Ein Bericht von der „Kantine Sabot“ in Chemnitz (31.7.- 06.08.)
Zum sechsten Mal veranstaltete ein Zusammenhang marxistisch orientierter Personen das „Kantine Festival“ im großen Saal des soziokulturellen Zentrums „Subbotnik“ in Chemnitz. Während in den früheren Auflagen die prominenten Theoretiker*innen Karl Marx, Rosa Luxemburg, Antonio Gramsci, sowie Walter Benjamin und die mittelalterliche Literatin Christine de Pizan zum Thema genommen wurden, entschieden sich die Organisator*innen in diesem Jahr, sich mit einer „Kantine Sabot“ der Geschichte und Theorie des Anarchismus zu widmen. Dieses relativ seltene Ereignis ist eine Besprechung und einen Bericht wert, da der Anarchismus nur selten in einer ausgewiesenen Theorie-Veranstaltung thematisiert wird. Außerdem waren auch FAU-Genoss*innen aus mehreren Städten anwesend, welche sich für inhaltliche Diskussionen interessieren. Wie gewohnt kann ich von dieser Zusammenkunft nur subjektive Eindrücke wiedergeben, zumal ich selbst für den Einführungsvortrag am Montag angefragt wurde, welcher mit den Auftaktworten verbunden, auf youtube hier nachgehört werden kann.
Eine ganze Woche lang kamen um die 200 Interessierte für gemeinsame Bildung, Diskussionen und Begegnung zusammen. Die Orga-Gruppe des Kantine-Festivals entwickelt mit vorbildlicher Kommunikation, ansprechendem Design und einem abwechslungsreichen Programm über die Jahre eine Format, dass insbesondere für radikale Linke ansprechend erschien und dieses Mal aufgrund des Themas auch engagierte Anarchist*innen anzog. Über Uni-Kontexte und selbstorganisierte Lesekreise hinaus, wird damit das offensichtlich vorhandene Bedürfnis von einigen bedient, sich theoretisch mit im weiteren Sinne sozialistischen Denktraditionen zu beschäftigen.
Die gute und zusammenhängende Organisation des Festivals machte es nicht nur leicht, sich im Programm und auf dem Gelände zurecht zu finden, sondern stellt weiterhin eine Wertschätzung für die theoretische Auseinandersetzung und Organisierung dar, welche in anarchistischen Kreisen leider nur manchmal sichtbar gemacht wird. In dieser Hinsicht können Anarchist*innen sich einiges von ihre libertär-kommunistischen Genoss*innen abschauen.
Ausreichend Pausen, ein abwechslungsreiches Abendprogramm mit Lesungen, Konzerten und Bar, ein geeignetes Gelände und die Crew, welche die Versorgung stemmte, schufen eine Atmosphäre, die zum Austausch und durchaus auch zu kontroversen Diskussionen einlud. Meiner Ansicht nach sind es die vorfindlichen Herrschaftsverhältnisse und die Herausforderungen von sozial-revolutionären Praktiken und Aktionen, welche in der Regel nachträglich theoretisch eingeordnet, reflektiert und interpretiert werden. Gerade dafür braucht es Räume und Zeiten, wie sie beim Kantine-Festival geschaffen werden. Ich glaube, auch für die plurale anarchistische Szene wäre eine derartige Bewusstseinsbildung wichtig. Dabei müssen die Teilnehmenden nicht zwangsläufig auf einen gemeinsamen Nenner kommen, aber zumindest eine Selbstverständigung über die eigenen Grundbegriffe anstreben. Alles in allem konnte ich mit anderen wieder mal eine gute Zeit in Chemnitz verbringen, Anregungen für mein eigenes Denken sammeln und meine eigenen Positionen überprüfen.
Wie bereits erwähnt, verstehen sich die Organisator*innen des Kantine-Festivals vornehmlich als Marxist*innen, ohne deswegen einheitliche Ansichten zu vertreten. Die Mottos der vorherigen Veranstaltungsreihen zeigen dabei deutlich, dass sie bisher auch marxistisch geprägte, aber tendenziell „anti-autoritäre“ Linke ansprechen wollte.
Daraus ergab sich in diesem Jahr eine gewisse Unentschiedenheit. So wurden explizit anarchistische Vortragende wie Antje Schrupp zum Streit unter Kommunard:innen in der Pariser Kommune und Vera Bianchi zu Anarchafeminismus eingeladen. Eine Kontinuität von der historischen zur zeitgenössischen anarch@-syndikalistischen Praxis zog Steffi Albicker, während die Machenden des Übertage-Podcast mit Jan Groos und Larissa Schober über „Probleme mit der Übergangsgesellschaft“ diskutierten. Und Redakteur*innen des Magazins Tsveyfl aus einer selbstkritischen Betrachtung des Anarchismus neue Potenziale zur Gesellschaftsveränderung aufspürten.
Weiterhin hielten Sympathisierende wie etwa Detlef Hartmann einen spannenden Vortrag über die Spaltung der IAA und machte die Perspektive der Bewegungsgeschichte stark. Reiner Tosstorff stellte den spanischen Anarchismus dar, Lucien van der Walt stellte anarch@-syndikalistische Ansätze auf dem afrikanischen Kontinent vor und Mario Cravallo machte den Insurrektionalismus vor allem aus dem italienischen Kontext heraus verständlich.
Andererseits sollten scheinbar marxistische Theoretiker*innen den Anarchist*innen erklären, weswegen sie keine Theorie hätten, ihre Praxis verkürzt und widersprüchlich sei und tendenziell reaktionär werden könnte. So etwa präsentierte Peter Bierl einen allzudeutschen Katheder-Sozialismus und kritisierte ökonomische Konzepte im Anarchismus. Heide Gerstenberger erklärte in einem beachtenswert langweiligen Beitrag die materialistische Staatskritik. Samuel Denner verteidigte die Bolschewiki in der Russischen Revolution und rechtfertigte damit implizit deren Herrschaftsanspruch. Und Ewgeniy Kasakow bekam wieder einmal die Gelegenheit, seine Falschbehauptungen über Anarchist*innen zu verbreiten, die er mit bloßen Unterstellungen zementierte.
Wie deutlich wird, erhebe ich nicht den Anspruch einer neutralen Darstellung. Befremdlich erscheint allerdings die Herangehensweise der Organisator*innen, mit welcher sie ihre Beschäftigung glauben rechtfertigen und einordnen zu müssen. Dahinter steckt eine belehrende Einstellung, welche zudem mit einem Wahrheitsanspruch einhergeht, den es zu problematisieren gilt. Über die kontroverse Verhandlung von unterschiedlichen Inhalten und Positionen hinaus, ist damit auch die Form und der Rahmen zu diskutieren, in welcher derartige Debatten stattfinden. So durchlebte ich über die Tage hinweg verschiedene Emotionen und Irritationen bei der Veranstaltung. Durch mehrere Gespräche wurde mir klar, dass bei der theoretischen Betrachtung des Anarchismus einige abstrakte Fragen zu durchdenken sind. Dogmatische Marxist*innen gehen von einer feststehenden Wahrheit aus, welche theoretisch erkannt werden könnte. Undogmatische Kommunist*innen sind bereit, sie mit realen gesellschaftlichen Entwicklungen, ökonomischen Bedingungen und der Verschiebung politischer Kräfteverhältnisse abzugleichen. Dogmatische Anarchist*innen verschiedener Strömungen leiten ihre Wahrheiten aus unmittelbaren Erfahrungen oder vorausgesetzten Grundpositionen ab. Undogmatische Anarchist*innen wissen, dass es stets verschiedene Wahrheiten und Perspektiven gibt, die es kontinuierlich zu vermitteln gilt, um sich dem Ganzen anzunähern.
Was überhaupt Theorie ist, ob theoretische Beschäftigung selbsterklärend ist, ob sie eher Hobby, Leidenschaft oder notwendige Praxis ist, dazu gibt es verschiedene Ansichten. Ebenfalls vermischen sich bei allen von uns theoretische Überlegungen mit ideologischen Bezugnahmen – die es deswegen transparent zu machen und in Hinblick auf unsere eigene Subjektivität zu reflektieren gilt. Schließlich ist es auch nicht ohne weiteres möglich, mit, über und gegen Anarchist*innen zu sprechen, ohne die Methoden zu hinterfragen, mit denen dies geschieht. Auch wenn es immer darauf ankommt, wie diese durchgeführt werden, sind dabei Vorträge alleine nicht das Mittel der Wahl. Dementsprechend gilt es, sich nicht einfach ein paar anarchistische Inhalte anzuschauen und zu diskutieren, sondern der Rahmen, in welchem Wissen produziert wird und die Weise, wie es angewandt wird, zu thematisieren.
Ein Ansatzpunkt dazu stellte der Workshop der Kantine-Crew dar, welche sich mit ihren Thesen zu anarchistischer Staatskritik vermeintlich auf den Anarchismus zu bewegte, tatsächlich aber relativ oberflächlich blieb. Zwar bemängelten die Vortragenden zurecht, dass die Staatskritik im historischen Anarchismus häufig verkürzt erscheint. Der Staat ist nicht einfach das böse Außen, sondern die Verdichtung und Zentralisierung des politischen Herrschaftsverhältnisses. Auch in Hinblick auf Überlegungen zu einer möglichen Gesellschaftstransformation weist der klassische Anarchismus Leerstellen auf. Zudem wurde auch behauptet, dass die Forderung nach Dezentralisierung im Anarchismus nicht ausreichend wäre, um die Organisation einer komplexen Gesellschaftsform vorstellbar zu machen. Doch alle drei Kritikpunkte treffen auf den Stand und die Debatten unter zeitgenössischen anarchistischen Denker*innen nicht zu. Die Vortragenden hätten tiefer schürfen und aktuellere theoretische Beiträge einbeziehen können, um ihre Vorurteile zu entschärfen. Auch wenn sie Texte des zwischen Linkskommunismus und Anarchismus oszillierenden Isaak Steinberg als Vermittlungsangebot anführten, scheint eine ernsthafte Erschließung des komplexen anarchistischen Denkens durch die eigene Voreingenommenheit blockiert zu sein.
Nach einer vollen Woche eines selbstorganisierten Theorie-Festivals bleiben bei mir gemischte Gefühle zurück. Die gute Organisation des Events, interessante Diskussionen und die Begegnung unter Genoss*innen weckten erneut meine Sympathien für die Veranstaltungsreihe in Chemnitz. Gefragt werden kann, wer mit derartigen Formaten angesprochen wird und wozu sie dienen sollen. So gab es unter den Teilnehmenden zwar ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis. Doch waren sie, wie so oft, so gut wie alle weiß und herkunftsdeutsch. Leider trifft das ebenso auf zahlreiche Veranstaltungen unter Anarchist*innen zu und es muss daher weiter aktiv versucht werden, Beziehungen zu Menschen mit anderen Positionierungen und Hintergründen zu knüpfen.
Dies macht die Beschäftigung mit Inhalten auf einem höheren theoretischen Niveau jedoch nicht weniger wichtig. Ganz im Gegenteil sind Theorie-Arbeit und Bewusstseinsbildung wesentliche Voraussetzungen für sozial-revolutionäre und emanzipatorische Organisationen und Aktionen. Für diese sollte es gleichermaßen Räume geben, in denen sich Interessierte intensiv damit beschäftigen, als auch Bildungsveranstaltungen, bei denen Wissen und intellektuelle Fähigkeiten weitergegeben und verbreitet werden. Was die explizite anarchistische Theorie, ihre Diskussion, Weiterentwicklung und Anwendung für Gesellschaftsverständnis, -kritik und -alternativen angeht, wird in anarchistischen Szenen meiner Wahrnehmung nach eine Leerstelle sichtbar. Dabei geht es nicht allein um eine vertiefte inhaltliche Beschäftigung, die für sich genommen zwar nett sein mag, aber einer Einbettung in konkrete Praktiken bedarf, um wirksam zu werden. Theoriearbeit als Tätigkeit und Medium ist auch ein organisatorischer Bezugsrahmen, in welchem kritisch denkende Leute zusammenkommen, die eine ernstzunehmende Sehnsucht nach gesellschaftlichen Veränderungen und umfassender Emanzipation haben.
In anarchistischen Szenen besteht häufig eine Skepsis gegenüber Expertentum, ein Unbehagen mit Vortragsformaten, ein offeneres und prozesshafteres Verständnis von Wahrheit, sowie die Forderung danach, dass Wissen allgemeinverständlich und anwendungsbezogen sein soll. Dies hat verschiedene Gründe und seine Berechtigung. Wenn verschiedene anarchistische Strömungen wachsen und an Relevanz gewinnen wollen, sind jedoch weder das Lernen aus der praktischen Erfahrung und sozialen Kämpfen allein, noch die punktuelle Adaption von Fragmenten aus verschiedenen brauchbar erscheinenden Theorietraditionen genug. Ich meine, es braucht einen organisierten Rahmen für die Erarbeitung expliziter anarchistischer Theorien und eine systematische und kontinuierliche Beschäftigung mit ihnen. Diese sollen nicht nur den Inhalten nach, sondern ebenso in ihren Formen und ihren Zwecken anarchistisch sein. Darüber hinaus ist der Austausch mit Anhänger*innen verwandter Strömungen aber weiterhin wichtig, inspirierend und produktiv. In vielerlei Hinsicht lässt sich dahingehend einiges vom Kantine-Festival lernen.
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