Eine karge, kalte und trostlose Felsenlandschaft in Nordchina. Vor einem genauso karg, kalt und trostlos aussehenden Gebäude, das zu einem Förderturm führt, stehen Bergarbeiter und rauchen eine letzte Zigarette, bevor sie in die Kohlemine hinabfahren. Die gleißende Helligkeit des winterlichen Tageslichts weicht schon bald allumfassender Dunkelheit, in der lediglich die flackernden Grubenlampen Licht spenden. Was anfangs, vor Einblendung des Filmtitels, aussieht wie eine Reportage über chinesische MinenarbeiterInnen und die schlechten Arbeitsbedingungen in den Bergwerken, wird bald schon zum tiefschwarzen Krimi.
Im Norden Chinas herrsche an allem ein Mangel, so einer der Minenbesitzer im Laufe des Films, außer an Menschen
Weit weg von ihren Heimatdörfern und ihren Familien ziehen Song Jinming (Li Yixiang) und Tang Zhaoyang (Wang Shuangbao) als Wanderarbeiter von Bergwerk zu Bergwerk. Um ihren Lohn aufzubessern, haben die beiden eine mörderische Geschäftsidee entwickelt:
Sie rekrutieren und ermorden naive junge Männer, die auf Arbeitssuche sind, indem sie ihnen erzählen, dass sie drei lukrative Jobs im Bergwerk an der Hand hätten, für sich und einen Verwandten. Dieser sei jedoch leider noch nicht eingetroffen, so dass ein Platz frei wäre. Also könnten sie den Arbeitsplatz nun anbieten, einzige Bedingung: Die Opfer müssen sich als der vermisste Familienangehörige ausgeben. Nach einigen Tagen Arbeit in der Mine erschlagen sie ihre Opfer und bringen danach den Stollen zum Einsturz, um das Ganze nach einem Unglück aussehen zu lassen. Von den Besitzern der Mine fordern sie anschließend eine Entschädigung für den Tod ihres „Familienangehörigen“, sonst würden sie den Vorfall bei den Behörden melden. Da viele Bergwerke am Rande der Legalität arbeiten und die Sicherheitsstandards nicht einhalten, haben die beiden damit ein leichtes Spiel. Schweigegeld zu zahlen ist schließlich allemal billiger als eine offizielle Untersuchung zu riskieren oder die Erpresser umbringen zu lassen. Zu Beginn des Filmes sehen wir die beiden mit ihrem aktuellen Opfer, Tangs angeblichem Bruder Chaolu, den sie völlig ungerührt mitten in einem „freundschaftlichen“ Gespräch im Stollen mit der Spitzhacke erschlagen.
Li Yangs Film wirft ein Schlaglicht auf das heutige China und zeigt exemplarisch seinen brutalen Wandel in eine kapitalistische Gesellschaft. In diesem in „Blinder Schacht“ aufgezeigten Klima sind keine persönlichen Bindungen oder gar Freundschaften möglich. „Blinder Schacht“, der in Deutschland koproduziert wurde, hat bei der Berlinale 2003 einen Silbernen Bären gewonnen, in China wurde er verboten.
„Doch leider sind auf diesem Sterne eben Die Mittel kärglich und die Menschen roh.Wer möchte nicht in Fried und Eintracht leben? Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so!“ (Dreigroschenoper/Brecht)
Nachdem die beiden das Geld kassiert und an ihre Familien geschickt haben, machen sie sich auf die Suche nach dem nächsten „Verwandten“. Am Bahnhof entdecken sie ein potenzielles Opfer, Yuan (Wang Baoqiang), einen 16-jährigen Jungen vom Lande, der auf Arbeitssuche ist, um sich das Geld für eine weiterführende Schule zu verdienen. Song hat in diesem Falle Bedenken, nur äußerst widerwillig stimmt er dem Mordplan zu: Yuan könnte sein Sohn sein. Aber Tangs Argument – „tötest du ihn nicht, kannst du deinen Sohn nicht auf die Schule schicken, und er wird werden wie er und schuften müssen“ – kann Song nichts entgegensetzen. Yuan folgt seinen „Onkels“ arg- und ahnungslos in die schmutzige, vom Minenbesitzer zur Verfügung gestellte Unterkunft, in der die Lebensmittel an der Decke befestigt werden müssen, damit sie nicht von Ratten gefressen werden, und an der die Wände notdürftig mit Zeitungspapier als Tapete überklebt sind. Das Mordkomplott zieht sich in die Länge, Song hat Mitleid mit dem Jungen und will ihm zumindest noch einige schöne Tage bescheren. Tang ist einverstanden, und so nehmen sich die beiden „Onkels“ ihres Neffen an. In den folgenden Sequenzen erhalten wir einen fast schon dokumentarischen Eindruck vom Leben in den Provinzstädten des Nordens, in das Li Yang seine Protagonisten eintauchen lässt. Song und Tang gehen mit Yuan essen, ins Badehaus und schließlich ins Bordell, weil er nicht sterben soll, ohne zumindest einmal Sex gehabt zu haben.
Zurück im Bergwerk geht es ein letztes Mal hinab in den Schacht, wo Songs weiches Herz dem Mörderpaar zum Verhängnis wird. Zum Schluss wird eine Leiche in den Verbrennungsofen geschoben, Rauch kommt aus dem Schornstein des Krematoriums. Yuan ist davongekommen und zieht weiter.
Blinder SchachtHongkong / China / Deutschland 2002 Originaltitel: Mang Jing / Blind Shaft Regie: Li Yang – Darsteller: Li Yixiang, Wang Shuangbao, Wang Baoqiang, An Jing, Bao Zhenjiang, Sun Wei, Wang Yining, Zhao Junzhi, Liu Zhenqi, Zhang Lulu – Länge: 92 min.