedanken einer veränderbaren Klassenzusammensetzung sowie die wesentlichen Punkte einer Arbeitermacht (Transport und Kommunikation) vorwegnehmen.9 Aber sie berufen sich dabei auf eine Situation, in der die Bereitschaft für einen Generalstreik bereits vorhanden ist und weniger darauf, wie sich diese herstellt. AnarchistInnen, wie die für den Massenstreik votierenden SozialdemokratInnen, die Rosa Luxemburg kritisiert, halten eine solche Situation für von außen herstellbar. Die klassischen anarchistischen Beiträge argumentieren, dabei durchaus Luxemburg nicht unähnlich, dass man eben keine alle ArbeiterInnen umfassende Massenorganisation brauche, um einen Generalstreik durchzuführen – das war noch die Meinung, die Marx gegenüber Bakunin vertreten hatte. Arnold Roller z.B. hält dem entgegen, dass mit einem solchen durchorganisierten Proletariat der Generalstreik gar nicht mehr nötig wäre.

Es sind aber letztlich drei Aspekte, die gerade das Luxemburgsche Denken für die heutige Situation besonders fruchtbar machen: Zum einen unterscheidet Rosa Luxemburg im Massenstreik den Demonstrations- vom Kampfstreik. Damit wendet sie sich gegen jene sozialdemokratische Tendenz, die den Massenstreik ausrufen will, um z.B. das Wahlrecht durchzusetzen oder aber auch einen künftigen Weltkrieg zu verhindern – unnötig, 99 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs darauf hinzuweisen, dass diese Debatte offenbar kaum etwas anderes war als ein theoretisches Spielchen (auch wenn dies für Rosa Luxemburg selber natürlich nicht gilt). Sollte eine Parteiführung in einem solchen Fall zu einem Streik aufrufen, so sei dies letztlich nur eine Demonstration der politisch organisierten ArbeiterInnen. Diese Situation finden wir vorrangig bei den ein- oder zweitägigen Generalstreiks in Südeuropa vor. Es scheint weniger um den eigentlichen Kern des Streiks – die Arbeitsniederlegung mit dem Ziel ökonomischen Schaden anzurichten – zu gehen, als vielmehr darum, den Protest in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Mit dieser Kritik einher geht Rosa Luxemburgs theoretische Weigerung, den wirtschaftlichen und den politischen Streik als zwei getrennte Kategorien zu sehen. In einer tatsächlich revolutionären (oder auch nur rebellischen) Situation wechseln sich wirtschaftlicher und politischer Charakter eines Streiks ab. Was begonnen hat als Kampf für eine kürzere Arbeitszeit oder mehr Lohn kann umschwenken in politische Forderungen – und andersherum. Letztlich geht es aber in Streiks immer um die Verbesserung der eigenen kollektiven Lage – die Frage ist lediglich, wie weit das Kollektiv gefasst wird. Auch hier kann die Parallele zu heute ohne Weiteres gezogen werden: Der Aufruf zu einem Generalstreik aus Solidarität wird keinen Widerhall finden, wenn kein Erfahrungsaustausch stattfindet und damit das Wissen über eine gemeinsame Situation nicht zirkuliert.

Und nicht zuletzt, das scheint mir der wesentliche Punkt in der Argumentation Rosa Luxemburgs zu sein: Ob man streikt oder nicht, ist erst zu allerletzt eine politische Abwägung. Hand auf’s Herz, liebe LeserInnen: Wer von euch hat schon mal gestreikt und wie oft? Und wenn ja, dann warum?

„Die Arbeiterklasse hat gestreikt, als es ihre Theoretiker für unmöglich hielten, und oft nicht gestreikt, als die Theoretiker von der Notwendigkeit eines Streiks überzeugt waren“ konstatiert Edgar Weick bereits 197110 – und nichts anderes will auch Rosa Luxemburg sagen. Den besagten „Theoretikern“ fehlt lediglich ein sozialpsychologischer Aspekt in ihren theoretischen Überlegungen, der eigentlich sehr simpel ist. Letztlich wird ein Streik nicht auf einer Betriebsvollversammlung oder in einer Urabstimmung entschieden, sondern zu Hause am Küchentisch, im familiären Verband, der WG oder der Kommune. Dass ein Streik immer erst mal einen ökonomischen Verzicht bedeutet, und zwar erst recht, wenn es sich um einen nicht von der Gewerkschaft unterstützen, also einen sogenannten „wilden“ Streik handelt, kommt in den meisten strategischen Erwägungen schlicht nicht vor.

Mythos Politischer Streik

Zumindest bezüglich des letzten Aspekts scheint die Initiative des „demokratischen Sozialisten“ Veit Wilhelmy aus Wiesbaden erst mal Sinn zu machen: Wenn „politische“ Streiks von den DGB-Gewerkschaften mitgetragen werden, damit auch Streikgeld gezahlt würde, könnte die Streikbereitschaft aus ganz profanen Gründen steigen. Wir müssen uns aber mal vergegenwärtigen, was das bedeuten würde: Der politische Streik würde dann stattfinden, wenn eine Gewerkschaft dazu aufrufen würde. In Einzelfällen kann das sinnvoll sein, wenn es um arbeitsrechtliche Fragen oder um soziale Standards geht, für die sich Gewerkschaften traditionell einsetzen und für die bislang nur deswegen nicht gestreikt wird, weil sie nicht Thema von Tarifverhandlungen sind. Angesichts der momentanen Politik der Gewerkschaften im DGB wird man aber keinen Solidaritätsstreik mit den ArbeiterInnen Südeuropas erwarten dürfen. Am 14. November 2012 gab sich der DGB nur unter Zugzwang für Solidaritätskundgebungen her, da der EGB (Europäischer Gewerkschaftsbund) dazu aufgerufen hatte. Dieser Solidaritätsaufruf war ebenfalls nur deswegen zustande gekommen, weil die südeuropäischen Gewerkschaften mit einem eigenen Konkurrenz-Dachverband gedroht hatten.

Und, um ganz polemisch zu werden: Die vollständige Legalisierung des politischen Streiks bei gleichzeitigem Streikmonopol der DGB-Gewerkschaften könnte auch Streiks für mehr Rüstungsindustrie, eine Verlängerung der Atomkraftnutzung oder für den nächsten Auslandseinsatz der Bundeswehr bedeuten. Ein „politischer Streik“ ist nicht per se ein politisch sinnvoller Streik. In jedem Fall wären solche politischen Streiks, wie sie Wilhelmy und seinen MitstreiterInnen vorschweben, lediglich Demonstrationsstreiks im Luxemburgschen Sinne.

Das Wiesbadener Vorpreschen in dieser Frage ist dementsprechend durchaus umstritten. Insbesondere aus der IG Metall kommt die Kritik, dass die Frage des politischen Streiks keine juristische, sondern eine praktische ist. Das politische Streikrecht könne man nicht vom Staat erbitten, sondern der Staat werde es irgendwann gewähren müssen, wenn es zu politischen Streiks im größeren Ausmaße kommt. Das klingt zwar einerseits durchaus vernünftig, muss aber andererseits auch verstanden werden als Ablehnung des politischen Streiks – denn selbstverständlich ist den FunktionärInnen der IG Metall ganz klar, dass es zu dieser Situation so schnell nicht kommen wird.

Eine harschere Kritik, die ernst zu nehmen ist, äußert der Arbeitsrechtler Rolf Geffken:11 Denn so eindeutig, wie der „Wiesbadener Appell“ es impliziert, ist ein vermeintliches Verbot des politischen Streiks gar nicht – vielmehr gibt es quasi keine Regelung. Eine Kampagne, die ein Verbot behaupte, wo es doch lediglich um Rechtsauslegungen ginge, sei insofern bedenklich, als dass es dazu beitragen könne, dass die Rechtsprechung der Auffassung, politische Streiks seien verboten, folgt.

Das ist vor allem dann fatal, wenn wir uns auch hier erneut auf die Luxemburgsche Differenzierung besinnen: Streiks sind nicht einfach mal „politisch“ und mal „ökonomisch“, sondern immer beides und schwanken auch innerhalb eines Streiks zwischen beiden Polen. Die Bedrohung, die Rolf Geffken sieht, ist also nicht nur, wie in der IG Metall-Position, auf zukünftige „politische“ Streiks gerichtet, sondern auf den Streik als Ganzen, der juristisch zu einem politischen erklärt und dann verboten werden könnte – „nur der Streik (hilft) das Streikrecht zu sichern“ ist das Fazit Rolf Geffkens.

Veit Wilhelmy ist nicht der einzige, der ein entsprechend zu kurz greifendes Verständnis des „politischen Streiks“ hat: Lucy Redler hat 2004 ihre Diplomarbeit zum Thema „Politischer Streik in Deutschland nach 1945“ geschrieben und diese Arbeit 2007 im Neuen ISP-Verlag veröffentlicht. Ihr letztes Beispiel für einen „politischen Streik“ ist dabei die symbolische fünfminütige Arbeitsniederlegung gegen Aufrüstung im Jahr 1983.12

Bedenkt man den Luxemburgschen Hinweis, findet man auch in Deutschland weitaus mehr Streiks mit politischem Charakter, unter ihnen sogar Streiks, die den Begriff „Generalstreik“ durchaus verdienen: Das ist zum einen der bizonale Generalstreik am 12. November 1948, der als Hungerprotest auch ein Protest gegen „politische Preise“ war und in seinen Sozialisierungs- und teilweise Entnazifizierungsforderungen politischen Charakter annahm13 und zum anderen das ostdeutsche Pendant, der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953, der sich deutlicher als jeder andere Streik nach 1945 in Deutschland als ein Streik gegen kapitalistische Rationalisierungslogik (Normerhöhung) und gegen den Staat wendete.14 Aber auch jenseits dieser zwei „großen Generalstreiks“ waren Streiks immer wieder politisch: Der Metallarbeiterstreik in Baden-Württemberg des Jahres 1963 wendete sich nicht nur gegen die „Maßhalten“-Parolen Ludwig Erhardts (dem erklärten Vorbild Sarah Wagenknechts), sondern war ebenfalls früher Protest gegen die geplante Notstandsgesetzgebung und damit Vorläufer der 1968er-Bewegung.15 Nicht zuletzt ist der Streik gegen die geplante EU-Hafenrichtlinie „Port Package II“ im Jahr 2006 zu nennen: Obwohl kaum öffentlich bekannt, war dieser Streik eine europäisch koordinierte Aktion und damit Vorläufer des Generalstreiks vom 14. November 2012, als Streik gegen eine geplante Gesetzgebung trug er eindeutig politischen Charakter und die Repression war marginal – zugegebenermaßen auch deswegen, weil nicht gegen die Unternehmen gestreikt wurde, sondern diese im Gegenteil Proteste gegen die EU-Richtlinie begrüßten.

Mythos Generalstreik

Die Generalstreikwelle, die über Südeuropa rollt, feuert diese Debatten über ein politisches Streikrecht in Deutschland an. Dabei werden hier mindestens Äpfel mit Birnen verglichen, wenn nicht sogar wesentlich Unvergleichbareres. Es ist ein Unterschied ums Ganze, ob Krisenbetroffene – in Griechenland z.B. vor allem Beamte, Angestellte des Öffentlichen Dienstes und prekär beschäftigte AkademikerInnen – einen Generalstreik organisieren oder ob z.B. FacharbeiterInnen für oder gegen irgendein Gesetz streiken: Weder kann man die Generalstreiks mit dem „politischen Streik“ in eins setzen, noch können sie als Beispiel für einen politischen Streik in diesem Sinne herhalten. Politische Streiks sind sie vielmehr in dem Sinne, dass die Thematisierung der eigenen wirtschaftlichen und sozialen Situation auch politisch ist und politisch gestaltet (bzw. mißgestaltet) wird. Wenn sich einige Strömungen des „demokratischen Sozialismus“ aus diesem Generalstreikgeschehen eine höhere „politische“ Streikbereitschaft auch in Deutschland erhoffen, dann liegen sie weit daneben.

Die sich heute in der Linkspartei entsprechend äußernden Parteimitglieder müssen sich die Vorwürfe anhören, die in der „Massenstreikdebatte“ den AnarchistInnen vorbehalten waren: Sie mythologisieren den Generalstreik, machen aus ihm einen Kampfmythos, wie George Sorel ihn beschrieben hat16 – obgleich es sich doch lediglich um recht steife Rituale handelt.

Auf Deutschland ist das nicht übertragbar: Und zwar nicht deswegen, weil es hier keine entsprechende Tradition des Generalstreiks gäbe, sondern weil diese Tradition erstens eine andere ist – sowohl 1948 wie auch 1953 orientieren sich eher an dem Generalstreik gegen den Kapp-Putsch als an eine südeuropäische Tradition – und zum zweiten auch, weil diese Tradition dennoch verschüttet ist – der 1948er Streik kommt in der Geschichtsschreibung nicht vor, der 1953er Streik wurde vom westdeutschen Staat radikal uminterpretiert zu einem Volksaufstand, der bis 1990 als „Tag der deutschen Einheit“ herhalten musste. „(N)icht ohne Grund ist der Arbeiteraufstand in der DDR vom 17. Juni kein Feiertag mehr: Dieser Tag war während des Kalten Krieges ein ideales Instrument der westdeutschen Oberschichten, eine Legitimations-Krücke, mit der sich das postfaschistische Staatsfragment über seine braunen Flecken hinwegsetzen und höhere demokratische Weihen verleihen konnte. Nach 1989 wollte man diesen gefährlichen, weil andere Motive in sich bergenden Feiertag loswerden (…)“ kommentiert Gregor Kritidis.17 Die Geschichtsschreibung des Generalstreiks in Deutschland wurde von oben getilgt, denn, anders als die südeuropäischen Gewerkschaften, kannten die ArbeiterInnen hier den Generalstreik nur als Kampfstreik, nicht als Demonstrationsstreik.

Trotz alledem ist es selbstverständlich sinnvoll und wichtig, auch die Generalstreiks in Südeuropa solidarisch zu begleiten. Das ist und bleibt aber ein symbolischer Akt, der keinem einzigen Griechen, Spanier, Portugiesen oder Zyprioten tatsächlich hilft. Er ist schon deswegen notwendig, weil man sich – trotz Ablehnung des Nationalstaatsprinzips – „seiner“ oder „ihrer“ Regierung dermaßen schämt, dass man auch selber das Bedürfnis hat, zu zeigen „Wir sind hier im Norden nicht alle so!“ Die deutsche EU-Politik wird das aber nicht ändern.

Die „wirkliche Bewegung“

Aber die reine Übertragung südeuropäischer Generalstreiks auf mittel- und nordeuropäische Verhältnisse ist nicht die einzige Option, die in Protesten und deren Reflexion bleibt. Die erfreuliche Initiative der Rosa-Luxemburg-Stiftung und von ver.di Stuttgart zu der Konferenz „Erneuerung durch Streik“ Anfang März 2013 zeigt, dass es ein erheblich gestiegenes Interesse am Streikgeschehen gibt. Die Streikkonferenz in Stuttgart zeichnete sich dadurch aus, dass sich die StreikforscherInnen größtenteils angenehm zurückhielten und das Wort den StreikaktivistInnen überließen, die zahlreich angereist waren. Insofern war die Konferenz weniger eine wissenschaftliche Debatte über das Phänomen Streik als vielmehr ein Erfahrungsaustausch, vor allem unter StreikaktivistInnen, aber auch zwischen diesen und kritischen WissenschaftlerInnen. Von „politischen Streiks“ war hier nun nicht mehr die Rede, wohl aber von der „Politisierung“ von Streiks – das ist aber etwas ganz anderes, nämlich die sinnvolle Strategie, Arbeitskämpfe zum Politikum zu machen und die entsprechenden Themenfelder zu besetzen. Auch das weist darauf hin, dass die Warnung Rolf Geffkens sehr angebracht ist. Eine Streikbewegung kann nicht abstrakt von oben diktiert werden, dann wird sie zu einem Streikritual, das sich von den alljährlichen Tarifritualen nicht mehr unterscheidet.

Werfen wir einen Blick zurück auf die Kämpfe der letzten Jahre, so werden wir feststellen, dass es in den spektakuläreren Arbeitskämpfen – Opel Bochum, Gate Gourmet, AEG, Bosch-Siemens-Haushaltsgeräte – fast immer um Betriebsschließungen, Betriebsübergänge, Entlassungen und Kürzungen ging – fast ausnahmslos um defensive Kämpfe. Hier findet eine wirkliche Bewegung statt, die Menschen, aus denen eine Bewegung nun mal immer besteht, sind bereit, auch etwas zu riskieren. Die Kämpfe mögen defensiv sein, aber eine Streikerfahrung – und dann noch eine, in der man vielleicht etwas erreicht – führt meist zu mehr Engagement, mehr Bereitschaft zu kämpfen, wenn man so möchte, zu mehr „Klassenbewußtsein“.

Der zweite Aspekt einer solchen „wirklichen Bewegung“ sind die sogenannten „Spartengewerkschaften“, die oftmals als vermeintlich unsolidarisch oder branchenegoistisch in der Kritik stehen. Das mag tendenziell sogar zutreffen, nichtsdestotrotz kommt den Kämpfen der LokführerInnen, PilotInnen etc. eine Vorbildfunktion zu: Der Transportsektor bleibt der Punkt, an dem das Kapital wesentlich angreifbar bleibt, und diese Situation wird sich noch drastisch verschärfen.18 Ganz davon abgesehen, dass auch die Chuzpe, mit der vergleichsweise hohe Forderungen gestellt werden, auf die Gewerkschaften des DGB abfärben könnten.

Vielleicht haben sie das sogar schon getan: Die Forderungen von ver.di im Sicherheitsgewerbe von bis zu 22,8 Prozent und Ergebnissen immerhin zwischen 15 und 18 Prozent zeigen, dass man gerade in prekären Sektoren ruhig hohe Forderungen stellen darf und damit sogar erfolgreich sein kann.19 Denn der dritte Aspekt, der zu bedenken ist, wenn man eine allgemeine Streikfähigkeit – und das wäre die zu erreichende Grundlage für einen Generalstreik – erreichen möchte, sind die prekären Kämpfe, die auch am ehesten einen Zusammenhang mit der Krise erkennbar werden lassen. Nicht umsonst war derjenige, der den meisten Applaus auf der Streiktagung in Stuttgart erhielt, weder der Wissenschaftler Klaus Dörre noch der Parteivorsitzende Bernd Riexinger, sondern der Betriebsratsvorsitzende von Neupack, Murat Günes, der momentan gegen den Betrieb und gegen die IG BCE ankämpfen muss.20 Auch der erste Tarifstreik im CallCenter und die wachsende Unzufriedenheit in der Leiharbeit – vor allem auch mit der diesbezüglichen DGB-Politik – weisen hier ein Potential auf.

Bevor man sich also den Kopf darüber zerbricht, wie man – quasi aus dem Nichts – eine politische Streikbewegung gegen die Krise aufbaut, sollte man ein genaues Auge auf diese real existierenden Kämpfe werfen. Denn man kann sich sicher sein: Ein Generalstreik, der abstrakt die europäische Krisenpolitik thematisiert, wird nicht anders sein als jede beliebige Latschdemo, die keinerlei wirtschaftlichen Schaden – und das ist nun mal das Kernelement des Streiks – anrichtet.

Es ist nicht gerade neu, dass die beste Solidarität der „Kampf im Herzen der Bestie“ ist. Die primäre Frage, die zu stellen ist, lautet daher: Wo finden sowieso schon Kämpfe statt, die bereits einen – evtl. bisher nicht thematisierten – Zusammenhang mit der Krise haben? Der Streik bei Neupack wäre ein Beispiel dafür, die Beben, die aktuell die Autoindustrie erschüttern, weisen darauf hin, wo es weitergehen wird. An den Staat zu plädieren, ein politisches Streikrecht zu gewähren oder auch in einer letztlich doch passiven Solidaritätsbekundung mit den Generalstreiks in Südeuropa zu verharren, das sind letztlich Formen von Politik, die „die da oben“ ansprechen. Viel spannender ist aber, was hier unten abläuft, selbst dann, wenn es nur schwache Ansätze sind.

Für Streiks gilt letztlich ebenso wie für Demonstrationen: Wenn man schon vorher weiß, wann man wieder nach Hause kommt, kann man auch gleich zu Hause bleiben.

 

Anmerkungen

[1] Stephen Colatrella: In unseren Händen liegt eine Macht. Eine weltweite Streikwelle, Sparprogramme und die politische Krise der Global Governance. In: Wildcat 90/Sommer 2011. S.53 – 60.

[2] Vgl. u. a. Kerstin Hamann, Alison Johnston, John Kelly: Unions against Governments: Explaining General Strikes in Western Europe, 1980 – 2006. papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1900035

[3] Griechenland: Kämpfe in der Krise. In: Wildcat 94, Frühjahr 2013. S.24 – 27.

[4] Siehe www.rosalux.de/documentation/46538/erneuerung-durch-streik.html

[5] Siehe www.saechsisches-industriemuseum.de/_html/infothek/flyer_tagung_ab.pdf

[6] Siehe www.boeckler.de/34402_42583.htm

[7] Siehe politischer-streik.de, vgl. auch Peter Nowak: In der Defensive. In DA 215, Januar/Februar 2013.

[8] Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. [1906]. In: Dies.: Schriften zur Theorie der Spontaneität. Reinbek 1970. S.89 – 161.

[9] Etwa: Roller, Arnold: Der soziale Generalstreik.Berlin 1904.

[10] Edgar Weick: Theorien des Streiks. S.98. in: Schneider, Dieter: Zur Theorie und Praxis des Streiks. Frankfurt a.M. 1971. S.97 – 154.

[11] Rolf Geffken: Initiative „Politischer Streik“ Unsinn – 10 Thesen für eine überfällige Debatte. www.drgeffken.de/index.php?id=aktuelleinfos&no_cache=1&tx_ttnews[tt_news]=133&tx_ttnews[backPid]=17&tx_ttnews[pS]=1360412467.

[12] Lucy Redler: Politischer Streik in Deutschland nach 1945. Köln/Karlsruhe 2007. S.84 – 89.

[13] Vgl. dazu den Abschnitt „Deutschland 1946 – 1948“ in Holger Marcks, Matthias Seiffert (Hg.): Die großen Streiks. Episoden aus dem Klassenkampf. Münster 2008.

[14] Vgl. Renate Hürtgen: Niedergang und Neuanfang einer autonomen Arbeiterbewegung in der DDR. In: Durch Nacht zum Licht? Geschichte der Arbeiterbewegung 1863 – 2013 (Ausstellungskatalog). Mannheim 2013. S.287 – 306.

[15] Für weitere Beispiele vgl. Peter Nowak: In der Defensive. In DA 215,  Januar/Februar 2013.

[16] Georg Sorel: Über die Gewalt. Frankfurt a.M. 1969 [Original: 1908].

[17] Gregor Kritidis: What Heimat? Plädoyer für mögliche andere Welten jenseits eines „Patriotismus“, der sich für klug hält. www.sopos.org/aufsaetze/45b404d6e8aaa/1.html. – In Ostdeutschland dagegen wurde der 17. Juni verschwörungstheoretisch in einen vom Westen gesteuerten „faschistischen Putsch“ umgedeutet, eine Interpretation, die überraschenderweise immer noch nicht ganz ausgestorben ist.

[18] Siehe dazu das Dossier „Kapitalismus und Verkehr“ in der Wildcat 94, Frühjahr 2013, S.31 – 62

[19] Vgl. „Wir wollen auch raus!“ Paukenschlag – Streik der Sicherheitsbeschäftigten am Flughafen. In express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit. Nr. 1-2 2013. S.1 – 3.

[20] Zum Neupack-Streik vgl. das Dossier auf labournet: www.labournet.de/branchen/sonstige/verpackungen/neupack

Torsten Bewernitz

Die Redaktion der Direkten Aktion.

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Torsten Bewernitz

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