Zwischen 2006 und 2008 bereist der Magnum1-Fotograf Carl de Keyzer die Demokratische Republik Kongo (vormals Zaire, davor Belgisch-Kongo), mit einem 1958 – also noch während der Kolonialzeit – erschienenen Reiseführer. Er fotografiert, was er von den dort beschriebenen Sehenswürdigkeiten noch finden kann: die koloniale Infrastruktur, also Verwaltungsgebäude, Bildungseinrichtungen, Denkmäler, Missionskirchen, Verkehrswege, Handels- und Industriebetriebe, etc. Herausgekommen ist, neben einer Ausstellung anlässlich des 50. Jahrestags der Unabhängigkeit des Kongo (2010), ein schweres Buch mit Abbildungen nach detailreichen, raumtiefen Farbfotos, zumeist doppelseitig, und das bei einem Buchformat von ca. 36 x 27 cm. Ohne Einleitung, nur alle 16 Seiten durchschossen mit einem Blatt, darauf die Bildlegenden und jeweils eine Seite mit einer Textmontage aus zumeist historischen Politiker-Statements, Reiseberichten, Zeitungsartikeln, Werbeanzeigen u.a. Das Bild, das de Keyzer zeichnet, ist schon heftig, denn obwohl er nicht als Kriegsfotograf unterwegs war und sozusagen kein Tropfen Blut zu sehen ist, sind Zerfall, Not und Gewalt in den Bildern allgegenwärtig. Es gehört schon zu den ganz bitteren Geschichten des 20. (und 21.) Jahrhunderts, dass in etlichen postkolonialen Gesellschaften Afrikas die Lebensverhältnisse großer Teile der Bevölkerung seit der Unabhängigkeit keineswegs besser geworden sind – örtliche Eliten, in- und ausländische Kapital- und „Sicherheits“-Interessen, religiöse Fanatiker, Soldaten, Söldner, Milizen usw. stehen dagegen.2 De Keyzers Buch zeigt aber noch etwas anderes, und zwar, dass nicht nur die Fotografie, sondern auch deren Verarbeitung zu einem Fotobuch ein hervorragendes Medium ist, um Informationen und Thesen einem breiten Publikum zu vermitteln.3 Bei dieser Art von Autorenfotografie geht es nie um die einzelnen Bilder, sondern immer um die Erzählung als Ganzes, und es erlaubt den FotografInnen, komplexe Zusammenhänge darzustellen, die eigene Perspektive (also Interpretation) in den Vordergrund zu stellen, und – jedenfalls im Idealfall – eine größere Kontrolle über das Projekt, zumindest einen besseren Schutz vor Zweckentfremdungen durch Agenturen und Redaktionen.
Aber das muss man sich leisten können, und einer, der das kann, ist der Brasilianer Sebastião Salgado. Der hatte vom Attentat auf Ronald Reagan (1981) quasi Exklusiv-Bilder und kam dadurch in den Stand, für einzelne Projekte über Jahre hinweg fotografieren zu können, so für die beiden in Ausstellung und als Fotobuch präsentierten Arbeiter. Zur Archäologie des Industriezeitalters (dt. 1993) und Migranten (dt. 2000). Dafür bereiste er mehr als 20 Länder und nahm sich viel Zeit, um mit den Leuten in Kontakt zu kommen. Der Band Africa ist aber eine nachträglich erstellte Kompilation von Einzelbildern und Reportagen, die er seit Anfang der 70er Jahre gemacht hat, also kein als solcher fotografierter Essay. Trotzdem interessant, durch die inhaltliche Breite – Alltagsleben, Natur, Krieg, usw. – und durch den zeitlichen Verlauf. Salgado gehört zu den bekanntesten sozial-engagierten Fotografen der letzten Jahrzehnte, und seine s/w-Fotos haben eine unverwechselbare Handschrift, es gibt aber auch viel Kritik an ihm und seinen Bildern: er würde mit dem Leid anderer Reibach machen, seine Bilder seien zu emotional, zu pathetisch, zu ästhetisiert, also zu „schön“ für das dargestellte, u.a..4
Wozu aber braucht jemand, der oder die lange Texte über Gewaltherrschaft und Kapitalismus im grenznahen Norden Mexikos gelesen hat, oder über die Fluchtbewegung dort in die USA, wozu braucht so jemand Fotobücher? Weil die Fotografien z.B. in den beiden Büchern von Bowden, das eine über die Grenzstadt Juárez (in dem der Text überwiegt), das andere über die Fluchtbewegung (in dem die Fotos mehr Raum einnehmen), andere und mehr Informationen beinhalten, als es die Texte tun. Bilder verarbeitet das Hirn wesentlich schneller, weshalb es Jahre dauern würde, Beschreibungen dessen zu lesen, was die Fotos an Details zeigen. Hinzu kommt die – scheinbare – Unmittelbarkeit von Fotos, die oft starke Emotionen auslöst, was ja durchaus erwünscht sein kann. Gerade diese scheinbare Unmittelbarkeit birgt aber auch die Gefahr der Manipulation in sich, wogegen wieder die Abstraktion in Form von Texten helfen kann, oder auch eine starke visuelle Ästhetisierung wie bei Salgado, die gerade das Gemachte, das Interpretierende, die Parteinahme deutlich macht. Es gibt viele Möglichkeiten…
Carl de Keyzer: Congo (Belge). Lannoo, 2009. 352 S. Textmontage von David Van Reybrouck. Fläm. / Fr. / Engl.
Sebastião Salgado: Africa. Taschen, 2007 (Neuausgabe 2010). 335 S. Mit Texten von Mia Couto. Engl. / Dt. / Fr.
Charles Bowden (Text): Juárez. The Laboratory of our Future. Aperture, 1998. 136 S. Engl. Mit Fotos von Javier Aguilar, Julián Cardona, Margarita Reyes u.a. Vorwort von Noam Chomsky, Nachwort von Eduardo Galeano.
Charles Bowden (Text) / Julián Cardona (Fotos): Exodus – Éxodo. University of Texas Press, 2008. 285 S. Engl.
Anmerkungen
1. Berühmte, kooperative Agentur von Foto-JournalistInnen, gegründet 1947 von Robert Capa u.a., zu deren Arbeitsschwerpunkten auch immer sozial-engagierte Fotografie gehörte. Eine – auch kritische – Darstellung erschien in der Zeitschrift Mittelweg 36: M. Christen / A. Holzer: Mythos Magnum. (Heft 5 / 2007). Taugt auch als Einführung in die Probleme des Foto-Journalismus von der Nachkriegszeit 2. Weltkrieg bis ins digitale Zeitalter.
2. Der Kongo ist hierbei sicherlich ein Extremfall, die genannten Probleme existieren aber auch anderswo. Vgl. hierzu z.B. die hier bereits vorgestellten Bücher von Michela Wrong sowie die Reportagen und (Roman-)Essays von Hans Christoph Buch.
3. Die umfassendste Darstellung hierzu ist: M. Parr / G. Badger, The Photobook. A History. Phaidon, 2044, 2006 (2 Bände), insbesondere das Kapitel The Camera as Witness. The „Concerned” Photobook since World War II im 2. Band. Leider ist das Fotobuch aber auch ein Lieblingsobjekt des Kunstmarktes, und gerade die durch Bücher wie das von Parr / Badger kanonisierten sind oft sehr teuer. Aber es gibt ja auch Bibliotheken, offizielle und „andere“.
4. Zur Kritik an Salgado siehe ausführlich: Evelyn Runge: Glamour des Elends. Ethik, Ästhetik und Sozialkritik bei Sebastião Salgado und Jeff Wall. Böhlau, 2012. In Runges Buch gibt’s es viel Interessantes, auch zu den Problemen sozial-engagierter Fotografie als solcher. Es ist aber auch ein ärgerliches Buch, insofern die Verfasserin, die die ganze Zeit die Fotografie als Mittel gegen Rassismus, Gewalt und Ausbeutung verteidigt, im letzten Abschnitt plötzlich konservative Denker als Gewährsleute aus dem Hut zaubert, neben dem offenbar unvermeidlichen Niklas Luhmann auch Norbert Bolz und Odo Marquard, und Henning Ortmann, ihren Doktorvater.
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