Reisecomic über die Tristesse einer asiatischen Metropole und das Leiden des jungen Delisle
Shenzhen ist eine Boomtown im Süden Chinas. Eine Planstadt am Rande von Hongkong. Auch hier floriert das Kapital, und auch hier verelenden die Arbeitenden in den Slums. Vor ca. 30 Jahren noch ein kleines Fischerdorf, zählt die Metropole heute mehr als 10 Millionen Einwohner. Der Altersdurchschnitt der Stadt liegt bei etwa 25 Jahren. Es gäbe also viel über Shenzhen zu erzählen. Aber der frankokanadische Comiczeichner Guy Delisle interessierte sich in seinem Reisecomic ganz offensichtlich nicht für die Makroebene. Vielmehr beobachtete er das Treiben auf den Straßen, das Alltägliche, das für Delisle das ganz Ungewohnte ist, mit einem feinen Gespür für den Humor einer Situation.
Sympathisch-selbstironisch beschreibt er auch sein eigenes Fremdsein im Anderen. Man könnte sagen, dieser Blick für den Witz ist Delisles ganzer und womöglich einziger Rettungsanker in einer ansonsten öden Landschaft. Denn das Ergebnis seiner Studien, anekdotenhaft wiedergegeben, ist vor allem dies: Tristesse. Shenzhen – eigentlich eine junge, dynamische Stadt, ist Delisles Empfinden nach nichts als die pure Langeweile. Nur ein überfülltes Wartezimmer auf dem Weg zurück ins Leben, zurück nach Europa. Der Comic ist autobiografisch: Als Leiter einer belgischen Trickfilmfabrik ist Delisle hier gestrandet. Kaum angekommen, merkt er: Die Kommunikationshürden sind zu hoch für ihn, die Kultur
ihm zu fremd, sein Antrieb zu schwach. Mühsam schleppt er sich mehrmals in der Woche in ein Fitnessstudio, um zumindest in dieser Hinsicht seinem Ich-Ideal frönen zu können. Aber der Bauch wird nicht kleiner, nur fester. Er ist Bill Murray in „Lost in Translation“ und „Täglich grüßt das Murmeltier“, doch wartet er vergebens auf die bürgerlich-romantische Erlösung. Lässt sich aus so viel Tristesse noch ein unterhaltsamer Comic gestalten? Ja. Zumindest wenn der Zeichner und Erzähler Guy Delisle heißt. Delisle weiß mit wenig viel zu erzählen. Und gerade die Langeweile und Ödnis ist das Spannende und Frische an dem Comic. „Wenn ich eines Tages all diese Anekdoten in Bilder umsetze, muss der Eindruck einer tollen Reise entstehen …“, erzählt die Comicfigur Delisle am Schluss seiner Reise. „Ich nehme an, dass sich selbst die Langeweile, aus ihrem Kontext genommen, zu etwas Unterhaltsamem sublimiert …“. „Shenzhen“ gehört zu seinem „Frühwerk“. Seine Erzähltechnik ist in seinen Folgecomics, die auch weitaus bekannter sind, wesentlich ausgereifter, der Humor pointierter: „Pyongyang“ (2003), „Aufzeichnungen in Birma“ (2007), „Aufzeichnungen aus Jerusalem“ (2011).Am Ende fragt man sich unweigerlich, was man über die südchinesische Stadt Shenzhen wirklich erfahren hat, und kommt darauf, dass sich hier vielmehr ein großartiger Erzähler vorgestellt und die Stadt selber eigentlich nur als Kulisse dafür gedient hat.
Guy Delisle. Shenzhen. Reprodukt
152 Seiten, schwarzweiß
18 Euro
Interview mit Torsten Bewernitz und Gabriel Kuhn.
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