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Taksim – eine unabgeschlossene Geschichte

Deniz Yücel, taz-Redakteur und Interpret der „Hate Poetry“-Lesungen, spricht im DA-Interview über sein neu erschienenes Buch „Taksim ist überall. Die Gezi-Proteste und die Zukunft der Türkei“

Lieber Deniz, das Erscheinungsdatum deines Buches hätte günstiger ja kaum terminiert werden können, hat sich die AKP-Regierung doch im Frühjahr 2014 wieder durch Musterbeispiele für autoritären Populismus ausgezeichnet – und auch die jüngsten Krisen allem Anschein nach wieder unbeschadet überstanden. Beißen sich die verschiedenen oppositionellen Gruppen an Erdogan die Zähne aus?

A Hund is er scho, würde man in Bayern sagen. Erdogan ist inzwischen ein psychopathologischer Fall. Und er hat gezeigt, dass ihm zum Erhalt der Macht jedes Mittel recht ist, bis hin zur Bürgerkriegsdrohung. Dennoch glaub ich, dass seine Zeit abgelaufen ist. Wenn er Twitter sperren lässt, aber gleich danach nicht nur Millionen Gegner der AKP auf Twitter protestieren, sondern auch seine eigenen Fans die Twitter-Sperre unterlaufen, um auf Twitter eine Kampagne für die Sperre von Twitter zu starten, dann zeigt dies, dass die türkische Gesellschaft im Ganzen eigentlich weiter ist, als sich von einem autoritären Führer alles vorschreiben zu lassen. Langfristig bin ich zuversichtlich. Kurzfristig hingegen kann es noch richtig unangenehm werden. Denn die Frage ist nicht, ob Erdogan fallen wird, die Frage ist vielmehr, was er im Fallen niederreißt. Zwei Folgen seines Niedergangs zeigen sich schon jetzt: Zum einen ist der demokratische Fortschritt, zu dem die AKP in ihren ersten Regierungsjahren beigetragen hat, wieder einkassiert. Zum anderen ist die türkische Gesellschaft heute so polarisiert wie zuletzt vor dem Putsch von 1980.

Aber Erdogan hat die Wahl doch gewonnen.

Kurz nach dem Pariser Mai haben die Gaullisten die Parlamentswahl gewonnen. „Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran“, haben die Hausbesetzer in Deutschland gesungen – ein Jahr später wurde Kohl gewählt. Gesellschaftlicher Wandel drückt sich nicht immer und schon gar nicht immer sofort in Wahlergebnissen aus. In meinem Buch sagt der Bestsellerautor Ahmet Ümit, dass die Linke immer, wenn sie irgendwo die politische Macht übernommen habe, es vermasselt. Die Linke solle darum weniger um die Macht als um kulturelle Hegemonie kämpfen. Und für diesen Kampf war Gezi ein großer Schritt nach vorn.

In „Taksim ist überall“ kommen ja sehr unterschiedliche Geschichten und Gespräche zusammen, und du gibst dabei auch deiner Subjektivität viel Raum – ist das Geschehen noch zu unabgeschlossen, als dass es nüchtern historisch eingeordnet werden könnte?

Natürlich. Um es gebildet, also mit Hegel auszudrücken: Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug. Das heißt: Man kann ein gesellschaftliches Phänomen erst erklären, wenn es Geschichte ist. Deswegen habe ich in meinem Buch versucht, die vielen Vorgeschichten des Gezi-Aufstands zu erzählen: Warum ist ein Viertel wie Gazi so aufrührerisch? Warum gärte es in Antakya schon vor Beginn des Gezi-Aufstands? Was ist beim letzten Heimspiel von Besiktas im alten Stadion passiert? Welche Erfahrungen haben Film- und Fernsehleute oder die jungen Digital Natives mit dieser Regierung gemacht? Diese Geschichten, die teilweise tief in die türkische Geschichte reichen, teilweise unmittelbar dem Gezi-Aufstand vorausgingen, habe ich zusammengetragen.

Warum?

Um zu zeigen, wie es dazu kam, dass Menschen aus ganz unterschiedlichen Milieus an einem Punkt zusammenfanden. Ein Student von der Technischen Universität in Ankara sagt in meinem Buch: „Der Geist von Gezi wird meine Generation, vielleicht unser Leben lang, begleiten, und wie er sich auf die Gesellschaft auswirkt, werden wir erst in vielen Jahren sehen. Nur dieser besondere Moment von Gezi, der wird nicht wiederkommen.“

Gibt es unter den verschiedenen beteiligten Gruppen auch so was wie einen Kampf um die Deutungshoheit über die Gezi-Proteste?

Klar, wie sollte es bei einer Bewegung anders sein, an der sich Liberale und SozialistInnen beteiligt haben, türkische NationalistInnen – sogar AnhängerInnen der Grauen Wölfe – und AnhängerInnen der kurdischen Bewegung? Dieser Kampf um Deutung begann schon während der Proteste und wurde seither stärker. Eine Frage, die dabei ganz zentral ist: Ging es bei Gezi um die Verteidigung der kemalistischen Republik oder um die Überwindung des alten Dualismus von Kemalismus und politischem Islam? Aber vielleicht gibt es auch Dinge dazwischen. Vielleicht wird man eines Tages von Gezi sagen können, dass dies ein Aufstand zur Demokratisierung des Kemalismus war.

Das klingt nach der Zukunft. Wie ist die Gegenwart?

Die AKP-Regierung hat Gezi zum einen als Werk ausländischer, gerne auch jüdischer ProvokateurInnen dargestellt, zum anderen als Putschversuch der alten Eliten und der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP. Deren Mitglieder haben sich tatsächlich an den Protesten beteiligt, ihre lokalen BürgermeisterInnen haben vielerorts tatkräftige Unterstützung geleistet – im Gezi-Park haben die BesetzerInnen mit rührender Hingabe ihren Müll aufgesammelt, entsorgt hat den Müll aber die Müllabfuhr des von der CHP-regierten Nachbarbezirks Sisli. Allerdings haben sich die CHP-Leute während der Proteste mit Parteifahnen zurückhalten. „Wir wollten es der Regierung nicht zu leicht machen, den Aufstand als Intrige der CHP darzustellen“, sagt ein junger CHP-Aktivist in meinem Buch. Seit sich die Tränengasschwaden verzogen haben, ist das anders. Es gibt inzwischen Leute, die der CHP vorwerfen, sie würde versuchen, die Proteste nachträglich zu kapern. Ich bin mir aber nicht sicher, ob die CHP dies wirklich will, und bin mir ziemlich sicher, dass dies nicht gelingen kann.

Was macht dich so sicher?

Gezi war zu groß, als dass die CHP das komplett vereinnahmen könnte. Es gibt einfach zu viele Menschen, die sagen können: „Ich war auch ein Teil von Gezi, aber ich bin nicht CHP.“

Auf dem Klappentext des Buches ist auch von einem „Sittengemälde“ der Türkei die Rede. Haben die Gezi-Proteste eine neue Protestkultur in der Türkei verankern können?

Der Klappentext ist ein Auszug aus dem subjektiven Schlussteil. Das Wort „Sittengemälde“ stand in einem frühen Werbetext, der womöglich irgendwo noch herumschwirrt. Ich mag das Wort nicht, weil schon so viele „Sittengemälde“ gemalt und geschrieben wurden, dass sie nicht einmal in die Wohnung eines Münchner Kunsthändlers passen würden.

Na gut. Aber was ist mit der Protestkultur?

Die hat sich, da bin ich mir sicher, verändert. Gezi war ja nicht nur ein Aufstand gegen die Regierung, sondern – das wird in meinem Buch an vielen Stellen deutlich – auch ein Aufstand gegen die Opposition, gegen die parlamentarische wie gegen die außerparlamentarische. Gegen den Dogmatismus, der in nahezu allen organisierten Gruppen herrscht, den SozialistInnen wie den AnarchistInnen, die Freudlosigkeit, die Engstirnigkeit, das SektiererInnentum. Von CHP-Leuten hört man hin und wieder, dass sie diesen Charakter von Gezi verstanden haben. Von den radikalen Gruppen ist diese Erkenntnis nicht so leicht zu hören. Aber auch sie haben die subversive Kraft des Humors erkannt. Ein anderes Feld: Das Internet. Ohne Twitter kein Aufstand, auch das wissen jetzt alle.

Die 2010er scheinen allgemein von denkwürdigen Protestbewegungen geprägt zu sein – wir erlebten in wenigen Jahren den arabischen Frühling, die Massenproteste in Brasilien im Zuge der Fußball-WM, die Gezi-Proteste und nun den Kiewer Maidan. Linke und gewerkschaftliche Bewegungen sind unter dem Strich dabei eher in die Defensive denn wirklich voran gekommen. Trifft diese Einschätzung auch für Istanbul speziell und die Türkei allgemein zu?

Es ist schwierig, auf dem knappen Platz so generalisierende Antworten zu geben. Deshalb bleibe ich mal da, wo ich mich am besten auskenne, nämlich in der Türkei: Trotz des Wirtschaftsbooms der vergangenen Jahre arbeiten in der Türkei 5,5 Millionen Menschen für den gesetzlichen Mindestlohn von etwa 360 Euro brutto. Es gäbe also hinreichend soziale Gründe, um aufzubegehren. Aber Gezi war keine Brotrevolte. Im Wesentlichen war es der Aufstand einer gebildeten, säkularen, urbanen Mittelschicht. Das heißt jedoch nicht, dass sich nicht auch Leute aus den ärmeren Schichten am Aufstand beteiligt hätten. Doch sie taten es aus anderen Gründen als SozialistInnen, AlevitInnen, Fußballfans, Frauen, was auch immer. Die Gewerkschaften spielen in meinem Buch darum auch nur im historischen Teil eine Rolle, wo ich die Geschichte des Taksim-Platzes erzähle. Die beginnt ja nicht erst mit Gezi.

Taksim ist überall. Die Gezi-Bewegung und die Zukunft der Türkei von Deniz Yücel ist im März 2014 bei Edition Nautilus erschienen. Die sich wandelnde türkische Gesellschaft ist Thema dieses Buches. Entlang ausgewählter und für die Protestbewegung bedeutender Schauplätze werden Menschen aus verschiedenen Milieus vorgestellt, die aus unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Gründen gegen die AKP aufbegehren.

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Die Redaktion der Direkten Aktion.

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