Betrieb & Gesellschaft

Back to Agenda 2010?!?

Alter Chauvinismus oder die Kehrtwende in eine neue Fürsorglichkeit.

Die Ampelregierung hat es geschafft, sie hat die sozialpolitische Rolle rückwärts vollbracht. Keine zwei Jahre nach Einführung ist das Bürgergeld dermaßen back to HartzIV gestutzt, dass es niemanden überraschen bräuchte, wenn die SPD noch Wolfgang „Alles Schmarotzer“ Clemens aus der Erde buddeln würde, um das Comeback perfekt zu machen. Clemens könnte dann als alter Agenda 2010-Zombie Anti-Erwerbslosen-Krawalle anzetteln und endlich das alte Kohl-Versprecher/en „die Arbeitslosen zu halbieren“ einlösen. Wäre das nicht mal eine geeignete Maßnahme, um dieser dreisten Mitnahme-Mentalität von ganzen 563 Euro monatlich endlich Einhalt zu gebieten? Zombie-Clemens zerhackt die eine Hälfte der „faulen Arbeitslosen“ in zwei – und die andere Hälfte darf dann in verpflichtender Freiwilligenarbeit die zerhackstückten Leidensgenoss:innen vom Boden aufsammeln. Von wegen „eat the rich“, „half the poor“ ist die neue Losung, denn die sind offensichtlich Deutschlands größtes Problem – vor allem, wenn mensch den Ausführungen seitens CDU, FDP, Springerpresse und Co. folgt. Also gleich nach diesen anderen mittellosen Dekadenz-Nutznießer:innen, die in lecken Schlauchbooten übers Mittelmeer kamen, Monate, wenn nicht Jahre in Auffanglagern verbrachten, nur um den großen, perfiden Plan umzusetzen, den hart arbeitenden Deutschen die Zahnarzttermine vor der Nase wegzuschnappen.

Ok. genug der Polemik. Polemik hilft nicht. Das schlimme nur, nüchterne Fakten helfen eben auch nicht. Mein persönlicher Lieblingsfakt – es gibt gar nicht genügend Jobs, um alle Erwerbslosen in solche gewaltsam hinein zu pressen. Egal wie drastisch die Strafkürzungen auch ausfallen mögen – bloße Mathematik lässt sich nicht zum gewünschten Ergebnis hin sanktionieren. Im Juni 2024 sind in Deutschland 1,57 Millionen Stellen frei. Aber 2,73 Millionen Menschen offiziell „arbeitslos“. [1]https://statistik.arbeitsagentur.de/ Merken Sie den Unterschied? Sind sie in der Lage ihn auszurechnen? Glauben Sie Christian Lindner, Olaf Scholz, oder Friedrich Merz können es? Zumal zu den offiziell „Arbeitslosenzahlen“ noch gut 800.000 sogenannte „Unterbeschäftigte“ hinzukommen. [2]ebd. Das ist die beschönigende Umschreibung von Menschen, die sich die Agentur für Arbeit aus der Arbeitslosenstatistik herausrechnet, weil sie formal dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. In der Praxis heißt das meist, sie sind in mehr oder weniger sinnfreien Maßnahmen, Fortbildungen und Integrationskursen zwischen-geparkt, oder vorübergehend arbeitsunfähig, im Klartext krank-geschrieben. Das macht sie zwar kein bisschen weniger „arbeitslos“ im Sinne von „ohne existenzsichernde Erwerbsarbeit“, jedoch klingen 2,7 Millionen Arbeitslose irgendwie besser als 3,5 Millionen. Besonders, wenn wie gesagt nur 1,5 Millionen Stellen frei sind.

Und dann ist ja da noch das liebe Geld. Fast 34 Milliarden Euro kosten die Transferleistungen jährlich. [3]https://www.zeit.de/news/2023-12/28/kosten-der-arbeitslosigkeit-steigen-2023-und-2024 Hinzu kommen knapp 10 Mrd. Euro für Verwaltungskosten und eingekaufte Wiedereingliederungsmaßnahmen. Macht 44 Mrd. Euro für 3,5 Millionen Bürgergeldempfänger:innen. Der Bundeswehretat 2023 hingegen betrug etwa 58 Milliarden Euro. [4]https://www.bmvg.de/de/presse/verteidigungshaushalt-sondervermoegen-2023-5524236 Und das für eine Truppe von gerade mal etwas mehr als 180.000 Soldat:innen und etwa 80.000 zivilen Mitarbeiter:innen. [5]https://www.bundeswehr.de/de/ueber-die-bundeswehr/zahlen-daten-fakten/personalzahlen-bundeswehr Für jene Bundeswehr, wir erinnern uns, die Flugzeuge, die nicht fliegen, Munition für ganze zwei Tage Krieg und keine warme Unterwäsche hat. Wer ist hier also zu teuer? Oder sollten wir die faulen Arbeitslosen einfach mal bewaffnen… wenn es sich dann in den Augen der Mehrheitsgesellschaft besser rechnet? Nächster Fakt: Mit einer moderaten Vermögenssteuer, wie sie die Regierung Kohl in den 1990er Jahren noch kannte, wären problemlos bis 17 Mrd. Euro jährliche Mehreinnahmen möglich, abgeschöpft von einer kleinen Minderheit Multimillionär:innen, über deren leistungsloses Einkommen eher selten dieser Tage gesprochen wird. [6]https://taz.de/DIW-Oekonom-ueber-Vermoegensteuer/!6027802&s=DIW+%C3%96konom/ Die 170 Millionen Euro, die angeblich durch härtere Sanktionen eingespart werden können, sind dagegen ein Klacks. Und das es sich ökonomisch betrachtet, beim Bürger- und Sozialgeld um nichts anderes als eine direkte Subvention für den Einzelhandel dreht, weil einfach jeder Euro Regelleistung unmittelbar in den Konsum fließt, also das Geld nicht einfach verpufft, sondern im Wirtschaftskreislauf wiederum Löhne, Gewinne und Steuern generiert, das ist so eine Tatsache, die irgendwie auch nie Erwähnung in den erhitzten Debatten um angebliche renitente Arbeitsverweiger:innen findet. Wenn der Traum aller Neoliberalen endlich wahr würde – und niemand hierzulande mehr Geld bekäme, der nicht arbeitete – wer erklärte dann dem Einzelhandel den milliardenschweren Umsatzrückgang? Christinan „Dornige Chancen“ Lindner etwa?

So viel zu den Fakten. Aber Fakten interessieren nicht. Wie viele Erwerbslose auf wie viele Jobs, geschenkt. Steuerpolitik, wer hat Nerven dafür? Worauf es ankommt, sind Erzählungen. Erzählungen die rein laufen, die mitreißen, die Emotionen bedienen – und die sich gut wiedererzählen lassen. Die eine, die seit Jahren immer mehr Zuhörer:innen und infolgedessen auch immer mehr Erzähler:innen findet, ist die des andauernden Verteilungskampfes, die des „Wir“ oder „Die“. Egal ob „Schwäbische Hausfrau“ und die Schuldenbremse, „Zeitenwende“ und Kriegstüchtigkeit, oder die spätestens seit 2015 wieder omnipräsenten „das Boot ist voll“, oder in ihren Hardcore-Varianten – „Überfremdung“, „Islamisierung“ und „Umvolkungs“-Fabeln. Sie alle eint die Story vom knappen und immer knapper werdenden Grund auf dem „Wir“ stehen und den Bedrohungen, der dieses knappe Gut ausgesetzt ist. Bedrohungen vor der wir es vehement verteidigen müssen, sonst bleibt nichts mehr für uns übrig, sonst sind wir die Dummen, von der Geschichte verlacht. Soweit, so besorgniserregend. Die nötige Gegenerzählung hingegen scheint völlig unterzugehen. Oder führt maximal ein Nischendasein. Zum Teil im Entstehen zarter Experimente und erkämpfter Freiräume, zum Teil überlebt in einer hartgesottenen Überwinterung alter Bewegungen. Aber auch wenn diese noch nicht wirklich imstande sind im breiten Maße zu mobilisieren, oder gar im größeren Maße wirkmächtig zu werden, sie existieren. Erzählungen von Solidarität und gegenseitiger Hilfe, Fürsorglichkeit und Gemeinschaft. Mit radikalen Neudefinitionen von Begriffen wie „Nutzen“, „Vernunft“, „Wert“, oder der Zusammensetzung dieses schemenhaften „Wir“.

Die FAU als erklärter Teil einer solidarischen Arbeiter:innen- und Gewerkschaftsbewegung muss die Herausforderung annehmen, im Konflikt um die Bürgergelddebatte eine wahrnehmbare Stimme dieser Solidarität und Fürsorglichkeit zu werden. Jeder Angriff auf die Lebensbedingungen der Erwerbslosen, ist ein Angriff auf die gesamte Arbeiter:innenschaft, der entsprechend beantwortet gehört. Der drohende wirtschaftliche und soziale Abstieg, welcher aktuell in der Erwerbslosigkeit droht und sich laut medialer und politischer Debatte noch verschärfen soll, ist gleichermaßen ein Werkzeug gewerkschaftlicher Desorganisation als auch eine versteckte Lohnsubvention zugunsten der Arbeitgeber:innen. Wer Angst vor der „Neuen Grundsicherung“ haben muss, wird sich noch schwerer gewerkschaftlich organisieren. Und wem gar kein Einkommen ohne Erwerbsarbeit droht, wird kaum auf Mindestlohn und grundlegende Arbeitsrechte bestehen, geschweige denn Lohnerhöhungen erstreiten. Die vielfältigen Erfahrungen von entrechteten, oft migrantisierten Arbeiter:innen mit und ohne Papieren können ein langes, trauriges Lied davon singen. Das heißt, für uns als Gewerkschaft geht es in der aktuellen Auseinandersetzung a la „Bürgergeld oder Nicht-Bürgergeld“ nicht weniger um die existenziellen Grundbedingungen unserer Arbeit, als bei Debatten um die Einschränkung des Streikrechts oder Verschärfungen des Versammlungsrechts. Denn die soziale Abfederung der Erwerbslosigkeit ist eine fundamentale Voraussetzung dafür, nicht bis aufs Äußerste von Arbeitgeber:innenseite erpressbar zu sein. Werden wir uns also den entmenschlichenden Polemiken entgegenstellen? Auf die Fakten pochen? Und letztlich einer Erzählung der Solidarität und Fürsorglichkeit eine Stimme geben, diese versuchen praktisch zu leben und für sie kämpfen? Oder werden wir beiseite treten und dem Elend Blumen auf die Wege streuen?

 

Titelbild: © Harald Kretzschmar, mit freundlicher Genehmigung von Rainer Ehrt

 

 

Simon ´Ekke´ Trimpin

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Simon ´Ekke´ Trimpin

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