Ein Beitrag zur politischen Theorie des Anarchismus.
In meinem Nachdenken über ein anarchistisches Politikverständnis habe ich mich dafür entschieden, eine gouvernementale, konfliktorientierte und ultra-realistische Definition zu verwenden, die ich hier knapp illustrieren möchte: Meinem Verständnis nach besteht Politik in der Verhandlung widerstreitender Interessen, die durch verschiedene Akteur*innen repräsentiert werden. Durch diese Repräsentation fallen schon einmal sehr viele soziale Gruppen weg, bspw. jene ohne Staatsbürgerschaft in einem bestimmten Land. Weiterhin geschieht eine Einhegung der jeweiligen Interessen und Handlungsweisen, damit sie überhaupt als politisch akzeptabel und verhandelbar gelten. Wer dann am Verhandlungstisch sitzt, vertritt also – insbesondere wenn wir global denken – normalerweise schon eine relativ privilegierte Minderheit, während über ausgeschlossene soziale Gruppe und Klassen direkt geherrscht wird – selbst wenn ihre Interessen aus strategischen Gründen mitgedacht werden sollten.
Wenngleich wir uns zumindest in einer demokratischen Herrschaftsordnung einen runden Tisch vorstellen können, um den die Politiker*innen herum sitzen, verfügen sie tatsächlich über sehr unterschiedliche Machtressourcen. Im Bild eines Kartenspiels besitzen manche etliche Trümpfe und ranghohe Karten, während andere hauptsächlich Nieten haben. Manchen werden Karten von ihren Diener*innen zugespielt. Es kann auch sein, dass mächtige Akteur*innen den Verhandlungsraum verlassen, in einen Nebenraum gehen und dann eine Entscheidung präsentieren, die nicht mehr abgestimmt werden kann. Und natürlich können mächtige Akteur*innen andere bestechen, ihnen drohen, sie aus dem Raum zu werfen und sie damit zu ihrem Entscheidungsvorschlag zwingen. Werden dann Entscheidungen erarbeitet, welche bestimmten Beteiligten zu weit gehen (z. B. weil sie ihnen zu viel sozialen Ausgleich bedeuten), können diese immer noch ein Veto einlegen, während dies anderen nicht möglich ist. Schließlich kommt nach einer Partie in mehreren Verarbeitungsstufen ein schwammiger Kompromiss zu Stande. Wird diesem Widerstand entgegengesetzt, werden Zwang und Gewalt angewendet, um die Entscheidung durchzusetzen.
Schlussendlich diente die ganze Prozedur dazu, an den vorhandenen Klassenverhältnissen nichts zu verändern. Der durch Ausbeutung angeeigneten ungeheurem Reichtum der ökonomischen und politischen Elite wurde damit nicht angetastet, sondern häufig vergrößert und abgesichert. Einige möglichst geringe Anpassungen werden vorgenommen oder innovative Projekte gefördert, wenn sie verwertbar sind. Bei der Verkündung der getroffenen Entscheidung vor der Versammlungshalle wird dem Staatsvolk erklärt, hierbei handele es sich um den Ausdruck ihres Willens. Das Spiel selbst wird an keiner Stelle in Frage gestellt, sondern als Notwendigkeit dargestellt.
Mit dieser Beschreibung möchte ich ausdrücken, dass das politische Terrain hochgradig von der politischen Herrschaftsordnung geformt ist und von mächtigen politischen Spieler*innen dominiert wird. Politik ist gouvernemental, weil sie auf das Regieren bezogen wird. Dass es ‚komplexe‘ Gemeinwesen gab und geben kann, die nicht regiert werden und in denen Menschen sich ganz gut selbst organisieren können, ist eine anarchistische Grundannahme. Konfliktorientiert ist Politik, weil es in ihr im Wesentlichen um die Durchsetzung von Interessen, statt um die gleichberechtigte Vermittlung der Anliegen und Bedürfnisse aller Beteiligten geht. Und der hier verwendete Politikbegriff ist ultra-realistisch, womit gesagt wird, dass Politik nicht nur, nicht immer und nicht in jedem Fall diese brutale, ‚machiavellistische‘ Form annimmt. Wir sollten uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade dies den Kern von (verstaatlichter) Politik ausmacht – und sie deswegen grundlegend kritisieren.
Die sozialdemokratische Antwort auf das politische Spiel ist, die Spielregeln zu akzeptieren und so gut es geht mitzuspielen, um das Beste für das eigene Klientel herauszuholen. Die autoritär-kommunistische Antwort lautet: Wir spielen das Spiel mit, um es auszunutzen und dann den anderen unsere Regeln aufzuzwingen. Die anarchistische Antwort besteht dagegen darin, dass das Spiel scheiße ist, aber auch keine Notwendigkeit besteht, es mitzuspielen. Auch wenn uns sehr eindringlich vermittelt wird, wir könnten dort etwas erreichen, lohnt es sich viel mehr, vor die Tür zu gehen und festzustellen, dass dort ganz viele Menschen sind, die ihre Leben meistern, sich in Gruppen zusammenfinden, nicht vor allem politische Interessen haben und manchmal sogar in alternativen Gemeinwesen organisiert sind.
Das Problem vieler Linker ist, dass sie sich viel zu viel vom Politikmachen erhoffen – und das trifft auch auf die außerparlamentarische Bewegungslinke und teilweise auch auf um sich selbst kreisende Szenepolitik zu. Mit dem Glaube daran, dass das politische Spiel so wichtig wäre, dass wir eigene Erfolge in politischen Kategorien messen, dass wir meinen, nur politische Organisationen seien effektiv oder unsere Kampagne nur dann sinnvoll, wenn Politiker*innen sie aufgreifen, tappen wir in die „Falle der Politik“, wie Emma Goldman sie nannte. Erst wenn wir uns aus dieser herausarbeiten und anfangen nach Autonomie zu streben, gelangen wir zu einem selbstbestimmtem und sozial-revolutionärem Handeln. Im Anarchismus insgesamt werden damit alternative Denkweisen und Handlungsmöglichkeiten zu ‚linker‘, ‚demokratischer‘, ‚basisdemokratischer‘, ‚radikaler‘, ‚radikal-realer‘ oder sogar zu ‚revolutionärer‘ Politik aufgezeigt.
Nun könnten wir also sagen, Anarch@-Syndikalist*innen lehnen das Politikmachen ab, wofür sie gute Gründe anführen können. Sie organisieren sich in Syndikaten, führen Arbeitskämpfe, richten keine Appelle an die Politik, verbreiten ihre Ideen von Selbstorganisation, Autonomie etc. und damit hat sich die ganze Angelegenheit. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie mit dieser Herangehensweise handlungsfähiger und wirkmächtiger werden, als Menschen, die auf herkömmliche Parteipolitik setzen und sich wundern, warum die „richtigen“ Politiker*innen dauernd ihre Wahlversprechen brechen. So etwas desillusioniert Leute, die ohne kritisches Politikverständnis häufig aufgeben, überhaupt noch etwas verändern zu wollen. Selbstorganisation, direkte Aktion, emanzipierende Bewusstseinsbildung – das geschieht doch alles schon in den Syndikaten. Politik erscheint dagegen suspekt, langwierig, langweilig, hemmt die Initiative, ist bürokratisch, hierarchisch, nicht authentisch … Lassen wir sie doch einfach hinter uns!
Leider gibt es fünf Probleme, die es zumindest schwierig machen und vielleicht auch strategisch nicht sinnvoll erscheinen lassen, dass sich Anarch@-Syndikalist*innen die Politik völlig egal sein lassen.
Erstens: Die meisten Menschen können sich kaum vorstellen, dass sie sich – entgegen der Politik in ihrer Form unter der bestehenden Herrschaftsordnung – in ‚komplexen‘ Gesellschaftsformen selbst organisieren können. Dies liegt aber (der verwendeten Definition nach) nicht daran, dass Menschen an sich ‚politische Wesen‘ seien und dass sich der moderne Nationalstaat quasi als unliebsame, aber doch logische Konsequenz aus dieser angeblich anthropologischen Veranlagung nach Autorität, Hierarchie und Zentralisierung mehr oder weniger automatisch herausgebildet hätte. Er ist eine mit kapitalistischen Klasseninteressen verbundene, meist brutal aufgezwungene und durchgesetzte Form politischer Herrschaft, welche den Rahmen und die Funktionsweise des politischen Terrains bestimmt. Mit dem Anarch@-Syndikalismus soll außerhalb und gegen Politik gehandelt werden. Die Bedeutung der verstaatlichten Politik für die Herstellung von Öffentlichkeit, gemeinsamen Entscheidungen und ihrer Umsetzung ist daher teilweise eine ideologische Fiktion (wie es auch eine Fiktion ist, dass die politische Macht im Parlament läge, statt in den Ministerialbürokratien).
Die Verstaatlichung von Politik ist aber zugleich manifestiert. Viele Menschen müssen notwendigerweise im Glauben an die Notwendigkeit staatlicher Politik verhaftet bleiben, weil andere Organisationsformen marginalisiert, also klein gehalten und an den Rand gedrängt werden. Dies geschieht bspw. mit anarch@-syndikalistischen Gewerkschaften, weil sie nicht in der dominanten politischen Logik vorkommen. Wenn sie als (potenziell) sozial-revolutionäre Minderheiten mehr werden wollen, gilt es bisweilen auch beim politischen Bewusstsein von Menschen anzudocken, um plausible Erklärungen dafür anzubieten, warum „die“ Politik permanent versagt, nicht die eigenen Interessen vertritt und welche alternativen Formen es zu ihr gibt.
Zweitens kam und kommt es immer wieder durch eine Vereinnahmung von anarch@-syndikalistischen Gewerkschaften durch politische Akteur*innen. Dies können z. B. auch heute auf lokaler Ebene sozialdemokratische, leninistische oder trotzkistische Gruppen sein, welche sich offen oder verdeckt als politische Vertretung anbieten und wenn sie mit ihren Führungsansprüchen auf Ablehnung stoßen von „Spaltung“ sprechen. Historisch ging es bei der Formierung der Dritten Internationalen Arbeiterassoziation darum, alle Gewerkschaftsverbände der bolschewistischen Parteidoktrin zu unterwerfen. Anarch@-Syndikalist*innen gründeten deswegen 1922 ihre eigene Internationale Arbeiter-Assoziation – womit sie sich explizit den anti-politischen Zielsetzungen der Ersten Internationalen verpflichtet fühlten. Die basisgewerkschaftlichen Erfahrungen mit der politischen Dimension waren jedenfalls immer wieder schlechte. Das Problem ist aber, dass dies teilweise auch der Nichtbeschäftigung mit der Politik und gelegentlich einer bornierten Fokussierung auf die Ökonomie geschuldet ist. Ob es deswegen eine Doppelstruktur von ökonomischen und politischen Organisationen geben kann und sollte, wird unten diskutiert.
Drittens gibt es innerhalb von Syndikaten gelegentlich auch politische Konflikte. Dies liegt an den verschiedenen ökonomischen Positionen und Situationen ihrer Mitglieder, als auch an ihrer unterschiedlichen politisch-weltanschaulichen Prägung. Der Grundgedanke ist zwar, dass diese durch die Synthetisierung des gemeinsamen Interesses hinten angestellt werden sollen. Tatsächlich ist dieses aber nicht einfach ‚objektiv‘ definierbar und es gibt abweichende Vorstellungen davon, mit welchen Strategien es hergestellt werden kann. Unterschiedliche Ansichten führen regelmäßig zu Konflikten. Und in einigen Fällen bedeutet dies auch, diese als politische Konflikte zu verstehen und zu handhaben. Wie man sich gegenüber linken Parteien, bewegungslinken Gruppen oder anderen sozialistischen Gruppierungen anhand konkreter Themen verhalten soll (z. B. Beteiligung an Demos) ist eine politische Frage, die nicht im Fokus stehen sollte, aber auch nicht permanent ausgeblendet werden kann.
Viertens kommt in verschiedenen Syndikaten in unterschiedlicher Ausprägung immer wieder die Frage auf, welchen Stellenwert andere Kampffelder für die eigene Praxis haben. Arbeitskämpfe und gewerkschaftliche Organisierung stehen in der anarch@-syndikalistischen Tätigkeit im Vordergrund – das ist eindeutig. Wie aber sollen sich Anarch@-Syndikalist*innen zu den Themen und Kampffeldern Feminismus, Anti-Rassismus, Ökologie und zu weiteren sozialen Kämpfen, z. B. Mieter*innen-Initiativen verhalten? Argumentiert wird, dass es andere politische Gruppen gibt, welche sich diesen Themen widmen, kaum aber selbstorganisierte Gewerkschaftsarbeit. Dieses Feld effektiv bearbeiten zu können, verlange eine Fokussierung und ein erkennbares Profil. Wenngleich das Argument nachvollziehbar ist, ändert es nichts daran, dass FLINTA und Migrant*innen systematisch stärker ausgebeutet werden, schlechtere Jobs erhalten und an ihren Arbeitsplätzen diskriminiert werden. Es ändert nichts daran, dass die ökologische Zerstörung auch eine Klassenfrage ist und dass steigende Mieten insbesondere jene sozialen Klassen und Milieus betreffen, welche Anarch@-Syndikalist*innen erreichen wollen. Meine Antwort darauf wäre die Bezugnahme auf ein intersektionales Verständnis von ökonomischen Kämpfen. Die anderen Themenfelder sollten nicht von Basisgewerkschaften mit bearbeitet werden, aber mitgedacht und mit in die Analyse und – wo es sich anbietet – in die eigene Kommunikation einbezogen werden. Dazu gälte es zumindest in größeren Abständen eine grundsätzliche politische Debatte zu führen.
Schließlich stellt sich abschließend auch im Anarch@-Syndikalismus die Frage nach der Präfiguration einer erstrebenswerten Gesellschaft. Das bedeutet: Wie lässt sich ein libertärer Sozialismus als konkrete Utopie denken und in unsere heute angewandten Praktiken einbeziehen, sodass wir ihn bereits verwirklichen? In ökonomischer Hinsicht sollen dem Anspruch nach das Privateigentum vergesellschaftet und Unternehmen in Selbstverwaltung überführt werden. Die Arbeit soll nach den jeweiligen Fähigkeiten möglichst ähnlich verteilt sein, sich sinnvoll anfühlen und freiwillig getan werden. Um dies realisieren zu können, braucht es auch für die anarch@-syndikalistische Perspektive zumindest eine Grundvorstellung davon, wie Gemeinwesen organisiert werden. Hierbei geht es um ihre Organisationsformen, die Schaffung einer geteilten Öffentlichkeit, gemeinsamen Entscheidungsprozessen etc. angefangen bei den Nachbarschaften. Ob wir diese Angelegenheiten letztendlich als politische Dimension bezeichnen, ist wenig bedeutend, wenn es libertär-sozialistischen Kräften gelingen sollte, tatsächlich einen qualitativ anderen Modus in der Selbstorganisation autonomer und dezentraler Gemeinwesen zu realisieren. Wenn Anarch@-Syndikalist*innen ihrem Anspruch treu bleiben wollen, Keimzellen der kommenden Gesellschaft zu sein (mit allen Widersprüchen und Unzulänglichkeiten, die das mit sich bringt, was den Anspruch nicht weniger richtig macht), scheint mir die Herausbildung eines geteilten Grundverständnisses in Hinblick auf alternative Gemeinwesen sinnvoll zu sein.
Die formulierten Gedanken stammen aus einer Doktorarbeit zur politischen Theorie des Anarchismus, die Jonathan Eibisch Anfang 2022 eingereicht hat. Darüber hinaus gibt er regelmäßig Veranstaltungen zu damit verbundenen Themen in selbstorganisierten Kontexten und schreibt auf paradox-a.de.
Beitragsbild von Jonathan Eibisch
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