Kultur

„Die Welt riss mich“

Eine Autobiografie des Schweizer Syndikalisten Max Tobler

Feminist, Arzt, Zoologe, Antiimperialist, Schriftsteller, Journalist und Kriegsgegner – all dies lässt sich über Max Tobler sagen. Doch zu Max Tobler findet sich im deutschsprachigen Wikipedia kein Eintrag und auch innerhalb der Schweizer Linken war der seinerzeit sehr populäre Sozialist und Syndikalist in Vergessenheit geraten. Seit ihrer Entstehung 1925 blieb Max Toblers Autobiografie „Die Welt riss mich – Aus der Jugend eines feinsinnigen Rebellen“ unveröffentlicht. Diese Lücke konnte Christian Hadorn mit der Herausgabe der Memoiren im Züricher Chronos Verlag nun schließen.

Wer eine Schilderung der bewegten Zeit erwartet, als sich berühmte Anarchisten wie Bakunin, Mühsam und Guillaume in der Schweiz trafen, wird vielleicht enttäuscht sein. Als die Antiautoritäre Internationale von Saint-Imier 1872 entstand, war Max Tobler noch nicht geboren. Doch auch sein eigenes politisches Schaffen spielt in seiner Aufzeichnung keine Rolle. Wie der Titel verrät, widmet diese sich ausschließlich seiner Kindheit, Jugend und den frühen Jahren des Erwachsenseins, noch auf der Suche nach dem richtigen Platz in dieser Welt. „Ein Juwel schweizerischer Coming-of-Age-Literatur des 19. Jahrhunderts“ meint die Neue Züricher Zeitung. Im Zentrum steht der Konflikt mit dem reaktionären Vater, der das bürgerliche Milieu verkörpert, in dem Tobler aufwuchs und dem er zu entfliehen versuchte. Gut geeignet für ein erstes Aufbegehren als junger Gymnasiast schien ihm die Mitgliedschaft in einem Abstinenzverein. Abstinenz, das Straight-Edge des 19. Jahrhunderts, ist einzuordnen in eine ganze Reihe von Reformbewegungen aus dieser Zeit wie Vegetarismus, FKK, Turner- oder Wandervogelbewegung. Gemeinsam ist ihnen eine Kritik an der industrialisierten, modernen Gesellschaft sowie gleichzeitig vorhandene sozial-radikale und reaktionäre Strömungen. Tobler beschäftigte sich im Abstinenzverein „Humanitas“ erstmals mit fortschrittlicher Literatur, Naturwissenschaften und sozialen Themen. Für den spießbürgerlichen Vater war dies ein Affront: „Ich will dir nicht verbieten einzutreten, aber das musst du mir versprechen, dass du kein Sozialdemokrat und kein Sonderling wirst“, forderte er von seinem Sohn. Die Mutter fungierte als stete Vermittlerin in den wiederkehrenden Konflikten mit dem Vater, bei denen Tobler selten die direkte Konfrontation suchte. Obwohl er von Indien träumte, versuchte er zunächst über eine Anstellung als Lehrer und dann mit einem Studium der Zoologie von zu Hause wegzukommen und seinen eigenen Weg zu finden. Geringe Freude bereitete ihm die Tätigkeit als Lehrer: „Die Methode war schrecklich, und da ich mich für den Stoff gar nicht und für meine Schüler sehr wenig interessierte, so fiel mein Unterricht nach meinem Erachten sehr mangelhaft aus.“ Ebenso erging es ihm mit seiner Doktorarbeit über eine neuseeländische Schnecke: „Viele Stunden habe ich mich jeden Tag mit der Schnecke beschäftigt, aber mein Herz gehörte ihr nicht.“

 

Politisierung im Kaffeehaus

Bedeutender für den Studenten waren die Debatten im Kaffeehaus über Literatur, Moral und Politik. An der Universität in Genf begegneten ihm erstmals Studentinnen, damals noch etwas Außergewöhnliches und, wie alles Weibliche, etwas sehr Aufregendes für den jungen Tobler. Neugierig, aber viel zu schüchtern war der und erst mit der Zeit lernte er die Kommilitoninnen kennen, von denen viele aus Russland stammten. Regelmäßig pflegte er den Umgang mit den „russischen Revolutionärinnen“. Seine sozialistische Überzeugung scheint noch mehr eine Freude am Skandal ohne tiefere Auseinandersetzung mit der Materie gewesen zu sein. Dennoch lernte Tobler während seiner Studienzeit charismatische Sozialisten und komische Anarchisten kennen und plante zumindest am Kaffeehaustisch Verschwörungen für den gesellschaftlichen Umsturz. Die Armut und das ungerechte Schicksal seiner ersten Liebe Anna machten die Klassenfrage für ihn greifbarer. Tobler begann, Marx zu lesen und ging als Lehrer nach England. Doch auch dort trieben ihn das blasierte bürgerliche Umfeld und der mangelnde Sinn in seinem Tun um: „Sicher kannte ich die englischen Arbeiter nicht. Gerade so viel wusste ich über sie, als ich in Büchern gelesen hatte, und das war vielleicht alles nur gelogen.“ Mit der Rückkehr in die Schweiz enden die Memoiren des damals 26-jährigen.Den weiteren Lebensweg beleuchtet das ausführliche Nachwort Hadorns, das nachzeichnet, wie Tobler sich weiter radikalisierte und politisch tätig wurde, z.B. als Redakteur der sozialdemokratischen Zeitung „Das Volksrecht“ oder als Mitbegründer der Schweizer Roten Hilfe. Eine zentrale Rolle in Toblers politischem Leben spielte sein Freund, der bekannte Arbeiterarzt und Anarchist Fritz Brupbacher.Desweiteren bietet das Nachwort Erklärungsversuche dafür, warum Toblers Autobiografie so früh endet. Hadorn sieht zum einen die thematische Geschlossenheit, zum anderen die Schwierigkeit, Dichte und Komplexität der politisch aktive Jahre literarisch zu verpacken, als mögliche Ursachen. Gleichzeit sei zu überlegen, ob Tobler nicht noch vorhatte, weiter daran zu arbeiten. Er starb 1929, nur fünf Jahre nach dem Verfassen seiner Jugenderinnerungen.Der Reiz in Toblers Aufzeichnungen liegt weniger in der Skizzierung der damaligen Arbeiter_innenbewegung und ihrer Köpfe, sondern vielmehr in den feinsinnigen Betrachtungen eines rebellischen Heranwachsenden. Tobler liefert ein Sittenbild der bürgerlichen Schweizer Gesellschaft um die Jahrhundertwende aus der Perspektive eines klugen Teenagers. Natürlich geht es auch um Liebe. Schwärmerische Träumereien und erste Annäherungsversuche des schrecklich schüchternen Toblers werden von seinem älteren Ich selbstironisch beschrieben. Dieses Augenzwinkern zieht sich wohltuend durch das gesamte Buch, so dass sich das Lesevergnügen auch für Nicht-Biografie-Fans einstellt.

Cindy Mecate

Die Redaktion der Direkten Aktion.

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Cindy Mecate

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