Anarcho-Primitivismus als vermeintlicher Lösungsansatz für Probleme der postindustriellen Gesellschaftsordnung
In Zeiten von Web 2.0, einem immer weiter steigenden Leistungsdruck und dem weltweiten Siegeszug des Neoliberalismus ist das Bedürfnis vieler Menschen nach Entschleunigung verständlich und nachvollziehbar. Im Folgenden versuche ich am Beispiel der Ideologie des Anarcho-Primitivismus aufzuzeigen, warum die Rückkehr in die Steinzeit trotz allem keine emanzipatorische Perspektive darstellen kann.
Anarcho-Primitivist*innen (A-Ps) gehen davon aus, dass sich sämtliche Herrschaftsstrukturen in Folge der Neolithischen Revolution entwickelt haben. Als Neolithische Revolution bezeichnet mensch den Wandel von einer nomadischen „Jäger*innen/Sammler*innen“-Gesellschaft zu sesshaften Gemeinschaften, die durch Ackerbau etc. ermöglicht wurden. Für A-Ps waren alle Stämme/Sippen vor der Neolithischen Revolution prinzipiell egalitär, was nachgewiesener Weise nicht der Fall war. Durch den ideologisch untrennbaren Zusammenhang von Zivilisation und Herrschaft wendet sich der Anarcho-Primitivismus gegen jede Form der Zivilisation. Natürlich sind die Befürworter*innen dieser Ideologie keine homogene Gruppe und sich uneins über den wünschenswerten Technologiestand. Während manche Vertreter*innen z.B. Permakultur für vertretbar halten, wollen andere sich auf Technologien beschränken, welche bereits in der Jungsteinzeit zur Verfügung standen.
Einig ist sich mensch darüber, dass alle sozialen Zusammenhänge, welche mehr als ca. 100 Personen beinhalten automatisch Hierarchien produzieren würden und deshalb aufzulösen seien. Die Ideologie entstand in den 1980er Jahren aus dem Umfeld der militanten Ökologie-/Tierrechtsszene in den USA. Heute ist der Anarcho-Primitivismus ironischerweise hauptsächlich im Internet virulent. Die anarcho-primitivistische Ideologie ist aus verschiedenen Gründen höchst problematisch. Zunächst einmal lässt sich die Vorstellung von prinzipiell egalitären „Sippenstrukturen“ der Steinzeit auf das Konzept des „Edlen Wilden“ zurückführen. Dieses wurde im Zuge der europäischen Aufklärung entwickelt und ging davon aus, dass der Steinzeitmensch in einem primitiven „Naturzustand“ lebte, wie Adam im Paradies frei von allen negativen Eigenschaften. Abgesehen davon, dass sie gänzlich falsch ist, ist diese Vorstellung eurozentristisch und rassistisch, weil es dem weißen, zivilisierten Europäer verallgemeinernd den unzivilisierten Wilden gegenüberstellt. Dieses Konzept wurde schon verwendet um die „wilde“ Welt zu kolonisieren und auszubeuten. Auch wenn A-Ps dies grundsätzlich ablehnen, bedienen sie sich der gleichen Argumentationsmuster. Desweiteren formuliert der Anarcho-Primitivismus einen globalen Anspruch: Solange es Nicht-Primitivist*innen gibt, würden diese durch z.B. Umweltverschmutzung den A-Ps das schöne Leben verunmöglichen, also ist eine Koexistenz nicht möglich.Eine mögliche Praxis wirft weitere Fragen auf. Allen voran: Wie soll die Weltbevölkerung ernährt werden? Damit hat sich Andrew Flood ausführlicher beschäftigt. Er kommt in seiner Forschung zu dem Schluss, dass durch Jagen und Sammeln maximal 100 Millionen Menschen ernährt werden könnten. Selbst bei dieser Schätzung, in welcher erst einmal über 7 Milliarden Menschen sterben müssten, würde wahrscheinlich das Ökosystem durch Übernutzung den Geist aufgeben. Wie die „Schrumpfung“ vonstatten zu gehen hat, da scheiden sich wiederum die Geister. Während vermeintlich aufgeklärte A-Ps eine freiwillige Geburtenkontrolle befürworten, wünscht sich der radikalere Flügel ein Massensterben durch Epidemien und Ähnliches. Ein Konzept liegt auch hinsichtlich der medizinischen Versorgung nicht vor, sondern es wird (meist) davon ausgegangen, dass die meisten Krankheiten der Zivilisation entspringen und auch mit dieser überwunden werden können.Es gibt mehrere Gründe, warum mensch sich trotz des offensichtlichen Unfugs, der in diesen Kreisen verbreitet wird, mit dem Anarcho-Primitivismus auseinandersetzen sollte. Gerade bei antispeziesistischen und konsumkritischen Menschen ohne viel theoretische Vorkenntnis lassen sich immer wieder Schnittmengen mit dieser Ideologie feststellen. Das liegt einerseits am (verbal)-radikalen Duktus der A-Ps, andererseits bietet die Ideologie einen einfachen Lösungsansatz für komplizierte Sachverhalte. Mensch macht es sich sehr einfach, wenn alles, ab der Neolithischen Revolution abgelehnt wird. Dies verhindert eine weitere Auseinandersetzung mit den Verhältnissen. Hier lässt sich eine Parallele zum verschwörungstheoretischen Milieu feststellen. Dass der Primitivismus auch real eine Bedrohung der Zivilisation darstellen kann, sieht mensch zum Beispiel an der Terrorherrschaft der roten Khmer in Kambodscha, wo in vier Jahren ca. ein Fünftel der Bevölkerung beim Versuch eine vorindustrielle Gesellschaftsordnung herbeizuführen ums Leben kam. Es lässt sich zusammenfassen, dass der Anarcho-Primitismus keine emanzipatorische Strömung ist und sein kann. Trotzdem sollte mensch sich, vor allem in der Diskussion mit meist jüngeren Leuten, die Zeit und die Muße nehmen den unemanzipatorischen Charakter der Ideologie aufzuzeigen.
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