Globales

Der Liebesentzug des Bürgermeisters

Zum Zustand der „partizipativen Demokratie“ in venezolanischen Betrieben am Beispiel einer lokalen Tragikomödie

„Keine Yankee-Stiefel auf venezolanischem Boden!“ Am 21. März schien die sozialistisch-patriotische Einheitsfront in der Gewerkschaft Unión Socialista de Trabajadores y Trabajadoras UST (Sozialistische Union der Arbeiter und Arbeiterinnen) in der Gemeinde Boliveriano Libertador, Kernregion des Hauptstadtdistriktes Caracas, noch in bester Ordnung. Die wichtigsten Funktionäre – allesamt ältere Herren – ließen sich auf Schulbänken mit Fotos des 2013 verstorbenen Comandante Hugo Chávez Frías ablichten. Gegenüber eines riesigen Heldenportraits des amtierenden Präsidenten Nicolás Maduro wollten sie die Einheit und Entschlossenheit der venezolanischen ArbeiterInnen bezeugen, sich nicht einschüchtern zu lassen von der Definition ihres Landes als „terroristische Gefahr“, wie es in einer Regierungserklärung Barack Obamas unlängst geschehen war.

 

 

 

So absurd diese Maßnahme des US-Präsidenten auch ist – Terrorgefahr geht eher gegen den venezolanischen Staat seitens rechtsgerichteter Exilanten aus, die sich in den USA aufhalten – so wenig betrifft sie venezolanische GewerkschafterInnen. Die Obama-Administration dehnte ihr Verständnis von „Terrorismus“ auf Beziehungen von Regierungen zu anderen Regierungen aus, die wiederum im Verdacht stehen, mit terroristischen Gruppen zusammenzuarbeiten. Zweck einer solchen Konstruktion von Terrorunterstützung zweiter Ordnung ist es, Bankkonten von venezolanischen Regierungsangehörigen im Ausland einfrieren und Einreiseverbote verhängen zu können und so Druck auf die Regierung Maduro auszuüben, in ihren Hasstiraden auf die USA den Fuß vom Gas zu nehmen. Mit den Belangen der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst, die vor allem in der UST (zum Teil zwangs-) organisiert sind, hat dieses staatliche Säbelrasseln ziemlich wenig zu tun. Vielmehr sprangen die UST-Funktionäre hier den obersten Bossen ihrer Gewerkschaftsmitglieder gehorsam zur Seite. Zu den UST-Gewerkschaftsfunktionären, die sich an jenem 21. März propagandistisch als tapfere Patrioten inszenieren ließen, gehörten auch der Generalsekretär Marco Antonio García und der organisatorische Leiter William Ortega. Eineinhalb Monate später, am 12. Juni, wurden dann jedoch beide durch Einheiten der PoliCaracas, einer dem Gemeindebürgermeister unterstellten Polizeidirektion, verhaftet. Somit kam die Anweisung ihrer Verhaftung direkt von Jorge Rodríguez, Bürgermeister von Boliveriano Libertador, ehemaliger Vizepräsident Venezuelas unter Chávez und Organisator des Vereinigungsprozesses der ersten linken Regierungskoalition zur Sozialistischen Einheitspartei Venezuelas (Partido Socialista Unido de Venezuela, kurz PSUV), die seitdem die Regierung des Landes stellt. Was war passiert? An diesem Tag fanden die allgemeinen Gewerkschaftswahlen der UST für die Führung der jeweiligen Direktionen in Boliveriano Libertador statt. Vorausgegangen waren Auseinandersetzungen zwischen der Gemeindeverwaltung und den Beschäftigten in der Müllentsorgung. Die Beschäftigten forderten mehr Lohn und eine Demokratisierung der Arbeitsorganisation: Anstelle von Funktionären und staatlichen Bürokraten wollten die Beschäftigten ihre Schichten und die Abläufe der Müllentsorgung selbst regeln. Hintergrund war eine monatelange Debatte über die Ineffizienz des öffentlichen Dienstes, mit besonderem Fokus auf die Stromversorgung und eben die Müllentsorgung. Zwischen den Vertretern der rechten Opposition sowie den ihnen nahestehenden Medien und der Gemeinderegierung entflammte ein Streit, in der die Beschäftigten selbst nicht zu Wort kamen, da beide Seiten eher eine Stellvertreterdiskussion entlang ideologischer Grabenkämpfe führten. Jenseits der Schlagwortgefechte von der „bolschewistischen Zerstörung der Nation“ oder der „Sabotage durch die Agenten des Imperialismus“ thematisierten die Beschäftigten die oft sinnlose Einteilung ihrer Einsatzgebiete, die zeitraubende Bürokratie zum Nachweis der erbrachten Arbeit und die schlechte Ausfinanzierung ihrer Arbeit, was sowohl die technische Ausstattung und den Personalschlüssel als auch die Löhne betrifft. Gerade die Angestellten im öffentlichen Dienst sind von der realen Inflation im Lande stark betroffen, da die Regierung die von den Supermärkten und Schwarzmarkthändlern geforderten Preise, die sich wiederum am inoffiziellen Kurs des Bolivars orientieren, ignoriert und entsprechend Löhne zahlt, die von der tatsächlichen Preisentwicklung abgehängt werden.

Fünf Finger verkrampfen sich zur Faust

Solche Missstände ließen sich auch gewerkschaftsintern bei der UST nicht so leicht durch Patriotismus und die Schuldzuschiebung auf den Dämon USA ignorieren. In dem angespannten Dauerzustand, in dem die PSUV die letzten Jahre – und verstärkt seit dem Tod der Ikone Chávez – regiert, kann von einer lebendigen Diskussionskultur innerhalb des sozialistischen Lagers jedoch kaum die Rede sein. Präsident Maduro ist, obwohl von Chávez auf dem Totenbett als Nachfolger auserkoren, in der Partei und ihrem gesellschaftlichen Umfeld keineswegs unumstritten, was natürlich die Lage der Regierung gegenüber der rechten Opposition um Henrique Capriles enorm verschärft. Entsprechend gereizt reagiert das Parteiestablishment auf Kritik aus den eigenen Reihen. Zum x-fach wiederholten Male wird die Bedrohung der Nation beschworen und eine mal wieder nun besonders wichtige Einheit aller sozialistischen und linken Kräfte gegen die äußeren und inneren Feinde gefordert. Linke und gewerkschaftliche KritikerInnen gelten, auch wenn sie noch so rational und noch so sehr am Gegenstand wie etwa der Müllentsorgung in Boliveriano Libertador argumentieren, da schnell als Verräter an der Arbeitereinheitsfront, als Nestbeschmutzer, die – ob bewusst oder unbewusst – das Werk der imperialistischen Aggression befördern.Das Tischtuch zwischen García und Ortega, den ansonsten immer ideologiekonformen Unterstützern der Regierung, und dem Bürgermeister Rodríguez wurde zerrissen, als die beiden Gewerkschaftsfunktionäre die Forderungen der ArbeiterInnen in der Müllentsorgung in Boliveriano Libertador entgegennahmen und unterschrieben an die Chefs in der Gemeindeverwaltung weiterleiteten. Angesichts der darauf folgenden Ereignisse liegt der Verdacht nahe, dass die nahenden Gewerkschaftswahlen bei der UST im Sinne Jorge Rodríguez‘ genutzt werden sollten, um Ortega und García auf möglichst elegante Weise abzuservieren, in dem sie einfach offiziell abgewählt würden. Zur politischen Karriere des amtierenden Bürgermeisters in Boliveriano Libertador gehörte auch die Tätigkeit als Rektor des Nationalen Wahlrats (Consejo Nacional Eletoral, CNE) von 2004 bis 2006, welcher die Wahlen auf Bundesebene organisiert. Die Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen, die von der CNE ausgehen, sind sicherlich politisch schwierig zu bewerten, da die rechte Opposition in den von ihnen kontrollierten Provinzen ebenfalls mit unlauteren Mitteln Einfluss auf Wahlen nimmt und die CNE ihre Interventionen als notwendiges Korrektiv rechtfertigt. Erfahrung mit einem Eingreifen in Wahlvorgänge hat Rodríguez jedoch allemal.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Am Wahltag zur Besetzung der Ausschüsse in den Gewerkschaftsdirektionen der UST häuften sich dann die Berichte über die Umtriebe von MitarbeiterInnen bei PoliCaracas. Die dem Bürgermeister direkt unterstellten Polizeikräfte, die ebenfalls zu den Gewerkschaftswahlen der UST aufgerufen worden waren, sollen laut vielfachen Meldungen trotz ihrer Zivilkleidung ihre Dienstwaffen zur Wahl mitgebracht haben und gezielt gegenüber Betriebsgruppen, die sich in die Diskussion um den öffentlichen Dienst in Boliveriano Libertador eingebracht hatten, eine Bedrohungssituation aufgebaut haben. Überprüfen lassen sich diese Berichte im Nachhinein natürlich schwer. Andere Quellen berichten, dass in vielen Betrieben die Wahllokale frühzeitig geschlossen wurden, vor dem offiziellen Wahlende und kurz nach der geschlossenen Stimmabgabe bestimmter Betriebsgruppen. Wieder andere geben an, nach dem Schließen einiger Wahllokale seien Beschäftigte von PoliCaracas mit Schlüsseln in die Wahllokale gegangen.Nach übereinstimmenden Schilderungen formierte sich in einigen Betrieben Protest, auf dem die Verlegung der Wahlen ins Freie gefordert wurde, um ihren Ablauf zu beobachten und zu dokumentieren. In dieser Situation ereigneten sich dann die Festnahmen Marco Antonio Garcías und William Ortegas. Beim Versuch, die Tische und Wahlzettel aus den Betrieben auf die Straße zu bringen, soll es zu Sachbeschädigungen am Inventar und den Fenstern der jeweiligen Betriebe gekommen sein. García und Ortega wurden daraufhin unter dem Vorwurf der „Zerstörung von Staatseigentum“ festgenommen – ausgerechnet zwei hohe Gewerkschaftsfunktionäre und mit Ortega ein Mitorganisator der Wahl. Mutmaßlich hatte Bürgermeister Rodríguez aufgrund des Aufruhrs, den die Aktionen der PoliCaracas-Mitarbeiter verursacht hatten, das Scheitern einer eleganten Lösung der Personalfrage García/Ortega per frisiertem Wahlergebnis einsehen müssen und spontan umdisponiert.

Kollektive Vereinbarungen der Regierung mit sich selbst

Die – wohl kaum zufällig am selben Tag angesetzte – Rede des Bürgermeisters im Teatro Municipal wurde daraufhin von wütenden Protesten begleitet. Das Thema der Rede, die von der Regierung Maduro einseitig ohne Anhörung der Gewerkschaften beschlossene „Kollektivvereinbarung“, gemäß der die Bezüge von Landes- und Provinzregierung gekürzt werden, um so die stagnierenden Löhne der im allgemeinen Staatsdienst Beschäftigten etwas besser rechtfertigen und die Rede vom Strang, an dem gemeinsam gezogen werden müsse, lancieren zu können, bekam für viele Anwesende in Anbetracht der Ereignisse einen besonderen Beigeschmack. „Wir, die Arbeiterinnen und Arbeiter haben das Recht, unsere Forderungen selbst zu vertreten. Es kann nicht sein, dass der Bürgermeister einfach etwas verkündet, was niemals diskutiert wurde!“, ließ es sich einer per Megafon während Rodríguez Auftrittes vorgetragenen Gegenrede entnehmen. Dabei wurde auch auf die Vorkommnisse bei den Gewerkschaftswahlen der UST und auf die Verhaftungen der beiden Funktionäre eingegangen: „Wir sind hier, um die sofortige Freilassung der Gewerkschaftsvertreter William Ortega und Marcos García zu fordern, Opfer der illegalen und ungerechten Vorgehensweise der PoliCaracas-Funktionäre, bei der es nur darum ging, die Gewerkschaftswahlen zu sabotieren. So sieht ihre Kollektivvereinbarung aus!“ Des Weiteren kritisierten die Protestierenden auch die gedankliche Konstruktion des angeblichen gemeinsamen Verzichts von Regierung und der im öffentlichen Dienst Beschäftigten. Die Beschäftigten und die Regierungsmitglieder besuchten nicht dieselben Krankenhäuser, ihre Kinder gingen nicht in dieselben Schulen, sie hätten nicht den gleichen Lohn und Regierungsmitglieder wüssten auch nicht, wie es sich anfühle, ewig für ein Kilo Fleisch anzustehen, das 800 Bolivares koste, hieß es in der Gegenrede der Protestierenden.

Ortega und García wurden zwei Tage später, am 13. Juni, auf freien Fuß gesetzt und wegen Sachbeschädigung angezeigt. Ob die beiden ehemaligen Vorzeigeideologen ihren Weg zurück in die sozialistische Einheitsfront finden steht in den Sternen, ist aber zwecks schnellstmöglicher Deckelung der Konflikte in der UST nicht unwahrscheinlich. Daran, dass in der krisengeschüttelten und tief gespaltenen venezolanischen Gesellschaft die Verwirklichung des Ideals einer partizipativen Demokratie in Gemeinde und Betrieb immer schwieriger wird, würde ein solches Ende der Lokalposse auch nichts ändern.

Redaktion

Die Redaktion der Direkten Aktion.

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