Seit Wochen bestimmt der Corona-Virus und seine Auswirkungen auf unsere Gesellschaften fast alle Nachrichten. Und in diesen Wochen hat sich einiges verändert. Die Grenzen sind für Menschen dicht, Waren kommen durch. In Spanien und Italien sterben inzwischen täglich hunderte am Virus Erkrankte.
In Griechenland sind zehntausende Geflüchtete in Lagern unter unmenschlichen Bedingungen eingepfercht. Die europäische Solidarität, sprich Krankenhauskapazitäten, die Aufnahme von Geflüchteten, oder sonstige Hilfe, ist minimal bis nicht vorhanden. Inspiriert aus Italien und Spanien wird in den Massenmedien und über private Kanäle mobilisiert, jeden Abend um 21 Uhr auf die Balkone und an die Fenster zu treten, und kollektiv, den in der Pflege eingesetzten Menschen, für ihre wichtige und aufopferungsvolle Arbeit in diesen düsteren Zeiten zu applaudieren. Eine schöne Geste.
Und wie immer in Krisenzeiten – und nicht nur dann – ist es so, dass es die Frauen sind, die den Laden am Laufen halten und die dann auch mal richtig doll gelobt werden. Die gleichzeitig seit Wochen von Wirtschaftsverbänden geforderten Milliardenzahlungen und Zuschüsse für die vom Virus bedrohten Konzerne und Betriebe sind inzwischen verabschiedet. Allein in Deutschland werden 156 Milliarden Euro locker gemacht. Was nun plötzlich geht nachdem wir mindestens ein Jahrzehnt auf jede Forderung von unten das Dogma der schwarzen Null als Antwort bekamen.
Nach dreißig Jahren Klassenkampf von oben ist das für (fast) alle auch scheinbar selbstverständlich. Kein Wort dagegen ist zu hören, endlich die Löhne der Pfleger*innen, Verkäufer*innen, Betreuer*innen u.a. zu erhöhen. Ihnen soll dafür jetzt kollektiv applaudiert werden, oder besser gesagt, die in den dicht bewohnten Stadtvierteln lebenden Niedriglohngruppen, beklatschen sich selbst, wenn sie dafür nach Sonderschichten nicht zu müde sind. Denn klar, die Corona-Virus-Krise erfordert noch mehr Fürsorge als sonst. Für Kranke, für Schwache, für Kinder. Genau diese Arbeit ist unterbezahlt, oft sogar unbezahlt, scheinbar unsichtbar und fast immer Frauenarbeit. Dies war schon lange vor dem Ausbruch des Corona-Virus so, doch nun kommt hinzu, dass genau diese Berufe systemrelevant sind.
Eindrücklich zeigt das eine Grafik der Bundesagentur für Arbeit vom Sommer 2019, die der Berliner Tagesspiegel zitiert. Demnach sind fast drei Viertel der Beschäftigten im Einzelhandel, also z.B. die Kassierer*innen im Supermarkt, weiblich. Ähnlich sieht es in den Krankenhäusern aus, wo zu 76 Prozent Frauen arbeiten. In Kindergärten und Vorschulen ist das Ungleichgewicht noch deutlicher, 93 Prozent dort sind Frauen. Ohne sie alle würde aktuell alles zusammenbrechen, und zwar weltweit. Trotzdem ist klar, den in diesen Berufen Arbeitenden wird nichts geschenkt. Erst nachdem der Paritätische Wohlfahrtsverband Alarm geschlagen hat, wurden z.B. auch die kleineren Sozialprojekte unter den 156 Milliarden-Schirm genommen. Und nachdem für die kommenden drei Monate ein Kündigungsmoratorium für Menschen mit Mietschulden beschlossen wurde, sahen FDP, Kapitalverbände und die Hauseigentümerverbände sich zu entschiedenen Protesten genötigt und witterten sozialistische Experimente. Dafür sind die Ersten, die öffentlich alle Mietzahlungen eingestellt haben, die Ausbeuter von adidas, H&M, Deichmann und wie sie alle heißen….(27.03.2020)
Deshalb, Applaus ist gut, ist Balsam für die Seele, macht aber weder satt noch bezahlt er die Miete. Applaudieren wir also all den Frauen und Männern, die täglich ihre Kräfte aufopfern, sogar ihr Leben riskieren, damit die Gesundheitsversorgung, die Lebensmittelversorgung, die Fürsorge von Pflege- und Betreuungsbedürftigen aufrechterhalten wird. Doch lassen wir es nicht dabei bewenden: Sorgen wir dafür, dass Frauen – und nicht nur sie – endlich einen gerechten Lohn erhalten. Machen wir mit Transparenten und Fahnen auf jedem Balkon, an jedem Fenster klar, dass wir eine sofortige Lohnerhöhung für alle in diesen Bereichen Arbeitenden fordern. Machen wir klar, dass Krankenhäuser nicht dazu da sind um Profit zu erwirtschaften, sondern das auch nach dem Ende der Corona-Krise die staatlichen Ausgaben für das Gesundheitssystem zumindest verdoppelt werden müssen. Mehr Ärzt*innen, mehr Pfleger*innen, mehr Betten, besseres Essen usw. Gleiches gilt für alle Bereiche der öffentlichen Daseinsfürsorge wie Wasser, Strom, Gas, Müll, öffentlicher Nahverkehr usw… Alle Gelder für jetzt Entlassene müssen unbürokratische Zuschüsse ohne Gegenleistung sein.
Kapital, Politik und Großkonzerne sind gut organisiert. Sie haben klargemacht, dass sie nicht auf den nun nötigen Kosten und ausfallenden Profiten sitzen bleiben werden. Es ist an der Zeit, dass auch wir uns organisieren und unmissverständlich klar machen, dass weit vor Banken und Konzernen andere diese Milliarden schon lange verdient haben.
Und wenn noch ein Rest von der Idee eines geeinten, sozialen Europas überleben soll, dann müssen sofort die Zehntausenden in griechischen Gefangenenlagern festgehaltenen Geflüchteten evakuiert werden und es muss sofort internationale Hilfe für die am Schlimmsten vom Virus gebeutelten Länder anlaufen.
Aktionsideen:
Denkt euch was aus, hängt Transparente raus und veröffentlicht die Bilder.
Titelbild: Banner zur Aktion © Ralf Dreis
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Kommentare
Ralf Dreis weist richtigerweise auf die Missstände in der geschlechtsspezifischen Entlohnung von weiblichen Lohnabhängigen in den jeweiligen Branchen der Pflege & Medizin, dem Einzelhandel und der Pädagogik hin. Dass die Entlohnung in den hiesigen Supermärkten miserabel ist für Kassier:innen und Warenauffüller:innen, verwundert maximal noch diejenigen, die bei der Wahl der regelmäßigen Lektüre sonst wohl nur zu Focus oder Welt greifen.
Der allgemeine Stoßrichtung des Artikels, bei diesen systemrelevanten“ Berufen, die für die Reproduktion einer Gesellschaft unabkömmlich sind, nicht nur bei der Steigerung von Anerkennung stehenzubleiben, ist völlig zuzustimmen. Es reicht definitiv nicht aus, gut gemeint in die Hände zu klatschen und der Krankenpfleger:in öftes mal „Danke“ zu sagen. Von einem feuchten Händedruck wird der Magen nicht satt und der Geldbeutel nicht voll. Die Anerkennungsfrage muss sich also zwangsläufig auf die Frage nach einer besseren Bezahlung der Lohnarbeiter:innen ausdehnen. Doch Dreis geht hier der falschen Vorstellung eines „fairen Lohns“ auf dem Leim. Was soll das sein – ein fairer Lohn? Wer will beurteilen, dass 15€ statt 10€ die Stunde fair dafür sind, dass man sich an Kasse anhusten lassen muss? Wer legt fest, dass 20€ gerecht genug sind, um sich durch die Fahrlässigkeit der Chef:innen mit Corona zu infizieren, da es keinen angemessen Infektionsschutz gibt?
Die Forderung nach Lohn ist keine Frage nach der Bemessung einer „fairen“ Entlohnung, die eine Wertigkeit der ausgeübten Tätigkeit in objektiver Relation mit anderen Lohnarbeiten bemessen könne, sondern umkämpftes Terrain im politisch geführten Arbeitskampf. Ein „fairer Lohn“ suggeriert, es könne auch eine Obergrenze für einen angemessenen Stundenlohn geben, der dann über Wert bezahlt würde und den man sich somit eigentlich nicht verdient hätte. Man kennt das vom moralischen Einspruch gegen Manager- oder Fußballspielergehälter. Dieser Gedanke von einem fairen Lohn für eine entsprechende Leistung verkennt aber die Gründe und Bedingungen für das Zustandekommen einer konkreten Lohnsumme. Meines Erachtens bietet es sich daher an – als kämpferische Basisgewerkschaft – Abstand von sozialpartnerschaftlichen Forderungen nach „fairen Löhnen“ für alle zu nehmen und im Lohnkampf allgemein höhere Löhne einzufordern. Es geht hier also darum im Interesse der Lohnarbeitenden möglichst hohe Löhne einzufordern und sie nicht mit einer ideellen Vorstellung von Fairness, Ausgewogenheit oder Gerechtigkeit abzugleichen. Es geht vielmehr um das fordern politischer Löhne, die möglichst viel für die Arbeiter:innen abwerfen sollen hin auf dem Weg zur Überwindung des Lohnsystems als Ganzes. Trotz dieses Einwandes ist Dreis für seinen Artikel zu danken, da er korrekterweise den Widerspruch zwischen Milliardenzuschüssen für Unternehmen und den in den meisten Fällen leer ausgehenden Arbeiter:innen herausgearbeitet hat, die eben mehr als nur Dankbarkeit verdienen.