Ein Text von Harald Beyer-Arnesen aus dem Jahr 1997
Ilan Shalif, ein libertärer Kommunist, dessen Gedanken ich schätze, auch wenn ich nicht immer mit seinen Schlussfolgerungen übereinstimme, schrieb folgendes während eines Email-Austauschs zwischen den klassenkämpferischen AnarchistInnen von „Organise!“ […]:
„Die anarcho-syndikalistische Gewerkschaft ist ein Märchen, ein
Traum. Sie kann in unserer jetzigen kapitalistischen Gesellschaft
nicht verwirklicht werden. […] Gegenwärtig kenne ich keine
anarcho-syndikalistische Gewerkschaft, die nicht nur ihrem Namen nach
eine solche ist (entweder es ist keine Gewerkschaft, oder sie neigt
bereits zur Kooption und zum Reformismus). […] In unserer heutigen
kapitalistischen Gesellschaft fällt es schwer, sich irgendeine
praxisbezogene Gewerkschaft vorzustellen, die nicht groß und
kooptativ wäre. Vollkommen anders verhält es sich dagegen mit
kleineren Arbeitergremien. Wenn die Zeit für echte, libertäre
Arbeitergewerkschaften reif ist, wird die Revolution schon bereits im
vollen Gange sein.“ […]
Sind Anarchosyndikalismus und die revolutionären Gewerkschaften im Allgemeinen ein Relikt aus vergangenen Tagen, ein Traum, der sich in unserer heutigen kapitalistischen Gesellschaft nicht mehr verwirklichen lassen wird? Jüngste Beispiele aus der Geschichte scheinen diese Behauptung zu stützen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die syndikalistische Zentralorganisation der schwedischen ArbeiterInnen (SAC) nur noch ein blasser Schatten ihrer Selbst. Diese Entwicklung ist umso bedeutender, bedenkt man, das die SAC (von der viel älteren französischen CGT mal abgesehen), die einzige revolutionäre Gewerkschaft war, die nie brutal unterdrückt wurde. Die Wobblies der IWW sind zwar momentan gesund und munter, doch ihre Mitgliederzahl beläuft sich auf gerade 900; Die CNT nach Franco ist auf weniger als 10.000 Mitglieder geschrumpft und droht in ihrer einstigen Hochburg Katalonien an inneren Spannungen zu zerbröckeln. Das bescheidene Wachstum der französischen CNT und der „Unione Syndicale Italiana“ (USI) rief leidenschaftliche Dispute hervor, in denen über Kooption und Reformismus gestritten wurde und endete schließlich in deren Spaltung. Die deutsche FAU ist mit der Produktion ihrer Zeitung auf dem richtigen Weg, doch von einer eigentlichen Gewerkschaftsstruktur noch weit entfernt. Das britische Industrienetzwerk „Solidarity Federation“ (SF) besteht aus 50 Mitgliedern, und befindet sich in der gleichen Situation wie die norwegische NSF, die seit 1976 als kleine Propagandagruppe mit derzeit ca. 40 Mitgliedern agiert und ihre Botschaft in korporativen Gewerkschaften verbreitet. Auch das wiederaufgekommene Interesse in Osteuropa hat bis jetzt nichts weltbewegendes hervorgebracht. In den früheren Hochburgen des Anarchosyndikalismus in Süd- und Zentralamerika ist die Situation noch trister als in Europa. Auf lange Sicht vielversprechend könnte das Wiedererstarken der Befürworter einer revolutionären Gewerkschaftsbewegung in Südafrika sein. Ähnliche Tendenzen sind erstmalig auch in Nigeria und Sierra Leone zu erkennen. Eine Gewerkschaft im eigentlichen Sinne ist allerdings zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht vorhanden.
Das allgemeine Bild, welches Ilan von der gegenwärtigen Situation skizziert ist zutreffend, auch wenn sich natürlich darüber streiten lässt, wie korrekt es im Detail ist.
Um den „historischen“ Anarchosyndikalismus endgültig zu den Akten legen zu können, reicht es nicht aus, seinen derzeitigen Zustand empirisch zu bestimmen und lediglich Mechanismen zu benennen, mit denen die aktuelle Form des Kapitalismus gegen den Aufbau einer solchen Bewegung arbeitet. Denn das würde bedeuten, dass man in Zeiten, in denen sich der Klassenkampf intensiviert und die Arbeiter wieder anfangen, an eine Welt jenseits des Kapitalismus zu glauben, ein mögliches Wiedererstarken einer solchen Bewegung außer Acht gelassen wird. Die gegenwärtige Marginalität und die Absenz einer revolutionären Gewerkschaftbewegung spiegelt das mangelnde Selbstbewusstsein der Arbeiterklasse wieder, die nicht in der Lage ist, eine Welt ohne kapitalistisch geprägte soziale Beziehungen aufzubauen.
Wir sollten uns also folgende Frage stellen: Könnte in der heutigen Zeit nicht eine, wenn auch nur eine einfache, revolutionäre Gewerkschaftsstruktur als Motor zu einer zumindest teilweisen Stärkung des Selbstbewusstseins der Arbeiterklasse dienen? Für mich gibt es Gründe, die diese These stützen. Werfen wir zunächst einen Blick in die Zukunft.
Für Sozialrevolutionäre ist es selbstverständlich, organisatorische Fragen vor dem Hintergrund ihrer Ziele zu betrachten und Mittel zu finden, die zu den Anforderungen an eine zukünftige, globale, libertär-kommunistische Gesellschaft passen. Konkret bedeutet das, dass der Übergang in eine solche dauerhafte Gesellschafts- und Organisationsform im Wesentlichen auf den Bedürfnissen, den Wünschen und der Vorstellungskraft einer freien Gesellschaft basiert.
Wir leben in einer Welt der exzessiven Arbeitsteilung. Der Zusammenhalt unter den ArbeiterInnen ist deshalb entscheidend für den Erfolg einer sozialen Revolution. Das ist nichts Neues. Fehlender Zusammenhalt war einer der Hauptgründe, die zum Scheitern der russischen Revolution führten und zwischen den Arbeitern das fehlende Selbstvertrauen in ihre Fähigkeiten zur Selbstorganisation fern vom Arbeitsplatz verstärkten.
Arbeiterräte agieren in ihren Produktionsstätten auf lokaler Ebene. Sie sind nicht ausreichend geeignet, um im Alltag eine Vernetzung zwischen den verschiedenen Produktionsstätten auf eine unbürokratische Art und Weise zu bewältigen. Daher war es kein Zufall, dass die Bolschewisten durch die Sowjets erstmalig in der Lage waren, ihre separatistischen Machtbestrebungen zu etablieren. Während der kurzen revolutionären Phase in Russland dienten die Komitees in den Fabriken als Basis der Opposition und als Machtzentrum der ArbeiterInnen. Doch diese Macht löste sich schon bald aufgrund fehlender, funktional agierender Verbindungen unter den Arbeitern auf.
Obwohl die Verbindungen zwischen den ArbeiterInnen nicht einzig und allein im revolutionären Syndikalismus präsent sind, sondern auch in bürokratischen Gewerkschaften teilweise aufrecht erhalten werden, stellen sie dort nur eine Ausnahme dar: Im Regelfall entsteht eine Führungsspitze, durch die sich die ArbeiterInnen zunehmend voneinander isolieren und immer passiver werden. Der gegenseitige Kontakt und die Hilfe wird somit einer handvoll Spezialisten überlassen, die nicht selten nur die Kunst der leeren Phrasen pflegen. Dieses Führungspersonal blockiert jeglichen direkten Kontakt zwischen den ArbeiterInnen und setzt ihr Handeln generellen Verdächtigungen und Illegitimierungen aus.
Viele Sozialrevolutionäre lehnen die Beteiligung an institutionalisierten, großen Organisationen der Arbeiterbewegung innerhalb des kapitalistischen Systems ab. Da der Kapitalismus die eigentliche Antriebsfeder dieser Organisationen ist, werden diese zu institutionalisierten Hindernissen. Sie drohen die Revolution zu blockieren, indem sie ihre abgehobene Existenz zu rechtfertigen versuchen, sobald der Klassenkampf an einem bestimmten Punkt angekommen ist, nämlich dann, wenn dieses System überwunden werden kann.
Die Revolution braucht also ihre eigenen Organisationsformen. Organisationsformen, die möglicherweise in einem kapitalistischen System wachsen und gedeihen, werden den Bedürfnissen einer sozialen Revolution nicht gerecht werden können. Die Gewerkschaften können sich, in ihrer Funktion als Vertreter der Arbeitskraft, der Logik des Kapitals nicht entziehen, unabhängig von den politischen Überzeugungen ihrer Repräsentanten und deren Bemühungen, demokratische Gewerkschaftsstrukturen zu etablieren. Es ist im Rahmen dieser Argumentation notwendig, die vorsätzlichen Täuschungen durch Teile der Gewerkschaftsbewegung zu enthüllen und sich deshalb gegen die Arbeitgeber und die Gewerkschaften gleichermaßen zu richten.
Setzt man diesen Gedanken fort, müssen diese Anti-Gewerkschaftskämpfe gezwungenermaßen in alternativen Strukturen münden, die dann entweder wiederum als Gewerkschaft fungieren, oder werden durch interne als auch externe Spaltungen in einen atomisierten Zustand zurückfallen werden, innerhalb oder außerhalb der korporativen Gewerkschaftsstruktur. Man fühlt sich bei dem Gedanken, dass nur die Spaltung das Sprungbrett zur sozialen Revolution sein könnte, ziemlich verlassen. Jedoch basiert die Befürchtung, die diesem strategischen Gedanken zu Grunde liegt, darauf, dass möglicherweise aus korporativen Gewerkschaftsstrukturen ein unausgegorenes, revolutionäres Gebräu hervorgehen könnte welches komplett vom Fortbestand des vorherrschenden Systems abhängig sein wird.
Die Kritik an der Gewerkschaftsbewegung, die in oben genannter Position steckt, ist dem Anarchosyndikalismus nicht fremd. Man ist sich im klaren, dass der Anarchosyndikalismus im Kern durch unvermeidbare Widersprüche gekennzeichnet ist, die allerdings gleichzeitig eine Quelle der Vitalität in sich bergen. Dieser Kern beschreibt den grundlegenden Zustand der arbeitenden Klasse innerhalb des Kapitalismus und taucht dort auf, wo soziale Revolutionen geboren werden und wo sie auch schon wiederholt verloren wurden.
Die widersprüchliche Natur des Anarchosyndikalismus ist sein revolutionärer Antrieb und setzt ihm gleichzeitig dem Risiko aus, von der Logik des Kapitalismus vereinnahmt zu werden. Umso wichtiger sind institutionalisierte Vorsichtsmaßnahmen, um die jüngsten Entwicklungen als auch die immer wieder auftretenden Konflikte im Anarchosyndikalismus zu verhindern.
Der einzige Schutz vor Kooption ist die Auflösung der Organisation. Es ist also offensichtlich, dass jede beständige Organisationsform im Kapitalismus immer dem Risiko ausgesetzt sein wird, kooptiert und somit zu einem Hindernis in einer revolutionären Situation zu werden.
Aber diesem Argument entgegenzuhalten ist die Frage, ob eine Organisationsstruktur, die entweder auf den konkreten negativen Erfahrungen der ArbeiterInnen mit bürokratisierten korporativen Gewerkschaftsstrukturen basiert oder komplett unorganisiert ist, in der Hitze des Gefechts einer revolutionären Situation tatsächlich weniger Gefahr läuft, durch alte oder neue Klassengegensätze kooptiert zu werden. Ich denke nicht. Im Gegenteil. Die Tendenz zum Reformismus und zur Kooption wird in einer revolutionären Gewerkschaftsbewegung immer existieren und beide scheinen sogar ihre größte Chance zu sein, denn sie machen eine Beantwortung der daraus resultierenden Fragen zwingend im Hier und Jetzt erforderlich, nicht in einer fernen Zukunft. Ich verweigere mich allerdings der Logik, dass es in einer revolutionären Situation eine Stärke darstellt, an Unterwürfigkeit und Passivität gewöhnt zu sein. Ich kenne auch keinen historischen Beweis, der diese Ansicht stützten würde. Auf der anderen Seite scheinen eine endlose Blutspur und zahlreiche Gewaltherrschaften das Gegenteil zu bezeugen.
Man kann sich sogar fragen, ob das ablehnende Verhalten waschechter Revolutionäre gegenüber beständigen Massenorganisationen für die kapitalistische Kooption nicht doch den ultimativen Triumph darstellt.
Seit dem Enstehen riesiger Gewerkschaftsbewegungen und der „glorreichen“ Zeit des revolutionären Syndikalismus gelang es dem Kapitalismus zunehmend, jene Mechanismen zu kultivieren, die es ihm ermöglichten, Gewerkschaften in seine Entwicklung zu integrieren. Dieser Prozess begann, als privates und staatliches Kapital sich gezwungen fühlten, das Existenzrecht von Gewerkschaften anzuerkennen. Diese Akzeptanz wurde überall eng an die Bedingung geknüpft, dass Gewerkschaften durch ihre Stellvertreter einen dämpfenden und disziplinierenden Einfluss ausüben und, wenn notwendig, auch Sanktionen durchsetzen sollten, um ihre Mitglieder innerhalb der ihnen gesetzten Grenzen zu halten. So wurden Gewerkschaften schließich zum systemstabilisierenden Faktor im Kapitalismus. Zwei Beispiele aus den skandinavischen Ländern sollen diesen historischen Sachverhalt belegen.
1905 begann die schwedische Arbeitgeberassoziation (SAF) auf ein landesweites System kollektiver Verhandlungen mit bindenden, aber zeitlich begrenzten Vereinbarungen hinzuarbeiten. Wie so oft waren es hauptsächlich die großen Industrieunternehmen, die einen Vorteil darin sahen, Gewerkschaften in Positionen mit gemeinsamer Verantwortung zu integrieren, was zur Folge hatte, dass der Zentralismus in den Gewerkschaften zunahm. Als immer mehr schriftliche Vereinbarungen auf landesweiter Ebene zwischen den Mitgliedern der SAF und dem sozialdemokratischen Gewerkschaftsausschuss (LO) getroffen wurden, fühlte sich die syndikalistische SAC veranlasst, sich, basierend auf ihren Grundsätzen, in Opposition zu solchen Vereinbarungen zu positionieren. Was von nun an als legale oder illegale Form des Arbeitskampfes betrachtet werden sollte, wurde später als „Gesetz zur arbeitsrechtlichen Vereinbarung und dem Arbeitsgericht“ (1928) institutionalisiert. Dieses Gesetz, dem weitere folgten, wurde nicht nur eine Grundlage für Vorschriften und Sanktionen, sondern ermöglichte auch wichtige Sozialleistungen wie die Arbeitslosenversicherung, die wiederum in landesweiten Verträgen geregelt wurden. Die Mitglieder der SAC waren automatisch durch diese abgesichert, obwohl ihre Gewerkschaft es verweigert hatte, sich daran in irgendeiner Form zu beteiligen. Die ausdrückliche Absicht von SAF und LO, die SAC an den Rand zu drängen, wurde durch das Gesetz von 1928 letztlich umgesetzt. Seitdem werden Fäden zwischen den Arbeitgeberverbänden, den Gewerkschaften und dem Staat gesponnen, um das Netz der gegenseitigen Abhängigkeit aufrecht zu erhalten.
In Norwegen waren die landesweiten Verträge größtenteils ein Ergebnis der Ausschlussstrategie norwegischer Arbeitgeberverbände. Aber seit 1911 entwickelte sich eine starke, syndikalistisch inspirierte Opposition innerhalb der LO, die sich für die direkte Aktion als Mittel des Widerstands einsetzte. 1918 ermöglichte es der Eisen- und Metallarbeiterverband, die Entscheidungskontrolle über den Beginn und das Ende von Arbeitskämpfen direkt in die Hände der betroffen ArbeiterInnen zu legen, während der Arbeiterbund hingegen beschloss, auf die Unterzeichnung lokaler Verträge zu verzichten. Diese sogenannten „allgemein anerkannten Vertragsbedingungen“ verdrängten zunehmend den Abschluss von lokalen Verträgen. Dies führte wiederum zu einem Gerichtsurteil von 1920, welches besagt, dass die Gewerkschaften die juristische Verantwortung für die Aktionen ihrer Lokalförderation haben, unabhängig davon, ob sie diesen Vertrag unterzeichnen oder nicht. Auf diese Weise untergrub das Urteil die Entscheidung, nicht als offizielle Partei an einem geschrieben Vertragswerk teilzunehmen. Zuvor konnte man sich noch durch Verweigerung an einem Vertragswerk der gesetzlichen Auflage entziehen, doch von da an konnte der Arbeitgeber die Gewerkschaften verpflichten bei Unregelmäßigkeiten eingreifen zu müssen.
Diese Sklavenverträge, wie sie zu jener Zeit genannt wurden, wurden nicht einfach aufgelöst. Stattdessen entwickelte sich ein kompliziertes Netz von Gesetzen und bindenden Vereinbarungen, welche zum Zweck hatten, jeglichen potentiellen Konflikt zwischen Käufern und Verkäufern von Arbeitskraft zu regulieren. Innerhalb dieses Systems war kein Platz für die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung, welche dadurch de facto ungesetzmäßig wurde.
Auf den ersten Blick haben die Arbeiter zwar in diesem beschriebenen Prozess ein bisschen was erreicht, aber die Arbeitgeber erreichten wesentlich mehr: stabile Konditionen, um die kontinuierliche Ausbeutung von ArbeiterInnen fortzusetzen, die Befriedung der Arbeitskräfte sowie eine impotente ArbeiterInnenvertretung, welche nun von der Spitze bis zur Basis über alle Ebenen reichte. Beide, Arbeitskräfte und Arbeitervertretung, waren darauf aus, den Frieden, die Ordnung als auch die gegenseitige Verantwortung ganz im Dienste des Kapitalismus aufrechtzuerhalten, mit dem Staat als finalem, „neutralen“ Schlichter.
Diese korporative Struktur zeigt sich am deutlichsten in Ländern wie den skandinavischen, die einen hohen Prozentsatz an Arbeitern aufweisen, die passiv organisiert sind. Aber auch in Ländern mit einer prozentual sehr niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad werden die allgemeinen Bedingungen der Arbeiterklasse insgesamt von dem System einer mehr oder weniger korporativen Beziehung zwischen Gewerkschaft, Arbeitgeber und Staat bestimmt. Der letztgenannte Fall scheint ein größeres Feld für Aktionen und Organisationsstrukturen zu eröffnen, da diese schwerer zu kontrollieren sind.
Dort, wo Gewerkschaften vollkommen oder teilweise gesetzlich verboten sind und direkte Aktionen logischerweise oft das einzige Ausdrucksmittel für Missfallen sind, wird die Situation unberechenbarer und potentiell explosiv. Diese Gegebenheiten variieren von Land zu Land. In Indien beispielsweise ist jede Gewerkschaft laut einer örtlichen Quelle ein privates Unternehmen, mit der Aufgabe, Geld für seinen Unternehmer zu erwirtschaften. Es führt kein Weg daran vorbei, die dortigen Gewerkschaften und die Situation, unter der sie operieren müssen, zu verstehen. Es ist jedoch bemerkenswert, dass diese Gewerkschaften, sobald sei etwas an Legalität gewonnen haben, allem Anschein nach durch Kooption immer mehr jener Gewerkschaftsbewegung ähneln, welche noch für die Sowjetunion typisch war. Trifft das nicht auf die AFL-CIO (American Federation of Labour and Congress of Industrial Organisations) zu? Werden alle Gewerkschaften im zeitgenössischen Kapitalismus so enden?
Arbeiter werden sich immer organisieren, sofern sie eine Notwendigkeit dafür sehen und genügend Zusammenhalt und kollektive Stärke besitzen. Gewerkschaften sind nicht einfach irgendetwas vermeidbares, auch wenn wir es uns manchmal wünschten: sie sind etwas, dass uns der Kapitalismus aufzwingt. Konkret heißt das, dass der Kapitalismus uns in die Situation drängt, die Gewerkschaften erst notwendig macht. Solange wir unser Schicksal nicht in die eigenen Hände genommen haben, werden wir nicht ohne sie auskommen. Je mehr wir als ArbeiterInnen unorganisiert sind (die Mitgliedschaft in korporativen Gewerkschaftsform stellt dabei nur eine bestimmte Form der Unorganisiertheit dar, da sie größtenteils als Organisation der Passivität und der Teilung fungiert), umso mehr werden wir nur biegbares Material in den Händen des Gegners sein und letztlich allein durch die Logik des Kapitals regiert werden.
Der Arbeitsvertrag, kollektiv oder individuell, stellt bei seiner Eigentümlichkeit an sich ein Disziplinierungsinstrument dar, welches zum grundlegenden Bestandteil des Kapitalismus gehört. Das Unterschreiben eines solchen Vertrags beinhaltet eine grundsätzliche Anerkennung der Klassenbeziehungen. Er stellt die Voraussetzung für das Überleben eines Arbeiters dar und ist somit nicht einfach auf Basis individueller politischer Überzeugungen kündbar.
Als Lohnsklaven – entweder vorübergehend oder gar nicht beschäftigt, auf dem Weg einer zu werden oder bereits ausgestoßen – sind wir über die Funktionsweise des Kapitalismus miteinander verbunden. Diese Gemeinsamkeit ist allerdings nicht unumstößlich. Wir sind nicht das bloße Anhängsel des Kapitals. Seine Akzeptanz gilt nur unter Vorbehalt: in wilden Streiks und zahlreichen kleineren Sabotageakten und Blockaden, die täglich und an nahezu jedem Arbeitsplatz stattfinden, widersetzen wir uns zeitweilig. Es existiert eine Lücke in diesem Zusammenhang, die geweitet oder verengt werden kann und das bedeutet, dass der oben beschriebene Prozess umkehrbar ist. Alles andere wäre ja auch überraschend, denn es würde bedeuten, das die Gewerkschaftsstrukturen komplett unbeeinflusst von dem generellen Auf und Ab des Klassenkampfes wären. Das anarcho-syndikalistische Projekt setzt sich zum Ziel, die erzwungene Akzeptanz der Klassenbeziehungen immer mehr in Frage zu stellen, bis es zur endgültigen Explosion von Energien, Träumen, Gedanken und Wünschen kommt. Und zwar dann wenn die Bindungen an die kapitalistische Logik bröckeln, wenn Klassen abgeschafft sind und das freie Individuum als auch die kollektive Kreativmacht im Sinne einer gegenwärtigen als auch zukünftigen nicht-hierarchischen Gesellschaft agieren. Und das ohne die von Staat und Kapital auferlegten Fesseln.
Die Ablehung des Anarchosyndikalismus, die aus der Angst vor Kooptation entspringt, ähnelt dem Bild eines Seglers, der davor zurückschreckt, schwimmen zu lernen, weil er dadurch fürchtet, sein Leben in Gefahr zu bringen.
Bei dem Gedanken an eine Erneuerung des Anarchosyndikalismus erscheint der Umstand, dass es zu wenige Initiatoren und zu wenig langfristiges Engagement gibt, als Teufelskreis. Das hat zur Folge, dass es keine dauerhafte Organisation gibt, denen die ArbeiterInnen beitreten könnten, auch wenn sie wollten. Zwar sind erste Strukturen entstanden, die als gewerkschaftlich zu bezeichnen können, doch die Skepsis ist nach wie vor groß: „Grundsätzlich eine gute Sache, aber zu wenig Leute für eine Gewerkschaft. Wenn mehr ArbeiterInnen beitreten, würde ich mir es überlegen“. Genau in dieser Situation befindet sich die IWW heute, trotz ihrer historischen Bedeutung.
Andererseits kann eine Organisation ab einem bestimmten Punkt auch plötzlich schnell wachsen. Ähnliches kann passieren, wenn der Kern einer revolutionären Gewerkschaft an verschiedenen Plätzen in kurzer Zeit in Erscheinung tritt. Noch etwas ist zu sagen: Die Reaktionen, die einer Organisation entgegenschlagen, werden anders sein, wenn sie nicht als reine Propagandatruppe auftritt, die zukünftige Utopien skizziert anstatt im Hier und Jetzt tätig zu sein, sondern als gewerkschaftsbildende Organisation, die sich auf bestimmte Prinzipien beruft. Wenn du eine revolutionäre Gewerkschaft willst, musst du damit zu beginnen, Strukturen aufzubauen, die auch in einem kleinen Rahmen, im Hier und Jetzt das Prinzip der praktischen Solidarität umsetzen und in ihren Bestrebungen auch als funktional wahrgenommen wird.
Egal wie raffiniert die Methoden der Kooption auch sein mögen, die Stürme der Unzufriedenheit werden immer wehen. Um den Anarchosyndikalismus wieder aufleben zu lassen, müssen die Flammen von Unzufriedenheit und Respektlosigkeit gegenüber den Vorgesetzten entfacht werden. Aber es müssen auch Strukturen vorhanden sein, um diese Winde zu kanalisieren, ihnen ein verlängertes Leben einzuhauchen und ihnen eine Richtung zu geben, damit sie noch stärker werden. Unsere Aufgabe besteht darin, direkte Verbindungen zwischen den Arbeitern aufzubauen – auf lokaler Ebene, innerhalb der Grenzen eines Staates als auch auf globaler Ebene, von den Arbeitsplätzen hin zu den Kommunen in denen wir leben. Wir müssen Raum schaffen für kollektive Diskussionen, in denen von einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus geträumt werden kann.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist der Aufbau von revolutionär-gewerkschaftlichen Strukturen als Mittel zu betrachten, um den Traum von jener post-kapitalistischen Gesellschaft in die Arbeiterklasse zu transportieren. Dass dies zu einem Großteil innerhalb des Systems einer korporativen Gewerkschaftsbewegung geschehen kann, ist nur schwer vorstellbar. Die korporative Gewerkschaftsbewegung ist nicht im Stande sich zu reformieren. Sie muss dekonstruiert werden. Deswegen ist der offene Anarchosyndikalismus von entscheidender Bedeutung.
Ein offener Anarchosyndikalismus bedeutet, dass die Solidarität über die reine Mitgliedschaft hinausreicht: es geht um ein vernetztes Denken der arbeitenden Klasse auf einem Mikro- und Makrolevel und die Entwicklung solidarischer Bindungen, um den praktischen Zusammenhalt in den unterschiedlichsten Rängen, Reihen und Abteilungen der korporativen Gewerkschaften. Diese Gewerkschaftsprinzipien sind außerhalb der solidarischen Gewerkschaften bedeutungslos, denn nur dort geht es nicht um bloße Mitgliedszahlen, sondern um praktisch ausgeübte Solidarität. Der Arbeitsplatz ist zwar der Ausgangspunkt im Anarchosyndikalismus, doch es geht darüber hinaus. Andernfalls würde man nur der Logik des Kapitalismus folgen. Ein Beispiel für die „über den Arbeitsplatz hinausgehende Gewerkschaft“ sind die Kämpfe der CNT, die sich u.a. gegen die Schließung der Werften in Puerto Real, nahe Cadiz im Süden Spaniens, einsetzte, wo sich der Kampf auch auf umliegende Gemeinden ausweitete.
Die direkte Aktion im anarchistischen Sinne beinhaltet, die Mittel dem Zweck anzupassen und so eine Änderung der Welt auf kleinerem oder größerem Niveau zu bewirken. Wir nutzen unsere Macht über die Produktion, um dieses Ziel zu erreichen. Bescheidene Veränderungen in unserem Leben reichen uns nicht. Wir werden die eigene Fantasie wie auch die der Arbeiter befeuern. Wir werden stetig unsere Augen nach Potential offenhalten. Dies ist umso wichtiger, da der Kapitalismus sich selbst zum sozialen Faktor erhoben hat und unser alltägliches Leben in immer größerem Umfang durchdringt und durch seine exzessive Arbeitsteilung spaltet. Dadurch fällt es uns schwerer zu erkennen, dass wir eigentlich in der Lage wären eine andere Welt zu erschaffen.
Oft hört man, dass großformatig-revolutionäre Gewerkschaften zwar eine Lösung des Problems sein könnten, sie jedoch nie in der Lage sein würden, die gesamte Arbeiterklasse zu organisieren. Das trifft vermutlich zu. Es erscheint allerdings nicht sehr weise, diesen Gedanken auf der Grundlage einer reinen Gegenannahme zu führen. Eine Mitgliedschaft sollte niemals als Ende, sondern als Mittel angesehen werden. Es kann nur ein Ende geben: eine umfassende, globale Gesellschaftsform, die frei von Grenzen, Klassen, Hierarchien und Staaten ist und so weit wie möglich im Hier und Jetzt verwirklicht werden kann. Aber dafür müssen wir einen Zusammenhalt zwischen den Arbeitern aufbauen. Bereits vorhandene Anknüpfungspunkte werden wir gerne mit anderen teilen und ausbauen, jedoch nur auf Basis einer praktischen, nicht-hierarchischen Solidarität.
Anarcho-Syndicalist Review Nr.22 (1997): Originaltext ist zu finden unter: syndicalist.us/2013/10/23/anarcho-syndicalism-a-historical-closed-door-or-not/
Interview mit Torsten Bewernitz und Gabriel Kuhn.
Der revolutionäre Syndikalismus, wie wir ihn kennen, gehört vielleicht der Vergangenheit an. Damit er überleben…
Rezension zum Buch der Sanktionsfrei e.V. Gründerinnen über Bürgergeld, Armut und Reichtum.
Arbeits- und Klimakämpfe verbinden - zum neuen Buch von Simon Schaupp und dem Film Verkehrswendestadt…
Alter Chauvinismus oder die Kehrtwende in eine neue Fürsorglichkeit.
Rezension zu „Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut“
Leave a Comment