„Doof gebor‘n ist keiner, doof wird man gemacht“ ist einer der großen Erfolgstitel des Berliner Gripstheaters und er findet sich auch als Mottosong im ersten Film über die „Schule für Erwachsenenbildung“, kurz SFE genannt, der 1974 an der Berliner Film-und Fernsehakademie produziert wurde. Heute ist der Film Geschichte, aber die SFE gibt es immer noch. Und vor zwei Jahren wurde von Alexander Kleider, einem ehemaligen SFE-Schüler und erfolgreichen Dokumentarfilmer, unter dem Arbeitstitel „Rock ‘n‘ Roll Highschool“, ein neues Langzeit-Filmprojekt begonnen. Der Film soll voraussichtlich zur Berlinale 2016 herauskommen und man darf gespannt sein.
Die Schule ist eine Gründung der Schüler-, Lehrlings- und Studentenbewegung der späten 1960er und frühen 70er Jahre, als Tausende von in der Adenauerzeit sozialisierten jungen Arbeitern und Arbeiterinnen in die Schulen des Zweiten Bildungswegs drängten. Überfüllung und lange Wartezeiten an den staatlichen Kollegs führte zu einem Boom von privaten, oft profitorientierten Bildungseinrichtungen.
Bei Gabbes Lehranstalten Berlin kam es 1972 zu einem Schülerstreik mit Gegenunterricht, nachdem Forderungen nach Mitsprache bei der Unterrichtsgestaltung von der Institutsleitung abgelehnt worden waren. Es kam zu einem Polizeieinsatz und einem Schlichtungsversuch der Senatsverwaltung.In dieser Zeit entstand die Idee einer eigenen neuen „Schülerschule“, die den Prinzipien von Selbstorganisation, Selbstverwaltung, Autonomie, Gemeinnützigkeit und gesellschaftskritischem emanzipatorischen Unterricht folgen sollte: also keine Noten, kein Direktor, Basisdemokratie in Unterricht und Verwaltung.1973 konnte die senatsanerkannte gemeinnützige SFE e.V. ihre Arbeit aufnehmen. Bis zu 800 eingeschriebene Schülerinnen und Schüler und über 50 Dozenten und Tutoren für die Vorbereitung auf die Mittlere Reife und das Abitur zeigten, dass die Idee einer weitgehenden Umsetzung eigener kreativer Schulkonzepte statt des langen, konfliktreichen Marsches durch die Institutionen richtig und Erfolg versprechend war.Die Parität zwischen Schülern und Lehrern wurde nach einer Anfangsphase abgeschafft und die einfache Mehrheit aller Schulmitglieder wurde zum basisdemokratischen Prinzip. Kern war die Autonomie der Klasse, Kursen stand man eher skeptisch gegenüber; oberstes Organ wurde die Vollversammlung und eine Vielzahl zugeordneter und untergeordneter Ausschüsse wie der Presseausschuss, der Bauausschuss oder der Fêtenausschuss übernahmen die Alltagsarbeit der Selbstverwaltung. Nach einer ersten wilden Experimentierphase konnte man sich durchringen, festangestellte Büro- und Buchhaltungskräfte einzustellen, um dem allergrößten Chaos Einhalt zu gebieten. Auch eine eigene Lehrer- bzw. Angestelltenkonferenz konnte nach langen bedenkenreichen Debatten eingerichtet werden. Diese Grundkonzeption hat sich im Wesentlichen bis heute erhalten und als erfolgreich erwiesen.1980, zur Zeit der Häuserkämpfe und beginnenden Hausbesetzerbewegung, entschloss sich die SFE, die bis dahin in einer angemieteten Büroetage residierte, ein eigenes Gebäude zu erwerben. Die Wahl fiel auf ein großes leerstehendes Fabrikgebäude im Zentrum von Kreuzberg, das Stammhaus der renommierten Schriftgießerei Berthold AG, heute das stadtbekannte Alternativzentrum Mehringhof, in dem neben der SFE als größter Einrichtung Projekte des im weitesten Sinne linken und alternativen Spektrums zuhause sind. Eine komplizierte Konstruktion von Gesellschaftern bzw. Eigentümern, Mietern, Mieterrat und Mieterverein gewährleistet das von Anfang an formulierte Konzept der Kapitalneutralisierung. Es soll verhindern, dass einzelne Eigentümer ihren Anteil auf den Markt werfen und damit das ganze Projekt gefährden können.
Sie hat sich als private gemeinnützige Schule für Erwachsene mit relativ geringem Schulgeld ohne jegliche staatliche Zuwendung trotz zahlreicher finanzieller und konzeptioneller Krisen bis heute halten können. Zahlreiche Schülerinnen und Schüler, die sonst keine Alternative im Bildungssystem gefunden hätten, haben hier ihre Mittlere Reife oder Abitur bewerkstelligt und es ist ihnen eine Neuorientierung in ihrer häufig komplizierten Bildungsbiographie gelungen. Unter Umständen hat sich auch ihr politischer und sozialer Werdegang neu ausgerichtet. Neben traditionellen Nutzern des Zweiten Bildungsweges wie FacharbeiterInnen und Berufstätigen kümmert sich die Schule bis heute vor allem um die vom Bildungs- und Berufssystem Vernachlässigten und Verprellten, also Berufs- und Schulabbrecher. Deshalb liegt es nahe, neben der am primären Schulbereich orientierten Vorbereitung auf Abitur und Mittlere Reife auch die sozialen und politischen Lernfelder herauszustellen. Zur Selbstverwaltung gehört das gemeinsame Putzen der Schule, die Organisation der kleinen Kantine in rotierender Klassenverantwortlichkeit, aber auch die Renovierung und Gestaltung der Klassen, Flure und Freiflächen. Die gemeinsame Verantwortung für Finanzen, Außendarstellung, soziale Belange und politische Statements ist ein ideales soziales, politisches und betriebswirtschaftliches Lernfeld. Die regelmäßigen Vollversammlungen, aber auch Ausschussarbeit, Projektwochen und Einführungsveranstaltungen für die neuen Schülerinnen und Schüler sind ein realer Raum des politischen und sozialen Lernens. Diversität und Inklusion spielen darüber hinaus gerade in einer Einrichtung wie der SFE, die sich der Kompensation komplizierter Bildungsbiographien verschrieben hat, eine große Rolle.
Deshalb erinnert wenig an eine herkömmliche Schule, der Unterricht beginnt relativ spät um 9.30 Uhr, jede Klasse sieht anders aus, Schüler bringen ihren Hund mit in den Unterricht, Lehrer und Schüler duzen sich und die Wände sind voll von Graffiti. Der äußere Eindruck ist eher chaotisch, obwohl sich die „innere SFE-Struktur“ immer wieder durchsetzt, eine Art prozessorientierter Lernstrategie, die Improvisation und situationsbedingten Entscheidungen einen großen Spielraum gewährt. Soziologen würden von einem „unvollkommenen heterogenen Polysystem“ sprechen oder, negativ formuliert, die SFE ist alles andere als ein homogenes Monosystem.Die Schule ist heute kleiner als in der Hochzeit des Bildungsbooms, neben den klassischen Kollegzweig ist der Zweig für Gymnasialschüler getreten, sodass man in drei bis vier Jahren vom Schüler ohne jeglichen Schulabschluss bis zum Abitur kommen kann. Vieles ist anders geworden, aber ihre Grundstruktur und Kontinuität hat die SFE bewahrt. So heißt es nicht mehr „Doof gebor‘n ist keiner“ sondern zeitgemäß „Noten nee – SFE“ oder „Bildet Banden, bildet Kurse, bildet Euch!“
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