Eine Bilanzierung von Work-Life-Balance Maßnahmen
„Arbeit, Arbeit, Arbeit“, ultraflexible Arbeitsformen, dezentralisierte Arbeitsplätze, Privatisierung und Rationalisierung sind die derzeitigen Säulen der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Allzu oft halten Arbeitnehmer_innen dem Arbeitsdruck nicht stand. Beschäftigte, die keine Zeit mehr für sich, Freunde oder Familie haben, sind die Folge. Work-Life-Balance-Maßnahmen gelten als unternehmerische Erfolgsrezepte, um das „Arbeiten ohne Ende“ bzw. das entgrenzte Leben zwischen Deadline und Burnout meistern zu können.
Die so genannten Work-Life-Balance-Maßnahmen wurden in den 1960er Jahren im Rahmen des „Human Ressource Management“ entwickelt und beinhalten betriebliche Interventionen zur Steuerung der Arbeits- und Lebensorganisation. Der Begriff Work-Life-Balance zielt im Gegensatz zur Begrifflichkeit „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ weniger auf gesellschaftliche Strukturen ab. Er bezieht sich stärker auf Formen der Selbstorganisation bzw. des Selbstmanagements und auf den scheinbaren Ausgleich der Interessen von Lohnabhängigen und Arbeitgebern. Inzwischen existiert eine ganze Unterstützungsindustrie mit Kursangeboten wie Work-Life-Balance-Yoga, Stressmanagement mit Atem- und Mentaltrainern oder Energiearbeit. Die Unternehmen können auf ein ganzes Bündel von maßgeschneiderten Arbeitszeit- und Diversity-Konzepten, Dienstleistungen für flexible Kinderbetreuung oder Maßnahmen zur physischen Gesundheit, Gesundheits-Check-Ups sowie auf staatliche Unterstützung (Elterngeld etc.) zugreifen. Auf Kongressen und bei Unternehmensberatungen werden Selbst-Coaching-Module verkauft, in denen Führungskräften beigebracht wird, darauf zu achten, eine „angenehme Arbeitsatmosphäre mit Spaß, Freude, viel Lachen“ herzustellen.1 Zugespitzt lässt sich die Gleichung der Work-Life-Balance-Maßnahmen auf diese Formel bringen: Gesunde und zufriedene Beschäftigte = weniger Fehlzeiten = weniger Lohnnebenkosten = Steigerung der Erwerbsarbeitsproduktivität = mehr Wettbewerbsfähigkeit.Was allerdings in den 2000er Jahren in Deutschland als innovative Maßnahme galt – nämlich Arbeitszeitflexibilisierungen oder Home-Office –, muss nun durch aktuelle Studien zu den Arbeitsbelastungen und Arbeitsbeanspruchungen von Arbeitnehmer_innen revidiert werden: Flexibilisierungen führen u.a. zu Erwerbsarbeit während der Freizeit, Zeitdruck, (Psycho-)Stress und Arbeitshetze.2 Zwar erscheint die flexible Zeiteinteilung bei der Fürsorgearbeit als Chance für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Sorgearbeit (Selbst- und Fürsorge), allerdings wirken sich diese Flexibilisierungen z.B. für die Aufrechterhaltung eines gemeinsamen Familienalltags als chronischer Zeitmangel aus, wenn Sorgearbeiten nicht eingekauft werden können. Daraus ergibt sich für viele Arbeitnehmer_innen, dass die „Zeit für Reproduktionsarbeit zunehmend nach Effizienzkriterien organisiert und in kleinen Zeiteinheiten taylorisiert und intensiviert“3 werden muss. Betroffene schildern diese Situation folgendermaßen: „Anstatt neun Stunden am Tag mit einem Kind zu verbringen, erklären wir uns selbst dazu in der Lage, ‚dasselbe Resultat‘ in nur einer, intensiv zugeschnittenen Stunde zu erreichen. […] Qualitätszeit erfordert eben besondere Disziplin, Konzentration, Energie, den Ansprüchen bei der Arbeit vergleichbar.“4 Die Organisation der Sorgearbeit gleicht hierbei der „Lean Production“ und der Arbeitsweise des „Just in Time“ in der Produktion. Das heißt, als Minimierung des allgemeinen Zeitverlusts durch Einplanung von Zeiten effektiver Beziehungs- und Fürsorgearbeit. Folglich spiegeln sich die Normen, welche für die Erwerbsarbeit gelten, in dem Bereich der Selbstsorge oder Sorge für andere wieder. Selbst-Kontrolle als verstärkte selbstständige Planung, Steuerung und Überwachung der eigenen Tätigkeiten soll demnach auch auf die Organisation der Sorgearbeit angewandt werden – sei es in Bezug auf Kindererziehung, Sport, Treffen mit Freunden oder den richtigen Zeitpunkt für eine Schwangerschaft. Die Vereinbarkeit von Reproduktions- und Lohnarbeit stellt vor allem auch eine Doppelbelastung für Eltern und Kinder dar. Zwar lassen sich Sorgearbeiten wie waschen, putzen und kochen warenförmig einkaufen, durch technologische Hilfsmittel vereinfachen oder durch Taylorisierung weniger zeitintensiv gestalten, aber bestimmte Tätigkeiten, wie Liebe, Zuwendung, Pflege oder Zuhören, lassen sich nur schwer rationalisieren. Ist ein diszipliniertes Zeitmanagement nicht vorhanden und werden die Selbst-Rationalisierungsanforderungen im Kontext der Work-Life-Balance nicht ausbalanciert, können die entgrenzten Lebensbedingungen mit einem erhöhten Leistungsdruck und mit neuartigen Formen gesundheitlicher Schädigungen, wie dem Burnout-Syndrom, einhergehen. Die Lebensweisen und Interessen von Beschäftigten bleiben in den sogenannten Work-Life-Balance Maßnahmen oftmals unterbelichtet, denn wenn „den Arbeitgeber nur mein Work interessiert, dann kann ich viel versuchen in Einklang zu bringen“.5 Die Bilanz des Work-Life-Balance-Konzepts entspricht daher eher den Formeln: Work = Life oder Work-Life-Balance = Entgrenzung, Zeitnot und Arbeitsstress.
[1] ↑ Vgl. Paulus, Stefan 2012: Das Geschlechterregime. Eine intersektionale Dispositivanaylse von Work-Life-Balance-Massnahmen, Bielefeld, S. 224
[2] ↑ Vgl. Job-Stress-Index 2014, Bern; DGB-Index Gute Arbeit 2011: Arbeitshetze, Arbeitsintensivierung, Entgrenzung, Berlin
[3] ↑ Candeias, Mario 2004: Neoliberalismus, Hochtechnologie, Hegemonie. Grundrisse einer transnationalen kapitalistischen Produktions- und Lebensweise. Eine Kritik, Hamburg, S. 245
[4] ↑ Hochschild, Arlie Russell 1997: The Time Bind. When Work Becomes Home and Home Becomes Work, New York, S.75f
[5] ↑ Zitat eines Arbeitnehmers mit Burnout vgl. Paulus 2012, S. 325
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