Die meisten Menschen verarbeiten in ihren Träumen Alltagserlebnisse, ich hingegen träume von der Zukunft. So wie die alten Traumdeuter der Antike ereilen auch mich Visionen, nur verheißen sie nicht Sieg oder Niederlage in glorreichen Schlachten, sondern erzählen von der Zeit der Revolution, die vor uns liegt.

In meinem letzten, dritten Traum von der Revolution fand ich mich wieder als uralter Greis. Die Wirren der revolutionären Tage lagen weit zurück, Unrecht und Unterdrückung waren besiegt, und ich blickte zurück auf ein erfülltes, der einen Sache gewidmetes Leben. Ich spürte, die Zeit war gekommen, den letzten Schritt zu gehen. So beschloss ich, mir einen Platz in einem Pflegeheim zu suchen.Nicht irgendeines. Modern sollte es sein. Anders. Fortschrittlich. Und natürlich selbstverwaltet.Meine Wahl fiel auf einen Ort an der Atlantikküste, malerisch an einer Steilklippe gelegen. Inmitten einer syndikalistischen Fischerkolchose befand sich hier die Pflege-Kommune „Schwarz und Rot“, die sich in den Gebäuden einer früheren Kaserne eingerichtet hatte.Der erste Eindruck war vielversprechend. In den Clubräumen plauderten die Veteranen und Veteraninnen am prasselnden Kamin über alte Zeiten, während aus den Lautsprechern die Musik unserer Jugendtage tönte, Punkrock und Hardcore. Bei schönem Wetter sangen wir im Garten Arbeiterlieder, schaukelten in Hängematten oder stickten an Porträts von Bakunin, Rudolf Rocker oder Mumia Abu Jamal, die für ein schwarz-rot abgestepptes Quilt gedacht waren.Als ich in den Sonnenuntergang hinaus spazierte, huschte eine Horde brüllender Kinder an mir vorbei, die in schwarz-rot drapierten Overalls gekleidet den Spanischen Bürgerkrieg nachspielten. Da spürte ich einen Schatten sich über die Idylle legen.Kaum im Heim zurück, platzte ich mitten in ein Plenum hinein. Die durch meinen Spaziergang bedingte vorübergehende Veränderung der Mehrheitsverhältnisse ausnutzend, hatten die Autonomen die Macht im Pflegeheim an sich gerissen und neue Regeln eingeführt. Arbeiterlieder zu singen, war so lange verboten, bis eine autonome Arbeitsgruppe alle Texte gewissenhaft überarbeitet hätte, um sie um alle sexistischen, chauvinistischen oder sonst wie unkorrekt geratenen Passagen zu bereinigen. An Musik war nur noch straight edge gestattet, selbst dead kennedys waren als „zu prollig“ verpönt. Die Kinder draußen hatten zu spielen aufgehört. Seitdem man ihnen erzählte, auch die spanischen Revolutionäre von einst seien männerbündisch organisierte Tiervergewaltiger gewesen, da sie gelegentlich Käse aßen, schlichen sie nur noch apathisch durch die Straßen, die Hände in den Hosentaschen und die Köpfe hängend, und starrten ins Leere. Die Kantine war zur „Vokü“ verkommen. Statt der einfachen, aber abwechslungsreichen regionalen Küche gab es jetzt nur noch allabendlich ein warmes Etwa aus angebranntem, aber nicht durchgekochtem Reis, Mungobohnensprossen, Linsen, Dosenbohnen und sauer gekochter Ananas.Ich wollte widersprechen, doch verweigerte man mir das Rederecht auf dem Plenum, da ich keiner der im Heim anerkannten Minderheiten angehörte (Linkshändern war dieser Status mal wieder verwehrt worden). So blieb mir nur, in den Untergrund abzutauchen, wo wir Würstchen und Käsestangen tauschten, die wir in den Holmen unserer Rollatoren versteckten.Es war denn wohl doch eher ein Alptraum.

Matthias Seiffert

Die Redaktion der Direkten Aktion.

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Matthias Seiffert

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