Globales

Tragödie und Farce der sich wiederholenden Geschichte

Warum Erdogan keine neue Türkei erschaffen hat. Eine Debattenkritik anlässlich der türkischen Parlamentswahlen

Rund um die türkischen Parlamentswahlen am 7. Juni wurde vor allem eine große Geschichte erzählt: Vom Aufstieg und nun womöglich Fall des Recep Tayyip Erdogan angesichts des Erfolges des kurdisch-linken Wahlbündnisses HDP. Er und seine AKP hätten, so die meisten Chronistinnen und Chronisten, 2003 eine Zeitenwende in der türkischen Politik eingeleitet. Sämtliche gesellschaftlichen Prozesse werden seit über einem Jahrzehnt gerne mit den Umtrieben und der Persönlichkeit Erdogans erklärt: Ob Wirtschaftsboom oder Islamisierung, ob Frieden oder Krieg mit der PKK, ob Jugendaufstände wie bei den Gezi-Protesten oder Wahlerfolge der neokonservativen AKP, immer scheint es im Kern um den stolzen Aufsteiger aus Istanbul zu gehen. Der Journalist Deniz Yücel überschreibt seine Posts bei Facebook und Twitter schon gerne mal mit „Neues aus Tayyipistan“.

Mit der Idee von der 2003 eingeleiteten Zäsur der türkischen Politik und Gesellschaft lassen sich auch etliche Konflikte ideologisch überlagern, die tatsächlich auf die Zeiten der rücksichtslosen Industrialisierung unter Staatsgründer Kemal Atatürk oder die Militärdiktatur der 1980er Jahre zurückgehen. Die Diskriminierung der Provinzen – nach wie vor ein Hauptthema der türkischen Gesellschaft, zu dem sich die Politik der AKP sehr ambivalent verhält – entspringt der Entwertung der dortigen wirtschaftlichen Zusammenhänge nach dem Untergang des Osmanischen Reiches und der staatlich organisierten Konzentration der Wirtschaftskraft auf industrielle Zentren rund um Istanbul und entlang der Mittelmeerküste gemäß der Modernisierungsdevise Atatürks. Die Folgen sind bis heute eine enorme Landflucht und ein Heer von Arbeitssuchenden in den Zentren, aus denen die türkische Industrie einen großen Nachschub an NiedriglöhnerInnen rekrutieren kann.In diesem Milieu entstanden in den 70er Jahren starke Gewerkschaften, autonome Betriebsgruppen, radikale linke Organisationen und aufgrund der speziellen Diskriminierung der kurdischen Provinzen auch die PKK. Da die damalige Türkei zwar durchaus einen Grad von Industrialisierung erreicht hatte, der dem der westlichen Industrienationen kaum nachstand, aber nur eine Durchlaufstation in der internationalen Wertschöpfungskette markierte – die Bundesrepublik war und ist aufgrund der im Kaiserreich gereiften Kontakte eins der Hauptländer, in die das in der Türkei erwirtschaftete Kapital abfließt – war es dem türkischen Staat und seinen Unternehmen nicht möglich, die ArbeiterInnen mittels Ausbau des Sozialstaates und der Einbeziehung der Gewerkschaften zu befrieden. Ohne das Zuckerbrot blieb nur noch die Peitsche: Massenentlassungen als Bestrafungsaktion, Zusammenarbeit mit rechtsradikalen Schlägertruppen, aus denen dann auch unternehmensfreundliche Gewerkschaften aufgebaut werden konnten, und als zwangsläufiger Höhepunkt einer solchen Strategie der Spannung schließlich der Militärputsch von 1980.

Nebelkerzen für eine neue Gegenwart

Erdogan und seine AKP deuteten diese Verhältnisse erfolgreich zu historischen Altlasten um, die durch den Gleichschritt aus Neoliberalismus und Islamisierung endlich beseitigt werden könnten: Mit der Schwächung des laizistischen Charakters des türkischen Staates werde die gesellschaftliche Stellung der so genannten „schwarzen Türkinnen und Türken“, also der Landbevölkerung und ihrer urbanen Nachkommen, die im Gegensatz zur städtischen kemalistischen Bourgeoisie, den „weißen Türkinnen und Türken“, nicht von der Modernisierung des Landes profitiert hatten, aufgewertet. Mit der Identifizierung der Diskriminierten des Landes als eine unterjochte religiöse Mehrheit der Gesellschaft verkaufte die AKP ihre Islamisierungsagenda als eine Anti-Eliten-Politik. Hieraus ergab sich der Freibrief, hart gegen Gewerkschaften und jene zivilgesellschaftlichen Akteure vorzugehen, die dem neoliberalen Projekt der Regierung entgegenstanden.

Im Zeichen des Neoliberalismus sollte auch der Fokus auf Ausbeutungsverhältnisse in den Hintergrund wirtschaftspolitischer Debatten gerückt werden. Die Konfliktlinien – zwischen Massenbelegschaften und prekarisierten WanderarbeiterInnen mit quasi identischen Erfahrungshintergründen auf der einen und der türkischen wie internationalen Großindustrie und dem Staat auf der anderen Seite – erblassen seit einem guten Jahrzehnt aufgrund der prototypisch neoliberalen Umstrukturierung der türkischen Wirtschaft zunehmend: Durch die Auslagerung von Produktionsstätten, die Gründung von Subunternehmen, ein Wirrwarr von unterschiedlichen Arbeitsverträgen im selben Betrieb, arbeitsrechtliche Sonderregelungen in einigen Provinzen und Unternehmen, den Ausbau des Dienstleistungssektors mit seinen kleinteiligen Formen der Arbeitsorganisation sowie auch die starke Erweiterung der Aktivitäten in so genannten „Freihandelszonen“. Auf diese Weise entsteht der neoliberalen Ideologie der AKP entsprechend „Arbeit für alle“ und ein türkischer Wirtschaftspatriotismus angesichts der Wachstumszahlen und der Überholspur, auf der sich die türkische Volkswirtschaft gegenüber gerade vieler europäischer Industrienationen befindet. Klassenbewusstsein und gewerkschaftliches Engagement gelten folgerichtig als antiquiert und münden, wenn konsequent vertreten, in Vaterlandsverrat. Das Verbot des Streiks der MetallarbeiterInnen im Frühjahr 2015 durch die AKP als „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ (vgl. Artikel in der letzten DA) ist Ausdruck dieser Ideologie.

Neoliberale Erfüllung diktatorischer Träume

Dass es sich bei der sowohl in der Türkei als auch bei internationalen KommentatorInnen weit verbreiteten Idee, Erdogan hätte Kraft seiner Persönlichkeit das Land umgekrempelt, eben um nicht viel mehr als Ideologie handelt, wird an dem Beispiel des Verbots dieses Streiks deutlich. Die AKP griff auf ein Gesetz zurück, das in der Zeit der türkischen Militärjunta in den 1980er Jahren geschaffen wurde, wie in der Umdeutung eines Arbeitskampfes als Angriff auf die Nation schon semantisch deutlich wird. Da sich der Streik gegen das finale Übergreifen der neoliberalen Agenda auf die Metallindustrie richtete, kann auch auf den Charakter der Wirtschaftspolitik der AKP allgemein hingewiesen werden: Das Ziel der Militärjunta von der entpolitisierten und de-organisierten türkischen Gesellschaft im Allgemeinen und der ArbeiterInnenschaft im Speziellen doch endlich zu erreichen – ein Zustand, der letztendlich ja weltweit die Utopie aller Neoliberalen beschreibt. Die Industrie- und Handelskammer Köln preist die 20 Freihandelszonen der Türkei bei deutschen Unternehmen mit den Worten an, die in ihnen „operierenden Betriebe genießen seit 1985 Freiheit von der Einkommen-, Körperschaft- und Mehrwertsteuer sowie vom Einfuhrzoll.“ Damit bezieht sie sich positiv auf die Gesetzgebung einer Zeit, in der die Organisationen der Beschäftigten in der Türkei massiv verfolgt und unterdrückt wurden. 1986 wurden allein im Verfahren gegen den Gewerkschaftszusammenschluss DISK 1.477 Anklagen erhoben; Zehntausende saßen in Gefängnissen und waren von Folter und Exekution bedroht. Die mit Stacheldraht und hohen Mauern umgebenen Freihandelszonen, in denen über 45.000 Menschen arbeiten, sind heute die vielleicht gewerkschaftsfeindlichsten Orte des Landes.

Dass die AKP ranghohe Militärs, Polizisten und Richter, die sich während der Diktatur furchtbarer Verbrechen schuldig gemacht hatten, entmachtete, vor Gericht stellte und tatsächlich ins Gefängnis brachte, wird bis heute als ein großer historischer Verdienst Erdogans dargestellt. Tatsächlich brachte die AKP auf diese Weise Militär, Polizei und Justiz unter eigene Kontrolle und ist nun in der Lage, harte und langwierige Konflikte mit Gewerkschaften und anderweitig organisierten ArbeiterInnen einzugehen, wie auch angesichts des viel beachteten „Tekel-Streiks“ deutlich wurde. Dem Aufstand gegen die Privatisierung des Tabak-, Alkohol- und Zuckerunternehmens, dem sich 2010 fast 100% der 12.000 Beschäftigten anschlossen, konnte die AKP mit dem ganzen Arsenal aus gewalttätiger Repression und juristischer Einschüchterung begegnen, begleitet von einer medialen Hetzkampagne. Bekanntermaßen unterscheidet sich die Wertschätzung der Pressefreiheit seitens der AKP auch nur graduell von derjenigen der Militärjunta, deren negatives Erbe Erdogan zu überwinden versprach. Im Gegensatz zur militärischen Gewaltherrschaft in den 1980er Jahren setzt die AKP nicht ausschließlich auf physische und juristische Verfolgung von kritischen Journalistinnen und Journalisten, sondern auch auf die Macht des Geldes, in dem parteinahe Investoren einfach Medienunternehmen aufkaufen oder neugründen. Der Effekt bleibt ein zumindest ähnlicher.

Ob mit oder ohne Allah: No justice, no peace

Doch auch das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie ist entgegen der Darstellung der AKP und einer Vielzahl internationaler Presseberichte nicht auf eine gänzlich neue Ebene gehoben worden. Erdogan beschwört beständig seine Herkunft aus einem ärmlichen Elternhaus, sein Vater ein typischer Arbeitsmigrant aus Rize am Schwarzen Meer ins industrielle Istanbul, ökonomisch ausgebeutet und politisch und kulturell aufgrund seiner Religiosität und provinziellen Herkunft durch die kemalistisch-laizistischen Eliten diskriminiert. Der religiöse Knochen, den die AKP den (oftmals auch nur vermeintlich) konservativen Provinzen seit der Übernahme der Regierung permanent hinwirft, ist jedoch allmählich abgegessen.

Die durch das höhere Steueraufkommen, Handelsverträge und den Verkauf von Staatsunternehmen gewachsenen finanziellen Möglichkeiten des Staates werden nicht rechtsverbindlich und transparent eingesetzt, um endlich den abgehängten Kommunen ein Stück vom Kuchen abzugeben. Vielmehr können Provinzgouverneure der AKP willkürlich über die von der Zentralregierung umverteilten Ressourcen verfügen. Anstatt eines Wohlfahrtsstaates, der der neoliberalen Ideologie auch entgegenstehen würde, werden durch die mit dem Staat verwachsenen lokalen AKP-Strukturen religiöse Institutionen mit Geld versorgt, um Charity zu betreiben. Anstelle eines Rechtsanspruches auf sozialstaatliche Mittel winkt Hilfe nur beim Eintritt ins AKP-nahe religiöse Kollektiv. Auf eine solche Hilfe sind strukturell vor allem die BewohnerInnen der Provinz angewiesen, da eine große Auswahl an Arbeitsmöglichkeiten fehlt; zudem ist die Bevölkerung vieler Orte auf dem Land aufgrund der Auswanderung in die Städte stark überaltert – ohne die Hilfe der in den Zentren lebenden Familie droht vielen die Altersarmut. Doch islamische Charity kann den allgemeinen Charakter eines Wohlfahrtsstaates nicht ersetzten. Die Bedürftigen finden einen Flickenteppich von religiösen Hilfsangeboten vor, die die jeweils sehr unterschiedliche Form der Hilfe an ebenfalls sehr unterschiedliche Bedingungen knüpft. Zudem verschwindet in dem undurchsichtigen Konglomerat aus staatlicher Finanzbehörde, regionalen AKP-Büros und den diversen islamischen Einrichtungen ein nicht kleiner Teil des Geldes für alle Ewigkeit. Die sowohl neoliberal als auch religiös begründete Ablehnung eines starken Sozialstaats befeuerte Filz und Korruption als Merkmal der AKP-Herrschaft gerade in der Peripherie. Erdogan und die AKP haben der verarmten Landbevölkerung anstatt zu neuen Rechten so zu einem System der Willkürherrschaft verholfen. Die von Kemal Atatürks Industrialisierungspolitik geerbte Kluft zwischen Zentrum und Peripherie lässt sich so nicht schließen. Bei Redaktionsschluss verbreitete sich die Meldung, die AKP würde nach dem Verlust ihrer absoluten Mehrheit nun eine Koalition mit der nationalistischen MHP eingehen, zu deren politischen Umfeld die rechtsradikalen Grauen Wölfe gehören und bei der sich viele Mitglieder positiv auf die Militärjunta der 1980er beziehen. Damit würde die Ideologie von der durch Erdogan neu geschaffenen Türkei endgültig zu Grabe getragen werden. Für Gewerkschaften und türkische sowie speziell kurdische soziale Bewegungen bedeutet ein solcher im Prinzip folgerichtiger Schulterschluss – sollten sich die Meldungen nach Erscheinen dieser DA bewahrheiten – nichts Gutes.

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