Gustav Landauers mystisch geprägter Anarchismus
Im Februar 2012 stürmen ein paar als Punk-Band getarnte junge Frauen die Christ-Erlöser-Kathedrale in Russlands Hauptstadt Moskau. Kurz darauf stellen sie ein Video ihrer Aktion ins Internet, unterlegt mit einem Song, der die Führung des Staates und der Russischen Orthodoxen Kirche scharf kritisiert. Für das Gericht, das zwei der Frauen für zwei Jahre ins Straflager schickt, ist die Sache klar: Rowdytum, motiviert durch religiösen Hass. Da scheint es ins Bild zu passen, wie Pussy Riot bereits in den Wochen zuvor auffällig geworden war: Mit ihrem Song „Kropotkin Wodka“ hatten sie ein Getränk gepriesen, das gut für die Protestierenden auf der Straße sei, den Herrschenden aber ein Treffen mit Präsident Kennedy ermögliche – vielleicht ein versteckter Gruß an die „Dead Kennedys“, deren ehemaliger Sänger Jello Biafra zu dieser Zeit die Occupy-Bewegung unterstützt.
Typisch, könnte man meinen: antireligiöser Anarchismus, Kritik an religiöser und staatlicher Autorität, ni Dieu ni maître. Aber warum beriefen sich dann die angeklagten Mitglieder von Pussy Riot so beharrlich auf die Bibel und die klassische russische Religionsphilosophie?
Religion kann ein Herrschaftsinstrument sein. Religion kann aber auch helfen, Herrschaft zu kritisieren. Historisch lässt sich beides an zahlreichen Beispielen zeigen. Dabei scheint es eine Art von Wahlverwandtschaft zu geben zwischen bestimmten Formen von Religion und bestimmten politischen Richtungen: Der Marxismus wäre dann einem apokalyptischen Typ von Religion zuzuordnen: Das Heil erscheint am Ende und als Ziel der Geschichte nach dem Endkampf zwischen Gut und Böse. Der anarchische Gegenentwurf kann dabei mystische Formen annehmen. Besonders deutlich wird das am Beispiel von Gustav Landauer.
Gustav Landauer wird 1870 als Sohn jüdischer Eltern in Karlsruhe geboren. Die geistige Enge, die er in seiner Schulzeit erlebt, führt ihn zum Anarchismus und zu seinem Wunsch, Schriftsteller zu werden. 1891 zieht Landauer nach Berlin-Friedrichshagen, damals Künstler- und Intellektuellenzentrum. Er schließt sich einer marxistischen Studentengruppe an und befreundet sich mit den Initiatoren der sozialistischen „Freien Volksbühne“. Wie bei zahlreichen anderen Intellektuellen seiner Zeit geht mit der Politisierung eine Abgrenzung von der Religion einher. 1892 verlässt Landauer die jüdische Religionsgemeinschaft, der er bis dahin anscheinend ohnehin nie stark verbunden gewesen war.
In Berlin stürzt sich Landauer in Politik und Literatur. Er wird Mitherausgeber und Chefredakteur der Zeitschrift Sozialist. Weil Landauer im Jahre 1893 als anarchistischer Delegierter am Züricher Kongress der Zweiten Internationale teilnimmt und darüber im Sozialist berichtet, wird er wegen „Aufforderung zum Ungehorsam gegen die Staatsgewalt“ zu seiner ersten Gefängnisstrafe verurteilt.
Ein weiterer Gefängnisaufenthalt 1899 / 1900 bringt eine Wende in seinem Denken. In der Haft übersetzt Landauer mehrere Predigten Meister Eckharts aus dem Mittelhochdeutschen und beschäftigt sich intensiv mit der Gedankenwelt der mittelalterlichen Mystik. In einem Brief an seine spätere zweite Ehefrau, die Dichterin Hedwig Lachmann, schreibt er: „Was dem Mittelalter das Kloster, das kann uns Modernen das Gefängnis sein. Die Esel, die uns diese Kur vorschreiben, wissen gar nicht, welche Wohltat sie manchem schon erwiesen haben. Ich habe da innen früher einsame Wonnestunden ohnegleichen erlebt, und die Kraft des Leids hat sich mir erprobt.“ Landauers mystisches Denken, das er im Anschluss an Meister Eckhart entwickelt, kommt ohne Gott aus. Landauer – ein atheistischer Mystiker.
Den Ersten Weltkrieg lehnt Landauer von Beginn an ab. Mit Beginn der Revolution im November 1918 kommt Landauer auf Bitte des neuen bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner hin nach München. Nach der Ermordung Eisners wird Landauer in der ersten Münchener Räterepublik für wenige Tage Minister für Volksaufklärung, Unterricht, Wissenschaft und Künste. Von der zweiten, kommunistisch dominierten Räterepublik distanziert er sich bald. Im Zuge der militärischen Niederschlagung der Revolution 1919 wird Landauer verhaftet und ermordet.
In einem Nachruf schreibt Landauers Freund Martin Buber: Landauer „fühlte in sich den urjüdischen Geist, der zur Verwirklichung drängt, leibhaft gegenwärtig; er fühlte sich seinen Ahnen, den jüdischen Propheten und den jüdischen Blutzeugen, verbunden. Gustav Landauer hat als ein Prophet der kommenden Menschengemeinschaft gelebt und ist als ihr Blutzeuge gefallen.“
Landauer entfaltet seinen mystisch-philosophischen Ansatz vor allem in seiner 1903 erschienenen Schrift Skepsis und Mystik. Anders als in der mittelalterlichen Theologie des Meister Eckhart ist das Ziel für Landauer nicht eine Vereinigung des Menschen mit Gott, vielmehr führe der mystische Weg dazu, dass der Einzelne „Welt“ werde und so seine Isolation überwinde, in der er als von der Umgebung abgegrenztes Individuum gefangen sei: „Um nicht welteneinsam und gottverlassen ein Einziger zu sein, erkenne ich die Welt an und gebe damit mein Ich preis; aber nur, um mich selbst als Welt zu fühlen, in der ich aufgegangen bin.“
Die Vereinigung mit der „Welt“ geschehe, so Landauer, wenn das Individuum in sein tiefstes Inneres vorstoße. An dieser Stelle wird der Einfluss der Theologie des Meister Eckhart auf Landauer deutlich. Eckhart war der Überzeugung, dass jeder Mensch einen göttlichen „Seelengrund“ in sich trage. Deshalb sei die Einung mit Gott durch die Konzentration auf diesen „Gott in mir“ zu erreichen, also durch die Abkehr von der Welt und durch „Abgeschiedenheit“, als Preisgabe des eigenen Habens, Wollens und Seins. Nur wenn der Mensch wahrhaft „arm im Geiste“ sei, könne er der Gottheit Raum geben, die in ihm zum Durchbruch gelangen wolle. Die extremste Selbstpreisgabe des Menschen wird so zur vollkommenen Form seiner Gottwerdung.
Landauer geht analog dazu davon aus, dass jeder Mensch die „Welt“ (als Äquivalent zur Gottheit) in sich trage, zu der er durch Abgeschiedenheit, durch „Absonderung“ vorstoße:
„Je fester ein Individuum auf sich selbst steht, je tiefer es sich in sich selbst zurückzieht, je mehr es sich von den Einwirkungen der Mitwelt absondert, um so mehr findet es sich als zusammenfallend mit der Welt der Vergangenheit, mit dem, was es von Hause aus ist. Was der Mensch von Hause aus ist, was sein Innigstes und Verborgenstes, sein unantastbarstes Eigentum ist, das ist die große Gemeinschaft der Lebendigen in ihm […]: die Gemeinschaft, als die das Individuum sich findet, ist mächtiger und edler und urälter als die dünnen Einflüsse von Staat und Gesellschaft her. Unser Allerindividuellstes ist unser Allerallgemeinstes. Je tiefer ich mich in mich selbst heimkehre, um so mehr werde ich der Welt teilhaftig.“
Die Überzeugung einer innigsten Verbundenheit von Individuum und „Welt“ – und damit eingeschlossen von menschlichem Individuum und Menschengeschlecht – begründet einen spezifischen Glauben an eine elementare Gemeinschaftsfähigkeit. Ist „die große Gemeinschaft der Lebendigen“ in jedem Menschen präsent, so erscheinen die „Einflüsse von Staat und Gesellschaft“ als dünn. Der Staat ist dann nicht mehr nötig, um menschliches Zusammenleben zu ermöglichen. Der Staat sei, so Landauer, nicht die Lösung, sondern das Problem. In seiner Schrift über Die Revolution (1907) erklärt er: „Wo der Geist nicht ist, da ist die Gewalt: der Staat und die ihm zugehörigen Formen der Obrigkeit und des Zentralismus“. „Geist“ ist demnach das, was die Menschen untereinander verbindet, und zwar als „ein natürlicher aber kein auferlegter Zwang“, der zugleich „Freiheit und Ordnung“ schafft.
Um die im Menschen vergrabene Verbundenheit untereinander wieder Wirklichkeit werden zu lassen, müsse der Staat mit seinen Einrichtungen zurückgedrängt und dem „Geist“ Raum gegeben werden. Dies könne durch die Gründung von Gemeinschaften außerhalb des Staates geschehen, um „den Geist auszulösen, der hinter dem Staate gefangen sitzt“. Landauer erklärt: „Wir warten nicht auf die Revolution, damit dann Sozialismus beginne; sondern wir fangen an, den Sozialismus zur Wirklichkeit zu machen, damit dadurch der große Umschwung komme!“
Anstatt im Kapitalismus für eine neue Gesellschaft zu kämpfen, propagierte Landauer den „Austritt aus dem Kapitalismus“, die Gründung einer sozialistischen Neben- oder Gegengesellschaft, die mit der Verwirklichung einer neuen Gemeinschaft beginne. Nichts stehe der gesellschaftlichen Umwandlung so sehr im Wege, wie die potentiellen Protagonisten der Veränderung selbst, die vom Kapitalismus, seinen Werten und seiner Wirklichkeit korrumpiert würden und die erst ihre „freiwillige Knechtschaft“ abstreifen müssten, um dann „durch Absonderung zur Gemeinschaft“ zu kommen.
Für Landauer bedeutet das – mit einer deutlichen Stoßrichtung gegen den Marxismus: Die Vereinigung des Einzelnen mit der höheren Wirklichkeit, hier der Welt und der Menschheit, ist jederzeit möglich und nicht etwa abhängig von einem bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkraftentfaltung. Sie hängt allein von der Bereitschaft des Einzelnen ab, den mystischen Weg zu beschreiten. Revolution ist damit zugleich ein gesellschaftliches und ein spirituelles Projekt: Es gilt, sowohl die Formen des Zusammenlebens umzugestalten, die Formen staatlicher Herrschaft zu zerstören und „geist- gemäße“ Institutionen aufzubauen, als auch sich selbst zu verändern, gemeinschaftsfähig zu werden.
So könnte sich im Idealfalle ein neues Gemeinwesen von unten nach oben entwickeln, basierend auf kleinen Einheiten, in denen herrschaftsfreie Verbundenheit erlebt werden kann und die Beteiligten in der Lage sind, die sie betreffenden Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Delegierte dieser kleinen Einheiten sollen dann auf den nächsthöheren Ebenen diejenigen Entscheidungen treffen, die eine größere Zahl von Gemeinschaften angehen, und so immer weiter bis hin zur Ebene eines Völkerbundes: „eine Gesellschaft von Gesellschaften von Gesellschaften; ein Bund von Bünden von Bünden; ein Gemeinwesen von Gemeinwesen von Gemeinden; eine Republik von Republiken von Republiken.“
Sollte die Menschheit je einen solchen Völkerbund errichten – das Ende der Geschichte wäre das nicht, denn Geschichte ist keine Einbahnstraße mit einem endgültigen Ziel. Deshalb sei es nötig, Formen zu finden, die die Gemeinschaftsfähigkeit der Menschen erhielten und verhinderten, dass der Staat wieder an die Stelle der geistbewegten Gemeinschaften trete. Das anti-institutionelle Element müsse gleichsam institutionalisiert werde, um der Verfestigung von Machtstrukturen vorzubeugen. Oder, wie Landauer es in seiner Schrift Aufruf zum Sozialismus ausdrückt: Die Revolution müsse „Zubehör unsrer Gesellschaftsordnung“ und „Grundregel unsrer Verfassung werden“.
Als Anarchist lehnt Landauer Zwang und damit auch Gewalt ab. Man könne das Ziel einer herrschafts- und damit auch gewaltlosen Gesellschaft „nur erreichen, wenn das Mittel schon in der Farbe dieses Zieles gefärbt ist. Nie kommt man durch Gewalt zur Gewaltlosigkeit.“ Vielmehr setze eine neue Form des Zusammenlebens Umkehr und mystische Wiedergeburt voraus und sei nur möglich, wenn „sich freie, innerlich gefestigte und in sich beherrschte Naturen aus den Massen loslösen und zu neuen Gebilden vereinigen“. Nur solche „Neulebendige und von innen her Wiedergeborene“ seien anarchiefähig: „Die werden unter einander leben als Gemeinsame, als Zusammengehörige. Da wird Anarchie sein.“ Und: „Sie werden nichts töten als sich selbst in dem mystischen Tod, der durch tiefste Versunkenheit zur Wiedergeburt führt.“
Interview mit Torsten Bewernitz und Gabriel Kuhn.
Der revolutionäre Syndikalismus, wie wir ihn kennen, gehört vielleicht der Vergangenheit an. Damit er überleben…
Rezension zum Buch der Sanktionsfrei e.V. Gründerinnen über Bürgergeld, Armut und Reichtum.
Arbeits- und Klimakämpfe verbinden - zum neuen Buch von Simon Schaupp und dem Film Verkehrswendestadt…
Alter Chauvinismus oder die Kehrtwende in eine neue Fürsorglichkeit.
Rezension zu „Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut“
Leave a Comment