„Das Problem ist, wenn gesellschaftliche Verhältnisse Leute in Positionen rücken, wo sie sich wichtigmachen können, ohne irgendwas zu sagen zu haben oder je nach ihrer Meinung gefragt worden zu sein.“ (Gabriel Kuhn)
Soziale Bewegungsmenschen haben uns viel zu sagen. Anders als die hier treffend beschriebenen institutionalisierten Autoritäten. Statt der gleichförmigen Spruchblasen vermitteln sie tiefe Einsichten. Bunt, voller Lebendigkeit. Innehalten? – Ja! Zweifeln? – Ja! Fragen? – Ja! Doch niemals resignierend! Was sie antreibt? – Das menschliche Bedürfnis nach Freiheit, der Drang nach sozialer Gerechtigkeit.
Ihre oft anfängliche Wut wurde zur Energie. Zur treibenden Kraft, die Dinge nicht länger einfach nur hinzunehmen, sondern sich einzumischen. Das erfordert auch Mut. Denn staatliche Repression hat viele Facetten. Das wird nicht zuletzt hier deutlich.
Bernd Drücke und andere haben eine ganze Reihe dieser Bewegungsmenschen interviewt. Nicht mit distanzierten Fragen, sondern unter Einbringung der eigenen Person, eigener Standpunkte. Bisweilen auch provokant, unbequem, kritisch hinterfragend. Darin liegt die Besonderheit, das macht dieses Buch erst so lebendig. Zu Wort kommen darin die Öko-Aktivistin Franziska Wittig, die feministische Bloggerin Antje Schrupp, die französische Kletteraktivistin Cécile Lecomte, der Liedermacher Konstantin Wecker, der Comiczeichner Gerhard Seyfried, die Zeichnerin Ziska Riemann, der emeritierte Politikprofessor Wolf-Dieter Narr, der russische Anarchismusforscher Vadim Damier, der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Wolfgang Rüddenklau, der Verleger Jochen Schmück, der Umweltaktivist und Arzt Michael Wilk, der Projektanarchist Bernd Elsner, die Soziologen Luz Kerkeling und Bernd Drücke sowie die österreichischen Anarchisten Gabriel Kuhn und Sebastian Kalicha.
„Anarchismus Hoch 2“ knüpft nahtlos an den 2006 ebenfalls vom Graswurzelrevolution-Redakteur im Karin Kramer Verlag herausgegebenen Interviewband „Ja! Anarchismus“ an, dessen Titel zum Credo so mancher LeserIn geworden sein dürfte. Dies gilt nicht weniger für den aktuellen Band. Denn die Idee wirkt immer wieder ansteckend.
Selbstermächtigung, das Ringen um Würde, gelebte Solidarität – das sind zentrale Stichworte jener oft geschmähten Bewegung, die das logischste, machbarste und lebensbejahendste Prinzip gesellschaftlichen Zusammenlebens zu verwirklichen sucht. Und, nebenher bemerkt: Auch das ökologisch verträglichste!
Umwelt, Antimilitarismus, Feminismus, Wissenschaft und Kultur sind einige der großen Themenfelder, denen sich der Anarchismus als Bewegung mit gesamtgesellschaftlicher Perspektive zuwendet. Sie alle finden ihre Entsprechung in diesem Band. Gemessen daran rückt hier allein der betriebliche Ansatz doch sehr in den Hintergrund. Das tut der Sache zwar keinen Abbruch, schmälert nicht den Gewinn, mit dem die einzelnen Interviews zu lesen sind. Und dennoch gäbe es auch hierzu einiges zu sagen. Erst recht, wenn in einem solchen Interview auch das Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Erneuerung im Anarchosyndikalismus etwas näher beleuchtet werden würde. „Anarchismus Hoch 2“ fokussiert klar auf die Gegenwart des Anarchismus. Hierin liegt seine Stärke. Denn genau darum geht es: Traditionen mögen als positiver Bezugspunkt wichtig sein. Am Ende kommt es jedoch darauf an, sich zu jeder Zeit den jeweiligen Realitäten zu stellen, zeitgemäße Antworten zu finden. Sich zu öffnen, offen zu bleiben. Nur auf diese Weise kann Anarchismus attraktiv werden, wird er künftig mehr Menschen erreichen und begeistern, als das gegenwärtig noch der Fall ist. Denn die Grundidee ist gut. Aber sie allein reicht eben nicht. Es bedarf authentischer, nicht zuletzt auch sympathischer TrägerInnen.
Nichts wirkt bei den Interviewten aufgesetzt. Denn die Antworten sind nicht allein Ausdruck des eigenen Engagements, sondern auch persönlicher Identität. Sie alle machen deutlich: Menschen haben oft eine Wahl. Es gilt nur, sich bewusst zu entscheiden. Ängste, Fehler, Zweifel werden dabei ebenso wenig ausgespart wie Zuversicht, Liebe und Hoffnung.
Eine dieser Hoffnungen ist besonders zu unterstreichen, denn sie hat die heutige Realität der Bewegung klar im Blick: „Ich möchte noch sehen, wie bei uns die mächtigen, realen Bewegungen entstehen, die die soziale Situation in meinem Land ändern werden.“ (Vadim Damier) Dafür gilt es heute zu wirken! Denn: „Man macht eine Revolution nicht für sich selbst, sondern für die Leute und mit den Leuten des Landes.“ (Wolfgang Rüddenklau) Dazu müssen wir die Menschen jedoch erst erreichen, dann gewinnen. Dieses Buch vermag einen wichtigen Beitrag dazu zu leisten.
Bernd Drücke (Hg.): Anarchismus Hoch 2. Soziale Bewegung, Utopie, Realität, Zukunft. Interviews und Gespräche. Karin Kramer Verlag, Berlin 2014
240 Seiten, 24 Abbildungen, 18 Euro
ISBN 978-3-87956-375-3
Interview mit Torsten Bewernitz und Gabriel Kuhn.
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