Max Weber definierte „Herrschaft“ als die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts Gehorsam zu finden. Auch Erziehung ist herrschaftlich, indem sie auf Normierung zielt und F olgsam keit erwartet. „Fass nicht in den Toaster“, „Trag beim Fahrradfahren einen Helm!“, so lauten Aufforderungen an Kinder, die an Folgsamkeit appellieren. Auch wenn sie gut gemeint sind: Befehle und Herrschaftsfreiheit, also Erziehung und Anarchismus schließen sich aus. Sollten nun alle, die nach Herrschaftsfreiheit streben, ihre Kinder vor Autos laufen lassen? Mit dieser Frage sind wir mitten drin im Dilemma der auf Herrschaftslosigkeit zielenden Praxis, denn unsere Umwelt entspricht den Kindern nicht, hat keinen Schonbezug, keinen Ausschalter, kaum Wattepolster und offenbar ziemlich wenige Schutzengel. Und so kommt auch ein anarchistischer Ansatz nicht umhin, einzugreifen in die Situationen und Entwicklungsphasen unserer Kinder. Als Vater laufe ich meinen Ansprüchen an herrschaftsfreie Kommunikation ständig zuwider, dabei wollte ich eigentlich nur ein Begleiter sein. Würde ich meine Kläglichkeiten auf einen Haufen werfen, ließe sich darauf eine Terrasse bauen (mit Aussicht!). Widersprüche lauern überall, auch weil wir in einer kapitalistischen Gesellschaft leben, da gilt der Satz aus Adornos „Minima Moralia“: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“.
Als Anarchist_innen und Syndikalist_innen sind wir bemüht, unsere Kinder vor kapitalis tischen Manipulationen zu bewahren, was kaum gelingt, weil die schöne Welt der Waren mit Angeboten lockt, die Jugendlichen auf die Schnelle eine strahlende Persönlichkeit verheißen. Das Marketing wirkt, kapitalistische Werte wie Konkurrenz und Leistungsstreben werden verinnerlicht und für selbstverständlicher gehalten als Solidarität und Selbstdenken. Kapitalistische Subjektivierung zielt darauf, für den Kapitalismus verwertbare und sich freiwillig unterwerfende Persönlichkeiten zu erzeugen, die das Bestehende konsumieren, nicht aber eigenständig gestalten. Wir dagegen wollen unsere Kinder nicht zu warenförmigen Subjekten verkommen lassen, die ihren Lebenssinn im Konsum ‚angesagter’ Smartphones und Markenprodukte entdecken, sondern wir nehmen Einfluss, sei es, dass wir als Eltern kritische Diskussionsanreize schaffen oder ganz direkt, indem wir argumentativ Stellung beziehen. Allerdings lässt sich diese Einflussnahme ebenfalls als hierarchisch verstehen, denn wir spielen uns als Erwachsene aus, bringen (unbewusst) ein ‚Mehr’ an Wissen und unsere Kommunikationsfähigkeit zur Geltung. Andererseits können wir gewiss sein: Wenn wir keinen Einfluss ausüben, macht es die kapitalistische Gesellschaft. Angesichts des klaffenden Widerspruchs zwischen dem Anspruch auf Intervention und dem Anspruch auf Herrschaftsfreiheit scheint es tatsächlich kein richtiges Leben im falschen zu geben. Trotzdem können wir immer neu beginnen, bei uns selbst und im Umgang mit unseren Kindern: mit der Stärkung einer kritischen Sicht auf die Gesellschaft, aber ebenso mit dem Aufbau von Solidarität statt Konkurrenz, mit der Förderung von Selbstorganisation aber auch Verantwortlichkeit fürs Lebenskollektiv, mit der Verbreitung emanzipativer und entscheidungsoffener Räume, in denen selbstbestimmtes Lernen praktiziert wird, und mit jeder Unterstützung von Selbstdenken und Autonomie. Es gibt kein richtiges Leben im falschen, doch vielleicht können wir es schaffen, nicht alles völlig falsch zu machen.
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