Der finnische Graphic-Novel Autor Ville Tietäväinen im Gespräch über sein Buch „Unsichtbare Hände“
Zuerst habe ich mich eine Weile abstrakt in Finnland mit dem Thema beschäftigt, also Artikel in finnischen Zeitungen gesucht und mich mit gewerkschaftlich oder anderweitig aktiven Menschen getroffen. Der maßgebliche Türöffner für die konkretere Recherche und Arbeit an „Unsichtbare Hände“ war schließlich Marko Juntunen, ein finnischer Sozialwissenschaftler und Publizist. Er hatte sich speziell mit den verschiedenen Aspekten der Migration aus Nordafrika beschäftigt, also auch mit der familiären und kulturellen Ausgangslage in den Heimatorten der Menschen. Juntunen machte mir klar, dass ich selbst dorthin reisen musste. Ich wollte die Figuren meiner Geschichte ja nicht als bloße Objekte europäischer Migrations- und Wirtschaftspolitik beschreiben, sondern Verhältnisse wie Einsamkeit, Hoffnung, Angst, Verzweiflung, Wut tatsächlich aus einer nachvollziehbaren Perspektive darstellen. Juntunen hat mich auch als Übersetzter und Kontaktmann nach Marokko begleitet. Das war der Auftakt für die nähere Arbeit an dem Buch.
Was ist Dir in Marokko begegnet?
In den Dörfern, die wir besuchten, zeigte sich, dass wirklich jede Familie eine Migrationsgeschichte in die EU hatte – entweder waren einige selbst dort schon gewesen und waren ausgewiesen worden oder Familienangehörige waren gerade dort – und es gab auch die Geschichten von Todesfällen beim Versuch, in die EU zu gelangen. Das Ausmaß des Themas Arbeitsmigration in die EU für die marokkanische Gesellschaft ist mir dort erst richtig klar geworden. Noch wichtiger für die Entstehung des Buches aber war, dass uns die Familien an ihrem von Traditionen stark beeinflussten Leben und an ihrer Spiritualität, die ich von bloßer Religiosität unterscheiden würde, teilhaben ließen. Auf dieser Basis habe ich versucht, mir die unendlich vielen und tiefen Konflikte zu erschließen, die die Menschen in ihrem Innersten austragen müssen, wenn sie aus dem Rhythmus des engen kollektiven Lebens in ihrer Heimat austreten und unter schwersten Bedingungen versuchen, sich ganz allein in Europa zu behaupten. Das erforderte eine lange ständige Auseinandersetzung, immerhin bin ich selbst so gut wie gar nicht religiös und überhaupt nicht spirituell sozialisiert worden.
2005 und 2006 bin ich nach Almeria in Spanien gereist und habe dort innerhalb der Maghreb-Community recherchiert. Dort wird ein Großteil des Gemüses und des Obstes, das in den Supermärkten der EU zu Schleuderpreisen verkauft wird, produziert. Dabei habe ich nicht nur die Arbeitsbedingungen in den Gewächshäusern dokumentiert, also das unglaublich harte Schuften in der unerträglichen Hitze, die miserable Bezahlung der Papierlosen, denen ihr Lohn häufig genug ganz vorenthalten wird.
Ich habe auch erleben müssen, wie die Behörden die Situation der Menschen noch weiter verschlechterten, indem sie ihre Unterkünfte räumten und ihnen jede Möglichkeit auf Kollektivität und Organisierung nahmen – wodurch sie zum einen den BetreiberInnen der Gewächshäuser noch schutzloser ausgeliefert waren, zum anderen sich aber ihre psychische Verfassung dramatisch verschlechterte. Sie lebten als Obdachlose oder in kaputten Gewächshäusern, irgendwo auf den Feldern weit weg von den Ortschaften. Bei meinem ersten Besuch waren die Menschen, die wir trafen, noch einigermaßen offen, uns ihre Geschichten zu erzählen – doch mit zunehmender Repression seitens des spanischen Staates merkten wir, wie nicht nur das Misstrauen uns gegenüber zunahm, sondern die betroffenen Menschen allgemein immer weniger überhaupt kontaktfähig waren. Obwohl ich durch meine Recherche natürlich auf vieles vorbereitet war, war das die niederschmetterndste Erfahrung: Wie diese Menschen, die für ihre Familien und für ein besseres Leben das Wagnis Europa eingegangen waren, durch das Verhalten der Unternehmen und des Staates von ihrer Menschlichkeit entfremdet wurden.
Genau, die Stadt erschien mir für das Finale prädestiniert, und tatsächlich ist sie für viele Menschen, die es in den Gewächshäusern nicht mehr aushalten oder von dort vertrieben werden, die letzte Chance, oder wie im Fall von Rashid die letzte Station. In Barcelona lässt sich die Präsenz der Papierlosen, der Illegalisierten nicht kaschieren, die Stadt ist maßgeblich von dieser Situation geprägt. An vielen Orten findet ein notdürftiges Squatting statt, nicht von jungen linken Aktivistinnen und Aktivisten, sondern von Papierlosen, die sich zufällig zusammenfinden. Ihre Lage verdammt sie dazu, jede Möglichkeit zum Geldverdienen wahrzunehmen, sei sie noch so prekär und noch so gefährlich. Sie bilden eine urbane Unterschicht im Schwebezustand, zwischen Aufbruch, Vertreibung, Verteidigung und Aufgabe. Sowohl in der Person Rashids wie auch seinem Ende, das auf höchst zynische Weise auch als ein „Gutes“ gesehen werden kann, habe ich diese verschiedenen Verhältnisse und die vielen Biographien, denen ich in den insgesamt sieben Jahren der Arbeit an „Unsichtbare Hände“ begegnet bin, zu verdichten versucht.
Lieber Ville, vielen Dank für dieses Interview
Siehe auch die Kurzrezension zum Graphic Novel „Unsichtbare Hände“.
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