In der gegenwärtigen Krise spielen die ukrainischen Gewerkschaften keine große Rolle. Es fällt sogar auf, dass nicht einmal bei den Protesten der ArbeitnehmerInnen die Gewerkschaften als wichtige Akteure auftreten. Die Gründe dafür in einem Land, in dem Millionen von Menschen als Gewerkschaftsmitglieder registriert sind, werden verständlich, wenn man einen Blick auf die Geschichte der Gewerkschaften in der unabhängigen Ukraine wirft.
Auch wenn man heute die Donbass-Region vor allem als Hochburg der pro-russischen Kräfte kennt – es waren die Bergleute des Donezker Kohlenbeckens, die ab 1990 aktiv für die Unabhängigkeit der Ukrainischen Sowjetrepublik streikten. Die Streikkomitees arbeiteten damals eng mit der „nationaldemokratischen“ Opposition zusammen. Von der Unabhängigkeit versprachen sich die Bergleute einen raschen Anstieg des Lebensstandards. Doch bereits 1993 streikte man im Donbass erneut, diesmal gegen die Regierung der unabhängigen Ukraine. Denn das Industriegebiet erwies sich als nicht konkurrenzfähig und war akut von Schließungen bedroht, während die Preise für Lebensmittel in die Höhe
schossen. Diesmal verlangten die Bergleute mehr Autonomie für ihre Region. Als Hauptfeind sahen die Streikenden die Kiewer Regierung, während die eigenen Direktoren als Verbündete erschienen, schließlich wollte man gemeinsam die Schließungswelle verhindern. Die Streikwelle 1993 endete damit, dass die Regierung in Kiew einen Pakt mit regionalen Eliten schloss. Jefim Swjagilskij, ein Schachtdirektor aus Donezk, wurde binnen kurzer Zeit erst Bürgermeister seiner Stadt und bald darauf Vize-Regierungschef. Während der Verhandlungen formulierte er die Forderungen der Streikenden an die Regierung. Der Donbass blieb an staatlichen Subventionen hängen. Die Macht der ostukrainischen Oligarchie wurde zementiert – sie konnte nun die privatisierten, aber nicht konkurrenzfähigen Betriebe mit staatlichen Aufträgen am Laufen halten, sich als Schutzpatrone der von der Arbeitslosigkeit bedrohten Bevölkerung der Industrieregion aufspielen und immer mehr Einfluss auf die staatliche Politik nehmen. Obwohl im Donbass während der 90er Jahre noch viele weitere Proteste liefen, die Gewerkschaften wurden zunehmend zum Teil des oligarchischen Systems.
Die größte Gewerkschaftsvereinigung des Landes ist die Föderation der Gewerkschaften der Ukraine (FPU), Nachfolgerorganisation der ukrainischen Sektion des „offiziellen“ sowjetischen Gewerkschaftsverbandes, mit über 9,2 Mio. Mitgliedern1. Da die FPU Zugriff auf die Infrastruktur der Gewerkschaften aus der Sowjetzeit bekam, fungiert sie oft eher als Solidaritätsfonds, der Hilfeleistungen (z.B. Urlaubszuschüsse) an Arbeitnehmer verteilt, aber von den Kämpfen gegen Lohnkürzungen weitgehend absieht. Die Gewerkschaft wird zum Ersatz für den Sozialstaat.
Unter dem Präsidenten Leonid Kutschma (1994-2005) wurde die FPU zunehmend zu einem Teil des Machtgefüges, gestützt auf den Pakt zwischen der Regierung und den Oligarchen. Im November 2004 spaltete sich von der FPU die eher oppositionell zu Kutschma und seinem Nachfolgerkandidaten Wiktor Janukowitsch eingestellte Nationale Konföderation der Gewerkschaften der Ukraine (NKPU) ab. Die NKPU verlangte 2008 sogar, die FPU als „Pseudogewerkschaft“ zu verbieten. Die Führung der FPU war bis zur Entmachtung von Präsident Janukowitsch am 22. Februar 2014 eng mit seiner „Partei der Regionen“ (PR) verbunden, einige Funktionäre kamen über die Parteiliste ins Parlament. Janukowitsch, der einigen Linken in der Ukraine, Russland und dem Westen als das kleinere Übel gegenüber „neoliberalen“ Kräften der „Orangenen Revolution“ galt, ließ das Rentenalter erhöhen und ein neues Arbeitsgesetzbuch verabschieden, das massive Einschnitte für Arbeitnehmer und Gewerkschaften bedeutete. Seitens der FPU gab es keine nennenswerte Gegenwehr, es blieb bei der Unterstützung des Präsidenten und seiner Partei. Trotz der Verbundenheit mit dem gestürzten Präsidenten verhält sich die FPU betont loyal gegenüber der neuen Regierung.
Die Konföderation der Freien Gewerkschaften der Ukraine (KWPU) entstand 1997/98. Wichtigste Einzelgewerkschaft der Konföderation ist die Unabhängige Bergarbeitergewerkschaft der Ukraine (NPGU). Im Gegensatz zur FPU gründeten sich die „freien Gewerkschaften“ Ende der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre in klarer Abgrenzung zur sowjetischen Tradition. Sie entstanden aus den Streiks und waren Ausdruck des Misstrauens gegenüber offiziell-sowjetischen Strukturen. Die KWPU ist wesentlich schwächer als die FPU (300.000 nach eigenen Angaben), genoss aber lange Zeit die Unterstützung des US-amerikanischen Gewerkschaftsbundes AFL-CIO. Michail Wolynez, der Vorsitzende der NPGU, ist ein wichtiger Verbündeter von Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko und war mehrere Legislaturperioden Mitglied der Parlamentsfraktion von „BJuT“2. Timoschenko versuchte ihrem Erzfeind Janukowitsch seine Stammwählerschaft streitig zu machen. Auch heute ist die Führung der NPGU fest auf der Seite der Maidan-Regierung, was aber keineswegs für alle lokalen Gewerkschaftsorganisationen vor Ort repräsentativ ist. In der Krywyj Rih hat NPGU z.B. eine eher gleichdistanzierte Position gegenüber Regierung und Rebellen eingenommen.
Neben den großen Vereinigungen existieren in der Ukraine noch lokale Gewerkschaften ohne Dachverbände sowie Gewerkschaftsvereinigungen, die faktisch keine Präsenz zeigen. So die Allukrainische Vereinigung Arbeitnehmerischer Solidarität (WOST)3, die 1990 mit Unterstützung des konservativen Dissidenten Stepan Chmara gegründet wurde und heute kaum noch öffentlich wahrnehmbar ist.Aus dem linken Spektrum heraus wurden mehrmals Versuche unternommen, Basisgewerkschaften zu gründen. Die Revolutionäre Konföderation der Anarchosyndikalisten (RKAS) war seit ihrer Gründung 1994 kaum über die Südostukraine hinaus aktiv gewesen, die 2008 in Kiew gegründete Prjama Dija (Direkte Aktion) ist eine reine Studentengewerkschaft. Einige ausgestiegene Mitglieder der Prjama Dija gründeten die Autonome Arbeiter-Union (AST)4, die jedoch noch keinen Gewerkschaftsstatus hat.
[1] ↑ In der Ukraine gibt es einen hohen Grad an Gewerkschaftsmitgliedschaften, um die 12 Mio. Mitglieder haben die Gewerkschaften bei etwa 40 Mio. Einwohnern, in der FPU sind demzufolge 75% aller Mitglieder.
[2] ↑ Block Julia Timoschenko
[3] ↑ Manchmal auch als All-Ukrainische Solidaritätsgewerkschaft oder Allukrainische Vereinigung der Solidarität der Arbeitenden übersetzt.
[4] ↑ Manchmal auch als Autonomer Bund der Werktätigen übersetzt.
Der revolutionäre Syndikalismus, wie wir ihn kennen, gehört vielleicht der Vergangenheit an. Damit er überleben…
Rezension zum Buch der Sanktionsfrei e.V. Gründerinnen über Bürgergeld, Armut und Reichtum.
Arbeits- und Klimakämpfe verbinden - zum neuen Buch von Simon Schaupp und dem Film Verkehrswendestadt…
Alter Chauvinismus oder die Kehrtwende in eine neue Fürsorglichkeit.
Rezension zu „Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut“
Ein Neustart für lokale Organisation und Branchen-Syndikalismus.
Leave a Comment