In Marseille werden Stadtumbau und soziale Verdrängung in großem Stil konzipiert. Das stößt auf wenig Gegenliebe und vielfach auch auf Widerstand
Marseille, das klingt! Nach dem goldtriefenden Licht der ImpressionistInnen und exotischen Gewürzen für die einen. Nach einer stolzen Gewerkschaftstradition im Hafen und frech lärmenden Straßen für die anderen. Wieder anderen drängt sich der Gedanke an Mafiastrukturen und die „French Connection“ auf – in den 60er Jahren durchliefen weit mehr als 50% des in den USA verkauften Heroins den Hafen, der Frankreichs größter und der viertgrößte in Europa ist. Zuletzt machte Marseille immer wieder mit Schießereien Schlagzeilen, denen allein 2013 15 Menschen zum Opfer fielen, darunter auch der Sohn des Sportdirektors des Fußballclubs Olympique Marseille. Am abscheulichsten aber war sicherlich die Ermordung eines Beschäftigten der Abfallwirtschaft, der Anfang September vor den Augen seiner KollegInnen hingerichtet wurde – die Hintergründe sind weiterhin unklar.
Die Vorstellungen, die Marseille hervorruft, changieren also zwischen dolce far niente, dem süßen Müßiggang, und modernen Industrie- und Hafenanlagen, zwischen fauler Idylle, schmutziger Produktion und organisierter Kriminalität. Dieses schlechte Image will man abschütteln. Nach dem Willen der kommunal regierenden Konservativen soll dazu auch der Umstand dienen, dass die Mittelmeermetropole 2013 – neben dem slowakischen Kosice – den Titel der Kulturhauptstadt Europas trägt. Nicht zuletzt wird so der Tourismus angekurbelt: Mit der Saison 2013 und ihren sechs Millionen Gästen, ein Zuwachs von 33% gegenüber 2012, zeigt man sich zufrieden.
Das Projekt „Marseille 2013“ war Anlass für umfangreiche Baumaßnahmen im Stadtzentrum; eine treffliche Ergänzung für das Projekt „Euroméditerranée“. Denn anders als in Metropolen wie Paris oder Lyon, deren proletarische Hochhausviertel an den Stadträndern liegen, sind in Marseille die Innenstadtviertel von einer armen, migrantischen Bevölkerung geprägt. Es gibt jedoch auch die typischen Banlieues, jene architektonische Verbrechen der 60er und 70er Jahre, die weiter „draußen“ liegen: im Norden, im Hinterland des Hafens und südlich der großflächigen Industriegebiete vor den Toren der Stadt. Die gutbürgerlichen Viertel befinden sich südlich des Alten Hafens, der auch politisch als Äquator dient zwischen linken Mehrheiten im Norden und rechten im Süden. Erklärtes Ziel von Euroméditerranée ist es, die Nordstadt zu modernisieren und die Bevölkerung quasi auszuwechseln. Der Marseiller Historiker dell’Umbria zitiert den Bürgermeister für Stadtentwicklung mit folgenden Worten (2003): „Wir brauchen Leute, die Reichtum schaffen. Wir müssen die Hälfte der Einwohner loswerden. Das Stadtzentrum verdient anderes“, besseres. Dieser brutale, technokratische Blick auf Marseille reicht weit in die Geschichte zurück. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg hatte es Pläne gegeben, das Stadtzentrum für eine respektable, kaufkräftige Bevölkerung zu erobern.
Auf den ersten Blick scheint es, als würde dies nun gelingen: Allein für den Bau des neu eröffneten MUCEM (Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers) am Eingang des Alten Hafens wurden 167 Millionen Euro ausgegeben. Die Verkehrsführung am Hafen wurde für FußgängerInnen, lies: für TouristInnen, umgestaltet; zur Steigerung des Sicherheitsgefühls wurde ein flächendeckendes Netz der Videoüberwachung installiert. Dies geschah im Zuge von „Marseille 2013“.
Das Projekt „Euroméditerranée“ ist verantwortlich für die Sanierung der Rue de la République, die Ende des 19. Jahrhunderts nach dem Vorbild der breiten Pariser Boulevards – als praktische Vorkehrung gegen revolutionäre Barrikadenkämpfe – vom Alten Hafen zu den neuen Hafenanlagen bei La Joliette geschlagen wurde. Teil der Sanierung ist auch der Bau des Büroturms der Großreederei CMA-CGM und ein High-End-Wohnkomplex namens Terrasses du Port; beide in unmittelbarer Nachbarschaft von La Joliette, wo die Hafenlager längst in einen Bürokomplex umgebaut wurden.
So sehr der Stadtumbau auf Tourismus und Dienstleistungen ausgerichtet ist, so sehr die Industrie und ihre Streiks über die Stadtgrenzen hinaus in die nördlichen Industriegebiete gedrängt wurden, so stellt etwa die Verkehrsberuhigung am Alten Hafen auch für die BewohnerInnen von Marseille einen Zugewinn dar, der durchaus gewürdigt wird.
Die soziale Rücksichtslosigkeit der Stadtplanenden ruft aber natürlich Widerstand in der ville rebelle, der rebellischen Stadt, hervor. Zumal noch kein Ende abzusehen ist: „Euroméditerranée“ greift weiter nach Norden aus, bis in das Industrieviertel Arenc, wo sich auch der größte maghrebinische Markt der Stadt befindet. Bei einem Rundgang mit AktivistInnen des Komitees „On se laissera pas faire“ machen sie auf jede Menge leerstehender Wohnhäuser und Fabrikgebäude aufmerksam: vor der Aufwertung die Entwertung. Auch der in Arenc gelegene Marseiller Güterbahnhof ist bereits verkauft und soll zum Park umgestaltet werden. Das Komitee konzentriert sich auf die Aufklärung der örtlichen Bevölkerung, die größtenteils aus Erwerbslosen, Papierlosen und kleinen Gewerbetreibenden besteht; und in einigen Häusern halten einzelne alteingesessene MieterInnen die Stellung. Denn klar ist: Die Modernisierung ist nicht für sie bestimmt. Der im Komitee aktive Regisseur Claude Hirsch glaubt zwar nicht, dass man den Stadtumbau und die Vertreibung verhindern, vielleicht aber verzögern kann.
Literaturhinweise: Vertiefend zur Stadtgeschichte empfiehlt sich Günter Liehrs Marseille. Porträt einer widerspenstigen Stadt, Zürich 2013, 29,90 Euro. Ausführungen zur historischen und aktuellen Stadtplanung in Marseille finden sich auch in der Broschüre von Alèssi dell’Umbria, Die Commune von Marseille. Internationalisten und Föderalisten im Aufstand 1870/71, Moers 2013, 3 Euro.
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