Betrieb & Gesellschaft

Bürgerbeteiligung als Herrschaftsstrategie im Umgang mit Massenprotesten

Im Gespräch mit Michael Wilk

In den letzten Jahren gibt es immer häufiger Runde Tische, Bürgerdialoge, Mediationen, Kommissionen und ähnliche Formen der Bürgerbeteiligung. Diese werden vor allem angewendet, wenn Massenproteste, zum Beispiel gegen Bauvorhaben wie Stuttgart 21, befürchtet werden oder schon da sind. In einem jüngst von ihm mitherausgegebenen Buch1 analysiert Michael Wilk diesen Trend.

Der Titel Eures Buchs lautet „Strategische Einbindung“. Was ist damit gemeint?

BürgerInnen- und Protestbewegungen sollen in Entscheidungsprozesse über politische Pläne und Vorhaben mit hineingezogen werden – aber ohne tatsächlich etwas mitentscheiden zu können. Vielmehr sind die Rahmenbedingungen der Entscheidungsprozesse vorher festgelegt, so dass es sich nicht um einen ergebnisoffenen Dialog unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Gruppen handelt. Die Mitmachstrategien sind dazu da, breiten Protest und Widerstand zu verhindern und umstrittene Vorhaben möglichst reibungsarm durchzusetzen.

Mit den Runden Tischen, Mediationen und ähnlichem sollen frühzeitig Betroffene eingebunden werden, bevor andere „angesteckt“ werden, kritisches Handeln und Denken zunimmt und sich eine Eigendynamik entwickelt. Es handelt sich um neue Herrschaftsstrategien im Umgang mit breitem Widerstand und Protest.

Warum werden solche Herrschaftsstrategien, die auf angebliche Bürgerbeteiligung setzen, in letzter Zeit vermehrt angewendet?

Die Mitmachangebote knüpfen an die veränderten Bedingungen moderner Macht- und Herrschaftssysteme an. Herrschaft hat sich in unseren Breiten gewandelt, ist subtiler und schwerer wahrnehmbar geworden. Gleichzeitig lassen große Teile der Bevölkerung die Planung und Durchsetzung von Großprojekten nicht mehr passiv über sich ergehen, sondern reagieren mit Protest. Kommt es hierbei nicht nur zu lokalem Protest, sondern zu grundsätzlich systemkritischen solidarischem Handeln und politischen Momenten von Widerstand, drohen Verwerfungen im gewohnten Gefüge sozial-politischen Verhaltens. Das bemerkten auch Verantwortliche aus Politik und Wirtschaft: In einer Studie der Stiftung Marktwirtschaft zu Protesten gegen Großprojekte wird zum Beispiel eine „bedenkliche Tendenz zur Aberkennung der Legitimation der Institutionen und Akteure des politischen Systems“ konstatiert. Um hier gegenzusteuern wird die latente Bereitschaft zum Dialog vieler Betroffener gern genutzt. Die Schlichtung bei Stuttgart 21 oder die Mediation am Frankfurter Flughafen sind Beispiele einer mehr oder weniger erfolgreichen Strategie, Protest zu spalten und einzubinden. Ein sehr plumper Versuch der strategischen Einbindung ist die Endlager-Suchkommission2, die der Öffentlichkeit vorgaukeln soll, eine offene Auseinandersetzung zur Frage des Atommülls zu führen. Dabei sind nur zwei von 33 Sitzen für Umweltorganisationen da, zudem darf die Kommission lediglich Vorschläge unterbreiten, die dann von den gleichen politischen Instanzen zu entscheiden wären, die sich für das atomare Abfall-Desaster verantwortlich zeichnen.

Wie gehen wir also am besten vor – die Frage, wo und wie der Atommüll gelagert wird, muss ja dennoch geklärt werden?

Was bleibt, ist das zu tun, worin wir Erfahrung haben: Selbstbewusst und selbstbestimmt Protest und Widerstand zu organisieren. Die Vielfältigkeit der Ebenen des Widerstands, vom Massenprotest bis zu Direkten Aktionen, ist momentan der entscheidende Faktor, der Politik und Wirtschaft zwingt Schritte in Richtung Abschaltung der Atomanlagen zu gehen.Es ginge darum, das am „wenigsten schlechte“ Lager zu finden und darüber eine realistische Auseinandersetzung zu führen. Eine mögliche Akzeptanz eines solchen Verfahrens wäre vor allem an die in Fragestellung der bisherigen politischen Entscheidungsstrukturen geknüpft, ein Prozess, der noch weit entfernt zu sein scheint. Ohne die Bereitschaft das momentane Herrschaftshandeln in Frage zu stellen und dies durch grundsätzlich andere Regularien, die ebenfalls in einem solchen Prozess zu entwickeln wären, zu ersetzen, bleiben Aufforderungen zur Beteiligung an Kommissionen, Mediationen und Schlichtungen durchschaubare Mitmachfallen und Versuche strategischer Einbindung. Hier ist Verweigerung notwendig.

Vielen Dank für das Interview!

 

 

Michael Wilk, Schmied, Arzt, Autor, analysiert in seinem Buchbeitrag manipulative Formen von Beteiligungsverfahren als Herrschaftstechnik.

[1] Michael Wilk, Bernd Sahler (Hrsg.): Strategische Einbindung – von Mediationen, Schlichtungen, Runden Tischen… und wie Protestbewegungen manipuliert werden, Verlag Edition AV, Lich 2014

[2] Die Aufgabe der „Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe gemäß § 3 Standortauswahlgesetz“ ist es, „Vorschläge für die Entscheidungsgrundlagen […] im späteren Standortauswahlverfahren zu erarbeiten“. Daneben befasst sich die Kommission auch mit den Anforderungen an das Verfahren des Auswahlprozesses und an die Beteiligung der Öffentlichkeit. Quelle:
 www.bundestag.de/endlagerkommission

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Die Redaktion der Direkten Aktion.

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