Ein Kommentar zur „Digitalisierung in den Betrieben“
Der Begriff Industrie 4.0 ist in aller Munde. Unternehmensverbände und Bundesregierung sprechen gar von der 4. Industriellen Revolution. Vor über 9 Jahren wurde sie verkündet – doch bis heute gilt: diese Revolution ist ausgeblieben. Gegenwärtig gibt es keine Fabriken, in denen das Internet der Dinge im Betrieb umgesetzt wurde. Seit Jahren reisen Forscher*innen und Journalist*innen zu denselben Musterhallen oder Uni-Einrichtungen. Gleichzeitig erfolgen in den meisten Betrieben gravierende Veränderungen. Digitalisierung ist das neue Schlagwort. Neue Technik oder Rationalisierungsinstrumente trifft es begrifflich jedoch besser.
Was das für die Beschäftigten bedeutet wird klar, wenn man sich einige Beispiele anschaut. Bei Amazon werden Arbeiter*innen als Picker mit einem Chip am Arm eingesetzt, jederzeit erreichbar, ständig überwacht. Die Folge: Abmahnung eines Arbeitnehmers, weil er sich fünf Minuten nicht bewegt hat. Sogenannte Workflow-Management-Systeme verwalten Beschäftigten- und Kundendaten. Einzelne Arbeitsschritte werden durch Algorithmen vorgegeben. Büroarbeit wird dadurch, ähnlich wie in der Industrie, zu Akkordarbeit. Beschäftigte werden unter Druck gesetzt, bis hin zu innerbetrieblicher Konkurrenz über sogenanntes Benchmarking. Teilweise wird es auch absurd: die Personalsoftware Workday verkauft sich inzwischen auch hierzulande sehr gut. Beschäftigtendaten können miteinander verknüpft und ausgewertet werden. Die Firma verkauft einen Algorithmus, mit deren Hilfe Unternehmen Auswertungen erhalten, welche*r Beschäftigte demnächst kündigen wird. Dieses Versprechen ist für Personalabteilungen ein gutes Kaufargument – ob die Vorhersage stimmt oder nicht, rechtfertigen muss sich die/der Arbeitende, die/der auf dieser Liste steht.
In seltenen Fällen äußern sich Unternehmensvertreter*innen überraschend offen zu den Folgen der Digitalisierung: „Wir werden nicht alle Mitarbeiter mitnehmen können“, drohen Personalvorstände aus DAX-Unternehmen in einem Positionspapier. [1]„Die digitale Transformation gestalten – Was Personalvorstände zur Zukunft der Arbeit sagen. – Ein Stimmungsbild aus dem Human-Resources-Kreis von acatech und Jacobs Foundation“, im Internet Die Beschäftigten sehen die Entwicklungen mit Sorge und haben zunehmend Angst um ihre Arbeitsplätze. Mehr als jeder dritte Arbeitnehmer fürchtet den Wegfall von Arbeitsplätzen, meldet der aktuelle BKK Gesundheitsreport. [2]BKK Gesundheitsreport 2017, im Internet
Was das alles konkret für die Beschäftigten heißt, zeigt der Angriff der Kapitalvertreter*innen auf die Arbeitszeit: Wer sich über den Zusammenhang von Digitalisierung und Arbeitszeit Gedanken macht, dem reicht ein Stichwort aus: Cloud. Cloudworking, das Arbeiten in der Wolke quasi, ermöglicht ein Arbeiten unabhängig von Zeit und Raum. Was wie Science Fiction klingt, ist in vielen Betrieben bereits Realität.
Bei aller Unklarheit über die konkreten Auswirkungen der digitalen Arbeit ist schon jetzt klar, dass die neue Technik das Verhältnis von Arbeit und Freizeit radikal verändert. Die Technik, die das Privatleben so erleichtert, die ermöglicht, dass rund um die Uhr aktuelle Nachrichten abgefragt, neue Meldungen fernab der Medienkonzerne gelesen oder Urlaubsziele per Video-Sequenz erkundet werden können, hat ihre negativen Seiten. Sie sorgt durch permanente Erreichbarkeit für Dauerstress und krankmachende Arbeitsbedingungen.
„Mit dem Bearbeiten von beruflichen E-Mails von zu Hause, in der Bahn, im Bus, in Hotelzimmern, in Cafés, auf Dienstreise, nach Feierabend, am Wochenende oder im Urlaub hat sich Arbeiten ‚immer‘ und ‚überall‘ als Normalzustand etabliert“, betont Tanja Carstensen, Soziologin von der Universität Hamburg. [3]https://www.boeckler.de/54153_54167.htm Dem DGB-Index Gute Arbeit zufolge müssen 27 Prozent der Beschäftigten sehr häufig oder oft nach Dienstschluss erreichbar sein. [4]https://www.dgb.de/themen/++co++42a9edc4-fd46-11e4-912c-52540023ef1a Das ist die heutige Situation in vielen Betrieben – aber was wollen die Unternehmen darüber hinaus?
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hat ein Positionspapier veröffentlicht: Chancen der Digitalisierung nutzen. Das Positionspapier spricht eine deutliche Sprache: Digitalisierung zur Deregulierung nutzen – so ist ihre Strategie. Durch Technikeinsatz verändern sich Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen. „Befristung und Zeitarbeit dürfen daher nicht […] begrenzt werden.“ Und vor allem fordern sie: die Abschaffung des Acht-Stunden-Tages und das Streichen der täglichen Höchstarbeitszeit von zehn Stunden.
„Chancen der Digitalisierung“, heißt es! Sie wollen also ihre Chance nutzen: Sie sagen klar, was sie wollen: Digitalisierung zur Deregulierung nutzen – so ist ihre Strategie. Aber das ist nicht alles. In den meisten Untersuchungen zu Industrie 4.0 ist von Flexibilität der Arbeitnehmer*innen die Rede. Aktuell sind gravierende Veränderungen direkt im Industrie-Bereich feststellbar. Ein Forschungsauftrag des Bundesforschungsministeriums fordert – im Sinne einer Industrie 4.0 – „Selbstorganisierte Kapazitätsflexibilität in Cyber-Physical Systems“. Unter dem Motto Smartphone statt Stechuhr führt das Fraunhofer-Institut IAO das Projekt KapaflexCy durch. Als Ziel benennen die Wissenschaftler*innen:
„Starre Anwesenheitszeiten von 7-16 Uhr sind Relikte der Vergangenheit. Zukünftig stimmen Arbeitsgruppen ihre Einsatzzeiten per Smartphone ab. Eigenverantwortlich, kurzfristig, flexibel. Gearbeitet wird nach Bedarf – genau dann, wenn der Kunde ordert. Das Forschungsprojekt KapaflexCy löst die übliche „pauschale“ Personalflexibilität ab. Als Beitrag zum Zukunftsprojekt Industrie 4.0 der Bundesregierung entwickeln wir vorausschauende Strategien und smarte Assistenten für die flexible Produktionsarbeit der Zukunft“. [5]www.kapaflexcy.de/de/bausteine/kapaflexcy-app.html
Wer sich die Situation in den Betrieben der Metallindustrie – der Kernbranche der Industrie 4.0 – vor Augen führt, erkennt, wie massiv diese Forderungen sind. Durch Arbeitszeitkonten, Überstunden und Schichtarbeit sind die Beschäftigten bereits heute belastet. Der Arbeitsdruck soll noch schärfer werden – unter dem Vorwand der Sachzwänge.
Ein betriebliches Beispiel verdeutlicht, wie schnell diese Entwicklung Nachteile für Arbeitnehmer*innen haben kann. Statt wie bisher der Außendienst- und Verwaltungsbereich wurden im Betrieb Arbeiter*innen mit Smartphones auf Firmenkosten ausgestattet. Die Begeisterung der Beschäftigten war groß, vor allem als der Werksleiter verkündete, diese Geräte könne jeder privat nutzen. Als dann die Meister diese jedoch am Wochenende oder im Urlaub für betriebliche Kommunikation nutzten und verkündet wurde, die Arbeiter*innen könnten jetzt über WhatsApp-Gruppen die Vertretung für Wochenendschichten untereinander „freiwillig“ nutzen, wurden die Probleme sichtbar. Der Betriebsrat griff in diesem Fall regelnd ein und verhinderte die Unternehmerplanungen.
Dieses Beispiel zeigt aber, dass Probleme der ständigen Erreichbarkeit zukünftig nicht auf den Dienstleistungsbereich begrenzt bleiben. Auch im Industriebereich werden sie zum Handlungsfeld für Betriebsräte. Die Arbeitszeit ist immer ein hart umkämpftes Thema im Betrieb, ob bei Tarifverhandlungen oder bei Regelungen in Betriebsvereinbarungen – so wird es auch bei der digitalen Arbeit sein.
…heißt es im Aufruf zur Revolutionären 1. Mai Demonstration 2019 in Marburg – da muss ich aber auf „geistigen Diebstahl“ hinweisen: In einem Positionspapier versprechen Konzernvertreter von BMW, Bayer-Konzern, Münchener Rück und Telekom ein „selbstbestimmteres“ Arbeiten durch die Digitalisierung. [6]Acatech, „Arbeit in der digitalen Transformation – Agilität, lebenslanges Lernen und Betriebspartner im Wandel“, im Internet
Aber was machen die DGB-Gewerkschaften? Sie sind im Dialog-Modus! Mit dem Weißbuch Arbeiten 4.0 ist ein anderthalb Jahre währender „Dialogprozess“ zwischen Bundesregierung, Unternehmen und Gewerkschaften dokumentiert. Das Weißbuch enthält Analysen der Digitalisierung, Auswirkungen auf die Arbeitswelt und Gestaltungsempfehlungen. Breiten Raum nimmt das Arbeitszeitthema ein: „Viele Beschäftigte wünschen sich mehr Spielraum, um Beruf und Privatleben besser in Einklang bringen zu können“ (Seite 75), wird einleitend festgestellt und vollmundig ergänzt: „Um vor Entgrenzung und Überforderung zu schützen und die Flexibilitätsanforderungen der Betriebe mit den Selbstbestimmungswünschen der Beschäftigten auszutarieren, scheinen tarifliche […] Vereinbarungen am besten geeignet“ (Seite 121).
Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung spielen überhaupt keine Rolle. Vielmehr präsentierte das Bundesarbeitsministerium eine „Experimentierklausel“, nach der vom Arbeitszeitgesetz verschlechternd abgewichen werden kann. Voraussetzung für dieses Unterlaufen des Gesetzes soll die Zustimmung der Gewerkschaften und des Betriebsrats sein, gleichzeitig wird eine wissenschaftliche Begleitung verlangt. Hier knüpft das Weißbuch an Unternehmensforderungen nach Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes an. Die Reaktionen waren deutlich: „Öffnung des veralteten Arbeitszeitgesetzes“, frohlockt im Namen der Unternehmenslobbyist*innen Reiner Straub, Herausgeber des Personalmagazin, über den Minister-Vorschlag.
Der vom Bundesarbeitsministerium geleitete „Dialog“ hat also einen klaren Sieger: die Unternehmer, die das Arbeitszeitgesetz in der jetzigen Form abschaffen wollen. Eine Diskussion innerhalb der DGB-Gewerkschaften, ob diese Beteiligungsformen überhaupt Erfolge für die Beschäftigten bringen können, ob es sich dabei nicht um reine Machtinstrumente der Unternehmensvertreter*innen handelt, bleibt aus.
Welche Forderungen aus Sicht der Beschäftigten ergeben sich? In der digitalen Arbeit der Zukunft werden durch verstärkten Technikeinsatz Arbeitsplätze abgebaut. Um sinkendes Arbeitsvolumen zumindest betrieblich etwas auffangen zu können, kann die gewerkschaftliche Schlussfolgerung hier nur die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich sein.
Aber auch der steigende Leistungsdruck durch die neue Technik ist ein Argument für Verkürzung der Arbeitszeit. Stärkere Schwankungen in der Produktion sollen durch Industrie 4.0 besser bewältigt werden. Die Einbindung der Beschäftigten über mobile Endgeräte führt zu einer enormen Verschärfung des Arbeitsdrucks. Und: Technik erhöht die Anforderungen an die Beschäftigten. Viele Arbeitsplätze erfordern hochkonzentriertes Arbeiten. Ein gravierendes Problem ist die Anzahl der Kommunikationskanäle.
Anforderungen per Mail, über Chats und mit Sozialen Netzwerken zu kommunizieren, nehmen zu. Dies führt oft zur Überforderung, für viele Beschäftigte ist es zu viel auf einmal. Zumal sich die Angestellten häufig mit widersprüchlichen Anweisungen konfrontiert sehen. So stehen der allgemeinen Aufforderung, sich in Sozialen Medien zu engagieren und mitzudiskutieren, oft unterschiedliche Kulturen in einzelnen Abteilungen gegenüber, die dies als Zeitverschwendung betrachten, kritisiert die Hamburger Soziologin Tanja Carstensen. Diesen Widerspruch zu lösen, liege dann in der Eigenverantwortung der Beschäftigten und führt zur Unsicherheit, was der richtige Weg ist. Der Technikeinsatz erfordert also gleichzeitig eine Begrenzung der Arbeitszeit, um den Stress nicht weiter auszuweiten.
Ganz so abwegig ist diese Forderung nicht. Ein Blick über die Landesgrenzen kann weiter helfen. In Göteborg testeten Unternehmen mehrere Monate den Sechs-Stunden-Arbeitstag. Die Angestellten in einem Pflegeheim, einem Krankenhaus, einer Fabrik und einem Tech-Startup arbeiteten in der schwedischen Stadt nur noch 30 Stunden statt 40 Stunden pro Woche – mit vielversprechenden Resultaten, was Gesundheit und Motivation der Arbeitenden betrifft. Eine Stressstudie der Universität Stockholm, die Erfahrungen von 600 Angestellten an 33 Arbeitsplätzen mit einem Sechsstundentag bei gleichem Lohn auswertete, zeigt auf: Zwar verursache die Reform in staatlichen Einrichtungen zunächst höhere Kosten, könne langfristig aber eine positive Wirkung haben. Einem aufgrund reduzierter Arbeitszeit nicht so gestresstem Personal unterliefen weniger Fehler, es verursache weniger Schäden. [7]Sechs Stunden am Tag sind genug, taz vom 13.11.2017
Dazu passt ein Zitat aus dem Weißbuch Arbeiten 4.0: „Heute gibt es neue Bilder davon, wie wir gerne arbeiten möchten: Da ist der kreative Wissensarbeiter, der am See sitzt, den Laptop auf dem Schoß.“, verkündet das Weißbuch Arbeiten 4.0 der Bundesregierung einleitend. [8]Weißbuch Arbeiten 4.0, Seite 4, im Internet Das ist deren Vision – unsere lautet: ja, wir wollen am See sitzen, wir wollen Zeit zum Feiern und Tanzen. Deshalb wollen wir Arbeitszeitverkürzung. „Verändere die Welt, sie braucht es“ hat Bertolt Brecht gesagt – das gilt auch bei der Digitalisierung der Arbeitswelt.
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Kommentare
Darum prüft mein Anwalt jeden Arbeitsvertrag, da ich keine Lust habe, aus Versehen so etwas unterschrieben zu haben, was meine Freizeit oder meinen Urlaub einschränkt.