Ein Beitrag zur politischen Theorie des Anarchismus.
Im Umgang mit der politischen Sphäre haben sich im anarchistischen Syndikalismus im Wesentlichen vier verschiedene Richtungen herausgebildet. Gruppen, die sich so bezeichnen, letztendlich aber tatsächlich bloß wie linke politische Gruppen agieren (also z. B. nur Propaganda machen, sich im Plenum organisieren, vor allem an linken Demos teilnehmen, keine Arbeitskämpfe führen usw.), sind tatsächlich nicht dazu zu zählen.
Ein Strang bezieht sich darauf, eine Gewerkschaft für alles sein zu wollen. Dahinter liegt die Vorstellung, dass in den ökonomischen Fragen die politischen letztendlich enthalten wären. Wenn die Produktionsstätten übernommen und das Privateigentum durch Arbeitskämpfe vergesellschaftet werden, wäre dies die grundlegende Voraussetzung für eine Reorganisation der gesamten Gesellschaft, die dann ebenfalls nach anarch@-syndikalistischen Vorstellungen umstrukturiert werden könnte. Émile Pouget trat z. B. als prominenter Vordenker der Anarch@-Syndikalismus für diese Herangehensweise ein. Mit dieser Fokussierung lässt sich auch ein gewisses Selbstbewusstsein und eine Schlagkraft erzeugen. Meiner Ansicht nach ist sie aber verkürzt. Es ist berechtigt, gewerkschaftliche Fragen etc. in den Vordergrund zu stellen. Die Transformation der Gesellschaft in Richtung eines libertären Sozialismus muss aber auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen Mitteln stattfinden.
Ein anderer Strang bezieht sich auf den organisatorischen Dualismus, wie ihn bspw. Michael Schmidt und Lucien van der Walt befürworten. Sprich, neben den anarch@-syndikalistischen Gewerkschaften soll es politische anarchistische Netzwerke geben, welche insbesondere Propaganda, Bewusstseinsbildung und öffentlichkeitswirksame Aktionen betreiben. Erstere sollen Massenorganisationen sein, während letztere durch überzeugte, militante Aktivist*innen gebildet werden. Während der sozialen Revolution in Spanien wurde dieses Verhältnis anhand der CNT und der FAI (bis zu ihrem Regierungseintritt) relativ erfolgreich praktiziert, was im Deutschland der Weimarer Republik zwischen FAUD und FKAD (Föderation Kommunistischer Anarchisten Deutschlands) nicht wirklich funktionierte. In jüngster Zeit wurde die „Plattform“ gegründet, welche in einem solchen Verhältnis gesehen werden könnte. Aus bestimmten Gründen glaube ich allerdings nicht, dass damit perspektivisch ein organisatorischer Dualismus im eigentlichen Sinne gelingen kann. Vor allem in der BRD sehen Menschen oft bewegungslinke Netzwerke aus einer eher kommunistischen Tradition wie die Interventionistische Linke als Partner*innen-Organisation auf dem politischen Gebiet an. Meiner Ansicht nach besteht aber weiterhin eine politische Leerstelle, die von Anarchist*innen offenbar nicht (adäquat) gefüllt wird.
Die dritte Richtung lässt sich in einer Tradition verorten, die Christiaan Cornelissen vorgedacht hat. Ihm ging es darum, die ökonomischen Kämpfe des Anarch@-Syndikalismus im Verhältnis zu bestimmten politischen Kämpfen zu sehen, wobei er sich in seiner Zeit und seinem Kontext vor allem auf den Anti-Militarismus, den Anti-Klerikalismus und die Genossenschaftsbewegung bezieht. Hierbei geht es um mehr als außerparlamentarische Politik, sondern – wenn man so will – um antiparlamentarische sozialistische Politik „auf der Straße“. Im Unterschied zum organisatorischen Dualismus wäre es demnach nicht eine explizit anarchistische Organisation (oder ihr Ersatz), welche die politischen Fragen bearbeiten soll, sondern verschiedene, voneinander unabhängige soziale Bewegungen, die oftmals ineinander übergehen. Trotzdem geht es in den Basisgewerkschaften weiterhin hauptsächlich um das ökonomische Gebiet. Diskutiert werden könnte, ob dieser Ansatz mit dem vergleichbar ist, was ich oben als „intersektionalen Klassenkampf“ beschrieben habe.
Einen vierten Strang sehe ich in den Vorstellungen von Rudolf Rocker. Ich nenne sie Gelegenheitspolitik. Rocker betont, dass der Vorwurf, Anarch@-Syndikalist*innen seien „unpolitisch“, völlig falsch ist. Vielmehr würden sie aus politischen Gründen nicht wählen, weil die politische Sphäre des bürgerlich-kapitalistischen Staates gepresst werde. Der Fokus liegt selbstverständlich auch hier auf Arbeitskämpfen und gewerkschaftlicher Organisierung. Aber wo es Sinn ergibt, sollten sich anarchistische Syndikalist*innen z. B. auch an Demos aktiv beteiligen, die herrschende Politik differenziert kritisieren oder über alternative politische Modelle nachdenken und für sie werben. Deswegen trat Rocker auch aktiv für die Rätedemokratie ein und bezeichnete sie als adäquate politische Organisationsform für eine libertär-sozialistische Gesellschaft. (Das Rätemodell wurde in der Russischen Revolution 1905 erstmalig entwickelt. Im Grunde genommen handelt es sich hierbei um die Fortsetzung und Erneuerung des Konzeptes dezentraler autonomer Kommunen seit 1870).
Wie aus der Darstellung hervorgeht, halte ich den ersten Ansatz der einen Gewerkschaft für alles zwar für nachvollziehbar, aber insgesamt für zu kurz gedacht. Der organisatorische Dualismus ist in meinen Augen schon plausibler, ändert aber nichts an den Gründen dafür, dass es eine politische Leerstelle gibt und kann auch sehr schematisch und dogmatisch gedacht werden. Sympathien habe ich eher für ein gutes Verhältnis von anarch@-syndikalistischen Gewerkschaften zur selbstorganisierten sozialistischen Politik in verschiedenen Bereichen und für den Ansatz der Gelegenheitspolitik. Damit verstehe ich den anarchistischen Syndikalismus vor allem als soziale Bewegung. Inwiefern diese sich mit anderen Bewegungen überschneidet oder kooperieren kann, hängt davon ab, ob bei diesen ein ähnliches Politikverständnis, und ein Streben nach Autonomie und Selbstorganisation ausgeprägt sind.
Letztendlich ist dies aber eine einzelne Position, die nicht an sich richtiger als andere ist. Wie gesagt, ging es mir in diesem Beitrag vor allem darum, Grundüberlegungen im anarchistischen Syndikalismus abzubilden, zu reflektieren und diskutierbar zu machen.
Es ist deutlich geworden, dass ich in Widersprüchen argumentiert habe. Auf der einen Seite habe ich festgestellt, dass eine radikale Kritik an der Politik, eine Distanzierung zu ihr, die Entgegensetzung der ökonomischen Sphäre und die Bezugnahme auf diese, charakteristische Merkmale des anarchistischen Syndikalismus sind. Andererseits habe ich herausgearbeitet, dass sich beim alleinigen Fokus auf die Ökonomie und der völligen Ausblendung der politischen Sphäre eine Leerstelle entsteht, welche die Anliegen von Anarch@-Syndikalist*innen langfristig untergraben kann. Dies gilt insbesondere, wenn sie weder die vergangene anarch@-syndikalistische Tradition fetischisieren, noch bloß eine Spartengewerkschaft bleiben, sondern tatsächlich eine konstruktive sozial-revolutionäre Perspektive herausarbeiten wollen. Der Widerspruch zwischen Politik und anti-politischen Bezugspunkten und Momenten ist kein logisches Problem, sondern ergibt sich aus der Tatsache, dass Politik sich in der gegenwärtigen Gesellschaftsform als Herrschaftsverhältnis des Regierens konstituiert, häufig dem Staat zugeordnet und von diesem vereinnahmt wird.
Meinem Argumentationsgang nach ist der Anarch@-Syndikalismus deswegen nicht apolitisch oder unpolitisch. In theoretischen Begriffen ist er vielmehr als (anti-)politisch zu verstehen. Das heißt, Politik sollte weiterhin kontinuierlich skeptisch beäugt und kritisiert werden. Es lohnt sich selbstkritisch im Umgang mit unseren Vorstellungen von „Politik“ zu sein und uns die Frage zu stellen, welche anderen Handlungsmöglichkeiten es gibt oder welche wir bereits praktizieren (auch über anarch@-syndikalistische Aktivitäten hinaus …). Das Problem mit der Politik lässt sich nur in dem Maße überwinden, wie die dominanten kapitalistischen und staatlichen Herrschaftsverhältnisse (sowie jenen der Herkunft/zugeschriebenen Ethnie, in den Geschlechter- und den Naturverhältnissen) prozesshaft durch libertär-sozialistische gesellschaftliche Verhältnisse ersetzt werden. Prinzipiell lassen sich die uns auferlegten Bedingungen des politischen Feldes und der enormen Ungleichheit politischer Macht immer weiter abbauen und verringern – was allerdings keine Frage guter Konzepte, sondern von Gegen-Macht ist.
Die Verwobenheit von ökonomischen und (anti-)politischen Kämpfen lässt sich im Anarch@-Syndikalismus nicht einfach auflösen. Und der Grund dafür ist, dass er sowohl historisch wie ebenso heute aus der Fusion von Basisgewerkschaftsaktivist*innen, enttäuschten Parteisozialist*innen und bewegungsorientierten Anarchist*innen hervorgeht. Nur weil bspw. Pouget, Cornelissen, Rocker und andere Anarchist*innen waren, die sich dann der Gewerkschaftsarbeit zuwandten, unterscheiden sich anarch@-syndikalistische Gewerkschaften von Spartengewerkschaften – was sie interessant macht. Wie gesagt, kommen meiner Vorstellung nach auch Anarch@-Syndikalist*innen nie ganz um die Politik herum, so problematisch sie auch ist. Dass sich das Spannungsfeld zu ihr nicht einfach auflösen lässt, ermöglicht andere Einsichten und Praktiken.
So wurde und wird die direkte Aktion entwickelt, um Unternehmer*innen direkt zu konfrontieren, anstatt über die durch Politiker*innen geleitete und vorgeprägte Verhandlung zu gehen oder vom Staat Sozialpolitik zu fordern. Wenn soziale Gesetze erlassen werden, welche für viele Menschen eine Verbesserung ihrer Lebenssituation darstellen, dann kann und soll dies nicht durch politische Forderungen (egal ob parteimäßig oder außerparlamentarisch) geschehen, sondern durch den Druck einer autonomen Selbstorganisation von unten. Statt auf sozialere Gesetze zu vertrauen, ist es entscheidend, dass diese lebenspraktisch Realität werden. So nutzt bspw. ein Mindestlohn all jenen nichts, die in Schwarzarbeit gedrückt werden, bringen Arbeitsrechte nichts, wenn sie durch Unternehmer*innen dauernd unterlaufen werden, ist eine gesetzliche Gewerkschaftsfreiheit wenig wert, wenn sie nur für ganz bestimmte Gewerkschaften gilt oder durch Repression verunmöglicht wird.
Hinter der hier dargestellten Position und Denkweise steht weiterhin die Bezugnahme auf eine sozial-revolutionäre Perspektive. Damit geht es nicht darum, immer mehr, aktiver oder ernsthafter zu handeln und zu kämpfen. Stattdessen stellt sich die Frage, wie anarch@-syndikalistische Praxis verstanden und mit welchem Anliegen sie umgesetzt wird. Auch wenn die konkrete Utopie einer libertär-sozialistischen Gesellschaftsform weit entfernt scheint, lohnt sich auch in unseren Alltagskämpfen die Orientierung auf sie. Denn es sollte ums Ganze und die grundlegende Veränderung der Rahmenbedingungen unseres Handelns gehen.
Wenn mit dem anarchistischen Syndikalismus eine konstruktive Herangehensweise verbunden wird, lohnt es sich ebenfalls, die Vision einer libertär-sozialistischen Gesellschaftsform zur Orientierung zu nehmen. Dass wir von ihrer umfassenden Realisierung gefühlte Lichtjahre entfernt sind, ändert meines Erachtens nach nichts an der Sinnhaftigkeit und dem Wert einer solchen Orientierung. Dies bedeutet aber zumindest einige der erstrebenswerten Rahmenbedingungen einer erstrebenswerten Gesellschaftsform konkreter zu benennen (hinsichtlich Vergesellschaftung, Kollektivbetriebe, syndikalistischer Organisationsformen usw.). Ihre Umsetzung bleibt eine Frage der Kräfteverhältnisse und ihrer Änderung, bleibt also eine Frage der Organisation, Bewusstseinsbildung und Aktion libertär-sozialistischer Kräfte – genau dafür dient aber eine geteilte, als machbar und realistisch angenommene Vision. Um diese herausarbeiten zu können, gilt es das Spannungsfeld der (Anti-)Politik, aus welchem auch der Anarch@-Syndikalismus nicht ganz herauskommen kann, besser zu verstehen und einen produktiven Umgang mit ihm zu finden.
Die formulierten Gedanken stammen aus einer Doktorarbeit zur politischen Theorie des Anarchismus, die Jonathan Eibisch Anfang 2022 eingereicht hat. Darüber hinaus gibt er regelmäßig Veranstaltungen zu damit verbundenen Themen in selbstorganisierten Kontexten und schreibt auf paradox-a.de.
Beitragsbild von Jonathan Eibisch
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