Relevanz und Möglichkeiten der Erwerbslosen Selbstorganisation.
Immer wieder wurden im Kampf gegen Arbeit, Kapitalismus und den Sozialstaat Diskussionen über die Sinnhaftigkeit und die Möglichkeiten einer langfristigen (Selbst-)Organisation von Erwerbslosen geführt. Dieser Text soll einen Beitrag zur Diskussion leisten und der Arbeit und den Ideen der Erwerbslosen [1] Der Begriff „Erwerbslose“ wird in diesem Text genutzt, auch wenn er nicht vollständig passend ist. Der Begriff „Arbeitslose“ wird hier nicht genutzt und ist abzulehnen, da ein Mensch ohne Lohn-Arbeit sein kann, dieser trotzdem Arbeit verrichtet. Dazu zählen Ehrenamt, Haus- oder Sorgearbeit. Auch der Begriff „Lohn-Arbeitslose“ ist unpassend, da viele Menschen die im Leistungsbezug des Sozialstaates stehen, in Lohnarbeit sind. So gibt es beispielsweise die sogenannten Aufstocker:innen, die in Lohnarbeit unter dem Hartz4 Niveau verdienen und deshalb noch zusätzliche Zahlungen durch das Jobcenter erhalten. Ihr Lohn wird also „aufgestockt“, dies bezeichnen viele als staatlich subventioniertes Lohndumping. In diesem Text geht es nicht nur um Hartz4 Empfänger:innen/ Bezieher:innen, daher wird auch dieser Begriff nicht genutzt. Mit Erwerbslosen sind alle Menschen gemeint, die entweder keinen Lebensunterhalt haben oder ihren ganzen oder einen Anteil ihres Lebensunterhalts durch Sozialleistungen des Staates beziehen und von diesen abhängig sind oder sonst von Lohn abhängig wären, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Diese sind nicht alle (vollständig) erwerbslos, aber es mangelt schlicht und einfach an einem besseren Begriff. Sozialleistungen meinen: Hartz4, Sozialhilfe, BAföG, Rente, Wohngeld, Krankengeld, etc.Selbstorganisation [3] Dieser Text wird nur auf Selbstorganisation eingehen . Sozialarbeiter:innen, Kader, oder Funktionär:innen können nicht die Interessen der Betroffenen vertreten. Nur die Betroffenen selbst können ihre eigenen Bedürfnisse und Lebensbedingungen einschätzen und müssen ihre Kämpfe für sich selbst führen. der Freien Arbeiter:innen Union eine Bühne bieten. Der erste Teil wird auf die Notwendigkeit der Selbstorganisation von Erwerbslosen eingehen, der zweite bietet konkrete Widerstandsperspektiven.
Bei der Erwerbslosen Selbstorganisation handelt es sich um einen Kampf gegen den Sozialstaat. Dieser ist ein erheblicher Faktor in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Er schafft den Rahmen der Lohnabhängigkeit unserer Klasse. Ohne den ökonomischen Druck, der durch Sozialleistungen entsteht, die nicht zum Leben reichen, wären wir nicht in der Notlage, zum Überleben auch Arbeit annehmen zu müssen, die schlecht bezahlt oder unter miserablen Arbeitsbedingungen stattfindet. Arbeiter:innen hätten den Verlust ihrer Lohnarbeit weit weniger zu fürchten, wenn sie auch ohne Lohnarbeit nicht von Armut bedroht wären. Dies würde ihnen ermöglichen, sich viel besser gegen ihre Ausbeutung zur Wehr zu setzen.
Die Schlussfolgerung daraus scheint auf den ersten Blick einfach: Erhöhungen der Sozialleistungen. Auf den zweiten Blick fällt allerdings auf, dass wir als arbeitende Klasse damit immer vom Staat als Institution abhängig wären.
Aus diesem Grund ist zweigleisige Organisation notwendig. Auf der einen Seite sollten wir bessere Sozialleistungen erkämpfen, auf der anderen Seite müssen wir aber Strukturen schaffen, die uns von diesen unabhängig machen. Eigene Solidaritätskassen, in die wir gemeinsam einzahlen, um unsere Mitglieder vor der ökonomischen Bedrohung der Erwerbslosigkeit zu schützen und soziale Konsum- und Wohn-Netzwerke sind nur ein paar von vielen Ideen, die diese Unabhängigkeit ermöglichen. Darauf wird später weiter eingegangen.
Ohne eine gemeinsame Organisierung von Lohnarbeitenden und Erwerbslosen kann durch den dauerhaften Wechsel vieler Menschen zwischen Lohnarbeit und Erwerbslosigkeit keine dauerhafte Organisation gewährleistet werden. Um dynamisch zu reagieren, muss eine solche Struktur föderal aufgebaut sein, da föderale Organisationen durch ihre geringere Größe eine direktere Anbindung an ihre Basis haben und durch die lokale Aufteilung auf die jeweils vorherrschenden Bedingungen besser reagieren können. Eine überregionale Organisation dieser föderalen Strukturen ist trotzdem notwendig, da lokal nur wenig Wirkmacht vorhanden ist.
Dafür eignet sich die Struktur der Freien Arbeiter:innen Union (FAU), da sie all diese Anforderungen erfüllt. Jedes FAU Mitglied in Lohnarbeit profitiert zugleich mit, da es für den Fall, selbst in Erwerbslosigkeit zu geraten, abgesichert ist. Lokale unabhängige Erwerbslosen Organisationen wie BASTA aus Berlin haben diese Vorteile nicht und sind daher leider nur bedingt dazu in der Lage diesen Teil des Kampfes gegen den Kapitalismus zu organisieren.
Damit hätte sich das Grundsätzliche erklärt und es wird nun damit fortgefahren, wie diese Widerstandsperspektiven in der Praxis aussehen können. Diese Methodensammlung ist keine abgeschlossene Liste, sondern kann und muss sich in der Praxis stetig erweitern.
Um den Widerstand auf den Weg zu bringen, sind als erstes betroffene Menschen nötig, die sich gemeinsam gegen das Sozialhilfesystem organisieren wollen. Es lohnt sich heraus zu finden, welche Mitglieder der lokalen Syndikate von Sozialhilfe abhängig sind und diese miteinander zu vernetzen. Natürlich ist es auch sinnvoll, Nicht-FAU-Mitglieder in diese Struktur einzubinden. Sie lassen sich im Bekanntenkreis, in den zuständigen Behörden (zum Beispiel im Jobcenter), den Tafeln, bei anderen Erwerbslosen Gruppen oder auf Erwerbslosen Stammtischen finden. Es kann sich auch lohnen, eigene Stammtische zu gründen. Viele Erwerbslose sind von Vereinzelung betroffen, da ihnen auf Grund ihrer finanziellen Situation soziale Teilhabe verwehrt bleibt. Allein dafür lohnen sich diese Stammtische bereits.
Sobald sich ein paar Betroffene gefunden haben, können sie anfangen sich gegenseitig zu Amtsterminen zu begleiten, die Briefe und Forderungen der Ämter gemeinsam auf Rechtmäßigkeit zu prüfen, sowie gegen diese zu widersprechen und überlegen zu klagen. Falls sie sich bei rechtlichen Fragen nicht sicher sind, hilft es, wenn sie sich im Internet informieren oder weitere FAU-Erwerbslosen Organisationen anfragen. Sie können außerdem an Schullungen über Sozialleistungen teilnehmen oder diese bei sich selbst organisieren.
Es ist wichtig, gesammelte Erfahrungen zu dokumentieren. Diese können so besser geteilt werden. Das hilft neue Menschen zu aktivieren und ihnen Wissen zugänglich zu machen. Damit können die Erfahrungen von „Alten Hasen“ für alle in den Gruppen nutzbar gemacht werden und sie bleiben unabhängig von Einzelpersonen. Mittlerweile gibt es online einige Angebote, die kostenfrei so manches an Arbeit abnehmen. FAU-intern gibt es bereits einiges Wissen über Sozialrecht wie thematisch spezialisierte Workshops, die allen Mitgliedern offen stehen.
Neben dem Widerstand gegen das Sozialleistungssystem im rechtlichen Bereich, ist es auch sinnvoll, sich in weiteren Lebensbereichen solidarisch zu unterstützen. Vor allem Reproduktionsarbeit wie Haareschneiden, Kinder- und Tierbetreuung, gemeinsames Nutzen von Autos, Werkzeugen, Gärten, gemeinsames Einkaufen, Kochen, Organisation von Spenden und vieles mehr lohnt sich kollektiv zu organisieren. Damit können sich betroffene Menschen gegenseitig entlasten und Arbeit abnehmen.
Das schafft große Erleichterung. Der rechtliche Widerstand kann frustrierend und trocken sein, da ständig auf Gerichte und Entscheidungen gewartet werden muss. Sich im Alltag solidarisch zu organisieren, ist ebenfalls Widerstand und schafft positive Erfahrungen untereinander. Außerdem ist das eine Möglichkeit mit weiteren Menschen in Kontakt zu kommen und sich über die verschiedenen Lebenssituationen auszutauschen. Dadurch können weitere Menschen solidarisch eingebunden und zum Widerstand ermutigt werden.
Das alles sind effektive Mittel gegen die Vereinzelung durch den Kapitalismus.
Um eine langfristige Organisation aufzubauen, ist ein stetiges Wachstum wichtig, dieses darf aber nicht auf die Kosten der Anbindung der einzelnen Mitglieder an die Organisation gehen. Eine für alle Beteiligten transparente und möglichst Hierarchie arme Struktur ist dafür notwendig. Ob die Aktionen und Hilfen erfolgreich sind und ob sich alle Beteiligten wohl fühlen, muss dauerhaft reflektiert werden. Ein solidarischer, selbstkritischer und möglichst diskriminierungsfreier Raum ist dafür notwendig.
Kundgebungen vor dem Jobcenter, Aktionstage wie zum Beispiel der 2. Mai (Tag der Erwerbslosen), Infostände über Armut in der eigenen Stadt, die Veröffentlichung von erfolgreichen Kämpfen in den Sozialen Medien oder Auftritte im Lokal-Fernsehen sorgen nicht von jetzt auf gleich für eine Mitgliederexplosion, machen aber die Erwerbslosen Initiative langsam immer bekannter und sorgen für immer mehr Fälle. Dass nicht alle Personen, die Hilfe in Anspruch nehmen, auch aktiv oder gar Mitglied werden, darf die Aktiven nicht zu sehr frustrieren. Wenn selbst nur jeder zehnte Fall zum Wachstum führt, bringen doch alle Erfahrungen mit, die der Organisation hilfreich sind.
Besonders oft sind rassifizierte, behinderte und geschlechtlich marginalisierte Menschen von Sozialleistungen abhängig und benötigen besondere Unterstützungsangebote. Dolmetschen und FLINTA-Beratungen sind Beispiele dafür.
Wenn in mehreren FAU-Syndikaten Erwerbslosen-Gruppen aktiv sind, ist es sinnvoll wenn diese eine bundesweite Sektion gründen. In diese FAU Erwerbslosen-Sektion können große Aktionen gegen Hartz-4 geplant, einzelne kleinere Erwerbslosen-Gruppen unterstützt und eine Solidaritätskasse eingerichtet werden. Aus dieser Kasse könnten die bundesweiten Aktionen, Prozesskosten und ein finanzieller Ausgleich für Sozialleistungsausfälle finanziert werden. Eine solche Kasse würde durch Mitgliedsbeiträge gefüllt werden. Da viele Leistungsausfälle rechtswidrig sind und dies, dank der Organisierung geprüft, erkannt und im Zweifelsfall dagegen geklagt werden kann, wären Sanktions-Ausgleiche oft nur kurzzeitige Ausgaben.
Die Erwerbslosen-Sektion und die lokalen Erwerbslosen Gruppen sollten sich mit weiteren Gruppen vernetzen, wie Mieter:innen-Vereine und Kiez-Kommunen. Wer von Sozialleistungen lebt, ist schnell von Wohnungslosigkeit bedroht. Die Zusammenarbeit mit solchen Gruppen bietet die Möglichkeit, rechtlich zu helfen, Räumungen zu verhindern und auch Mietstreiks zu organisieren. Es ist durchaus sinnhaft, diese Strukturen auch in die FAU einzubinden, um aus der Basis heraus alle Kämpfe der arbeitenden Klasse gemeinsam führen zu können.
Eine Zusammenarbeit mit Gefangenen-Organisationen ist ebenfalls wichtig. Armut wird oft kriminalisiert und sorgt dafür, dass viele Menschen wegen ökonomischen Gründen im Gefängnis landen. Gefangene geraten meist nach der Haft in Sozialleistungsbezug. Wie schon erwähnt, sind marginalisierte Menschen besonders armutsgefährdet. Deswegen ist auch eine Zusammenarbeit mit antirassistischen, queeren, feministischen und anti-ableistischen Organisationen notwendig.
„Zahltag“ nannte sich eine Aktion, bei der eine große Gruppe Menschen ins Jobcenter ging und die Auszahlung von nicht bearbeiteten Hartz4-, Wohnkosten- und Mehrbedarfs-Anträgen verlangte. Die Büroräume wurden blockiert, bis den Forderungen nachgekommen wurde. Diese oder ähnliche Aktionen kann die Erwerbslosen-Vernetzung bundesweit organisieren und so massenhafte Aufmerksamkeit erregen. Mit einer großen Aufmerksamkeit kann eine gesellschaftliche Debatte über Erwerbslosigkeit angestoßen werden. Die Gefahr einer bürgerlichen Vereinnahmung der Themen hierbei besteht, die Aufmerksamkeit sorgt aber auch für ein bekannter werden der FAU und ihrer Inhalte. So können höhere Regelsätze, keine Mietobergrenze, Elterngeld und vieles mehr erkämpft werden. Auch Betriebe, die „Maßnahmen durchführen“, also Hartz4-Beziehende als billige „1€-Jobber“ ausbeuten, können so angegriffen werden. Dies alles erleichtert es uns, im alltäglichen Leben Energien frei zu machen, um uns in der FAU weiter zu organisieren und weitere eigene Strukturen aufzubauen.
Durch diese Art der Organisation würde eine überregional gut organisierte Masse an Menschen entstehen, die sich solidarisch mit verwandten Gruppen zusammengeschlossen haben. Der Alltag kann immer weiter gemeinschaftlich selbst-organisiert und so nachhaltig gesichert werden. Das schafft Unabhängigkeit von Druck, Strafen und Schikanen der Ämter, Arbeits- und Wohnungsmärkte. Die Bedrohung durch Armut kann immer weiter minimiert werden. Durch gegenseitige Solidarität, Organisierung von Wohnraum, Lebensmitteln und Arbeit können wir uns vom Staat und Kapital immer unabhängiger machen und so unsere Kämpfe immer weiter voran treiben.
Die Arbeitsbörsen [2] Arbeitsbörsen waren Einrichtungen zur kollektiven Verwaltung der Arbeit. Dort entstanden selbstverwaltete Berufsschulen, Arbeitsmuseen und Arbeitsvermittlungen. Auch Arbeitslosigkeit, Rente, Arbeitsunfähigkeit und Reproduktionsarbeit wurden von dort aus gemeinsam verwaltet. Es waren die von den Arbeiter:innen selbstverwalteten Vorgänger von Jobzentren, Arbeitsagenturen und Versicherungen. können wieder entstehen, genau wie basisdemokratische Versicherungen, Erwerbslosen- und Krankenkassen, Konsum- und Wohnkooperativen. Auch die Kollektivierung von Betrieben und die Gründung von neuen Kollektivbetrieben können so voran getrieben werden.
Bis Schritt für Schritt Staat und Kapitalismus obsolet werden.
Beitragsbild: © FAU Schweiz
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