Was dem Neoliberalismus Pinochets Chile war, ist dem Islamismus der Sudan – seit 2011 auch in Hinblick auf das Verhältnis zum Westen
Mit der Anerkennung eines unabhängigen Südsudan 2011 hat die sudanesische Diktatur unter Präsident Umar Hasan Ahmad al-Baschir ihre mehr als 20-jährige internationale Isolation durchbrochen. Eine Abkehr von der extrem an der Sharia ausgerichteten Rechtsprechung, von der Verfolgung von Oppositionellen oder der Unterdrückung von Gewerkschaften ging damit freilich nicht einher.
Im Gegenteil: Durch die von Amnesty International vorangetriebene Empörung über das Todesurteil für die schwangere Meriam Yehya Ibrahim wurde die plötzliche Legitimierung des Regimes in Khartum seitens westlicher Regierungen als diplomatischer Willkürakt bloß gestellt. Meriam sollte wegen ihrer Konvertierung zum Christentum (der Religion des Vaters ihres Kindes) laut einer ordentlichen Gerichtsentscheidung dieses Jahr zu Tode gesteinigt werden. Dank der internationalen Skandalisierung des Falles wurde das Urteil in lebenslange Haft umgeändert. Neben der Etablierung einer solchen Rechtsprechung schreitet der sudanesische Staat zudem bei den bewaffneten Konflikten zwischen ethnischen und religiösen Gruppen nicht ein, um ein Blutvergießen zu verhindern, obwohl die hochgerüsteten und gut ausgebildeten Streitkräfte dazu durchaus in der Lage wären. Vielmehr erfüllen die fundamentalistischen arabischen Kämpfer, die in ihrem Terror zum Teil ganze Dörfer entvölkern, die Funktion des Fußvolkes der Staatsideologie, ohne dass sich der Staat selbst die Hände schmutzig machen muss. Der Verlust des enorm rohstoffreichen Südens ist eigentlich eine politische und ökonomische Katastrophe für die seit 1989 bestehende islamistische Diktatur, die damit eine historische Niederlage in der langen Geschichte sudanesischer Despotien erlitt – seit 1955 hatten Sudans Machthaber immer für den Bestand des Gesamtsudans gegen die Rebellen aus dem Süden gekämpft. Bevor aus dieser Niederlage eine Gefahr für das Regime in Form einer breiten regierungskritischen Bewegung – gerade im Hinblick auf den „arabischen Frühling“ – entstehen konnte, brachen aus den staatlich privilegierten sozialen Gruppen heraus rassistische und religiös-fundamentalistische Gewaltakte gegen Marginalisierte los: vor allem nicht arabische, d.h. schwarze Sudanesinnen und Sudanesen sowie allgemein Menschen, die nicht streng nach der Sharia leben, wurden Opfer von Pogromen, Anschlägen und paramilitärischen Angriffen.
Wie für viele der schlimmsten Orte islamistischen Terrors der heutigen Zeit – etwa Jemen, Somalia oder Afghanistan – gilt auch für den Sudan, dass der Islamismus historisch gesehen eine im ursprünglichen Sinne des Wortes reaktionäre Bewegung ist. So gab es in jenen Ländern ebenso wie im Sudan in den sechziger und siebziger Jahren starke sozialistisch orientierte Bewegungen, die sich je nach Ort auf ein breites säkulares oder ein religiös-liberales Milieu stützen konnten. Gesellschaftlicher Fortschritt bedeutete für diese Bewegungen sowohl die Überwindung des Wirtschaftsmodells der ehemaligen Kolonialherren – sprich des Kapitalismus – als auch jener islamischer Traditionen, die jahrzehnte- bis jahrhundertelang die Unterwürfigkeit gegenüber eben diesen Machthabern befördert hatten.
Während das heutige Partymekka Barcelona von 1939 bis 1975 ein trostloser Ort katholischen Spießertums und faschistischer Unterdrückung war, waren Khartum, Mogadischu und Kabul in den späten Sechzigern und frühen Siebzigern Orte ausgesprochener Liberalität, Diversität, sozialen Aufbruchs und politischer Teilhabe. In der Logik des Kalten Krieges aber konnte die Sowjetunion der Versuchung nicht widerstehen, einige Gruppen aus diesen Bewegungen finanziell und später auch militärisch zu unterstützen, damit aus den sozialen Umwälzungen ein neues Blockmitglied entstehe. Dies hatte die Einmischung von NATO-Staaten natürlich zwingend zur Folge, die wiederum die Gegner*innen jeder linken Utopie förderten – neben einigen bürgerlichen Akteur*innen waren das vor allem die Islamisten. Im Sudan setzte sich ab 1969 dann das „ägyptische Modell“ Nassers durch: Mit Hilfe des Militärs errichtete Dschafar Muhammad an-Numairi eine Diktatur, die einen autoritären staatssozialistischen Fortschritt propagierte, sich aber als blockfreier Staat im Kalten Krieg neutral verortete. So ließen sich beste Verträge mit westlichen Firmen schließen, denen die Regierung mittels der staatlich kontrollierten sudanesischen Wirtschaft zu Monopolen auf den Import von Rohstoffen verhalf. Gewerkschaftsfunktionäre und prominente Vertreter*innen der sozialen Bewegungen wurden am Staatsaufbau beteiligt, Justiz, Kultur und Bildung säkularisiert und zumindest in den Bereichen, die nicht primär als politisch galten, liberalisiert. So ließ sich die Dynamik vor allem der Jugendkulturen in ein allgemeines Gefühl von gesellschaftlichem Fortschritt kanalisieren. Diejenigen, die den Charakter des Staates deutlich als Militärdiktatur benannten und an ihren linken Utopien festhielten, galten folgerichtig als Gefahr eben jenes Fortschritts und mussten mit Repression rechnen. Wie tief diese Utopien im Sudan jener Zeit verankert waren, zeigte sich in der Revolte von 1971, in der an-Numairi kurzzeitig entmachtet und tatsächlich eine freiheitlich-kommunistische Gesellschaft ausgerufen wurde. Die Akteur*innen dieser Revolte spalteten sich jedoch kurz nach ihrem gemeinsamen Triumph, da ein Teil mit Hilfe einiger Militärkader eine diktatorische Integration in den Ostblock anstrebte, während andere den freiheitlichen Kommunismus in einem blockfreien Sudan verwirklichen wollten. An-Numairi verbündete sich derweil u.a. mit den aus dem Westen geförderten islamistischen Milizen und errang erneut die Herrschaft. In der Folge wurden Islamisten an der Regierung beteiligt, und nach ein paar Jahren einer paradoxen islamistisch-sozialistischen staatlichen Mischform hatten die Islamisten ihren Einfluss auf an-Numairi soweit ausgedehnt, dass der Präsident 1983 erstmals die Sharia im Sudan einführte. Viele säkulare Sudanesinnen und Sudanesen flohen daraufhin zusammen mit einigen prominenten Vertreter*innen der linken Opposition in den christlich geprägten Südsudan, und der 1972 beendete Unabhängigkeitskrieg flammte wieder auf. Tatsächlich konnte an-Numairi 1985 erneut und diesmal endgültig gestürzt werden, jedoch blieb das Militär an der Macht und hielt an der Sharia fest.
Der linken Opposition musste das Militär jedoch ebenso entgegenkommen wie dem islamistischen Establishment, so dass u.a. der freie Zusammenschluss zu Gewerkschaften legalisiert wurde. Die Gewerkschaften wurden in kürzester Zeit zu einem wichtigen politischen Faktor; sie drängten auf eine Unabhängigkeit der Beschäftigten von staatlicher Gängelung, auf mehr soziale Sicherheit und ein Ende der Sharia. Sie stellten damit vor allem eine Gefahr für diejenigen arabischen Stammesfamilien dar, die über ihre Kontakte in die Staatsspitze die Kontrolle über wichtige Industriezweige wie die Baumwollindustrie oder die Produktion von Gummiarabikum, das weltweit zu 80 Prozent im Sudan gewonnen wird, erlangt hatten. Und die Preise für die Förderung von Rohstoffen wurden plötzlich nicht mehr bloß zwischen dem sudanesischen Wirtschaftsministerium und den westlichen Abnehmerkonzernen verhandelt, sondern mussten auf die Lohnforderungen der Gewerkschaften abgestimmt werden. Auch jenseits der neuen Gewerkschaftsbewegung machte sich der Geist der späten sechziger und frühen siebziger Jahre wieder bemerkbar, vor allem an den Universitäten und in der urbanen Kultur der Großstädte.
Anders als damals aber waren die Islamisten, deren militante Kämpfer sich aus dem Unterbau der arabischen Oberschicht des Nordens rekrutierten, mittlerweile selbst zu einem mächtigen Akteur der sudanesischen Gesellschaft aufgestiegen. Einer erneuten Säkularisierung des Landes traten sie mit aller Entschlossenheit entgegen, und zusammen mit ihren in den Jahren gereiften Kontakten im Militär putschten sie sich 1989 an die Macht. Die Diktatur al-Baschirs begann. Eine seiner ersten repressiven Maßnahmen war das Verbot der Gewerkschaften, die Inhaftierung aller bekannten Gewerkschaftsaktivist*innen – die meisten von ihnen wurden hingerichtet – und die Etablierung einer der islamistischen Ideologie verpflichteten staatlichen Einheitsgewerkschaft, der Sudan Workers Trade Union Federation (SWTUF).
Die Ökonomie und das Bildungswesen wurden komplett der islamistischen Staatsführung unterstellt – jede kleinste politische, religiöse oder kulturelle Abweichung von der Ideologie kann zur Entlassung aus Job oder Universität führen. Die Religion fungiert hierbei offen als Kontroll- und Einschüchterungsmechanismus gegenüber den lohnabhängig Beschäftigten, mit der Staatsideologie konforme Chefs können über ihre Angestellten in aller Willkür herrschen. Bei missliebigem Verhalten kann eine Denunziation schnell zu einem Todesurteil führen. Somit dient die Ökonomie im islamistischen Sudan der Profitmehrung der arabischen Oberschicht und stellt eine besondere Form der politischen Ökonomie dar. Und hier besteht auch der Zusammenhang mit der Unabhängigkeit des Südsudan und der damit verbundenen Anerkennung des Regimes durch den Westen: Bislang beanspruchten die islamistischen Herrscher die alleinige Verfügungsgewalt über die Bodenschätze des Südens, die sie noch nicht einmal – wie es etwa die Emire in Dubai tun – mit globalen Businesspartner*innen zum gegenseitigen Vorteil teilen wollten, um ihre uneingeschränkte Macht nicht zu gefährden. Nachdem das Regime in Khartum nun auf seinen direkten Zugriff auf die im Südsudan lagernden Unmengen an Öl, Eisen, Gold und Uran verzichtet und sich auf eine Partner*innenschaft mit dem Westen eingelassen hat, erscheint dort die grausame Herrschaft al-Baschirs als weniger problematisch. 2013 empfing Berlin eine große Wirtschaftsdelegation aus dem Sudan. Vor allem aber wurde mit der Unabhängigkeit des Südens allen gesamtsudanesischen Flüchtlingen der für sie bis dahin verbindlich geltende Anspruch auf Asyl entzogen – ohne dass dies irgendwie menschenrechtlich begründbar wäre. Seitdem leben in Deutschland Tausende von Sudanesinnen und Sudanesen in der Angst, in den Terrorstaat Sudan abgeschoben zu werden. Damit spielt die BRD wie die gesamte EU der Verfolgung von Oppositionellen durch die Regierung in Khartum direkt in die Hände. Dieser Konflikt zeigt sich z.B. beim von Flüchtlingen aus dem Sudan getragenen Refugee Protestcamp Hannover, das seit Anfang Juni in der hannoverschen Innenstand den Weißekreuzplatz besetzt hält.
Interview mit Torsten Bewernitz und Gabriel Kuhn.
Der revolutionäre Syndikalismus, wie wir ihn kennen, gehört vielleicht der Vergangenheit an. Damit er überleben…
Rezension zum Buch der Sanktionsfrei e.V. Gründerinnen über Bürgergeld, Armut und Reichtum.
Arbeits- und Klimakämpfe verbinden - zum neuen Buch von Simon Schaupp und dem Film Verkehrswendestadt…
Alter Chauvinismus oder die Kehrtwende in eine neue Fürsorglichkeit.
Rezension zu „Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut“
Leave a Comment