Ein Gespräch mit Aktivist:innen über die Situation an der polnisch-weißrussischen Grenze.
Seit Anfang Oktober 2021 unterstützt eine anarcho-syndikalistische Gruppe Geflüchtete an der polnisch-weißrussichen Grenze. Über die Situation im Grenzgebiet zwischen Polen und Weißrussland sprach für die Direkte Aktion Magda Schröer mit den vor Ort anwesenden Aktivist:innen.
Änderung: Der Link zum Spendenaufruf wurde aktualisiert (18.12.) |
Könnt ihr sagen, wie es angefangen hat? Warum hat sich plötzlich eine so große Menge an Menschen dafür entschieden, über die polnisch-weißrussische Grenze in die Europäische Union zu gelangen?
Diese Möglichkeit ergab sich Anfang September 2021. Die Europäische Union verhängte teilweise Wirtschaftssanktionen gegen Weißrussland, weil Präsident Lukaschenko die demokratischen Grundsätze nicht respektiert. Die EU war ein wichtiger Wirtschaftspartner für das Regime in Minsk, und diese Sanktionen haben die Wirtschaft des Landes stark belastet. Lukaschenko zog jedoch ein Ass aus dem Ärmel, nämlich die Flüchtenden. Er eröffnete Fremdenverkehrsbüros in mehreren kriegsgebeutelten Ländern und schaffte gleichzeitig die Visumspflicht für deren Bewohner:innen ab. Dies führte dazu, dass Tausende von Menschen unter dem Vorwand, das Land besuchen zu wollen, nach Weißrussland kamen und sich dann zur polnischen Grenze begaben. Die Geflüchteten wurden daher für Lukaschenko zu einem wichtigen Verhandlungsobjekt in den Wirtschaftsgesprächen mit der EU.
Wie hat die polnische Regierung in den ersten Septembertagen auf diese neue Migrationsroute reagiert?
Auf die denkbar schlechteste Art und Weise. Leider hat Polens konservative Regierung die Geflüchteten von Anfang an als eine Bedrohung für das Land und die EU dargestellt. In den staatlichen Medien wurden die Geflüchteten als aggressive, krankheitsübertragende gewöhnliche Wirtschaftsmigrant:innen dargestellt. Die Nachrichten im Staatsfernsehen begannen immer mit Momentaufnahmen aus verschiedenen europäischen Ländern, in denen Geflüchtete Übergriffe und Vergewaltigungen begangen haben sollen. Diese Propaganda war so perfide, dass in einem Beitrag Ausschnitte aus einem Spielfilm verwendet wurden, in dem Araber eine Bank ausrauben, wobei behauptet wurde, es handele sich um Aufnahmen einer versteckten Kamera. Bei einer anderen Gelegenheit organisierte die Regierung eine Pressekonferenz, deren Hauptbestandteil eine Sim-Karte für ein Telefon war, das angeblich im Wald gefunden wurde und Bilder von Tierpornografie und terroristischen Handlungen enthielt. Nach ein paar Tagen stellte sich heraus, dass diese Bilder aus einem pornografischen Film stammten, der seit Jahren im Internet kursierte. Auf diese Weise wurde „der Geflüchtete” zu einem Zoophilen und Terroristen gemacht.
Wie hat die Öffentlichkeit diese Propaganda aufgenommen und was denkt sie über Geflüchtete in Polen?
Leider hat sich die Haltung der Polen gegenüber Geflüchteten in den letzten Jahren stark verschlechtert. Schuld daran sind alle politischen Richtungen, die im besten Fall zu diesem Thema geschwiegen und im schlimmsten Fall diese Menschen als den Teufel in Person dargestellt haben. Der Anteil derjenigen, die der Meinung sind, dass Kriegsgeflüchtete in Polen bleiben dürfen, ist also systematisch gesunken. Derzeit sind nur 31 Prozent der Meinung, dass unser Land solchen Menschen die Einreise in sein Hoheitsgebiet gestatten sollte.
Was haben die polnischen Behörden getan, als dieser „Tourismus” über die Grenze begann?
Über das Grenzgebiet (ein 10 km breiter Streifen) wurde sehr schnell der Ausnahmezustand verhängt, und die Ein- und Ausreise wurde verboten. Dies machte die Arbeit von Journalist:innen und Hilfsorganisationen, die sich natürlich auch nicht in das Gebiet begeben dürfen, unmöglich. Die Geflüchteten sind damit völlig schutzlos und sich selbst überlassen. Sie wurden der Möglichkeit beraubt, einen Antrag auf Aufenthalt in Polen zu stellen. Auf diese Weise haben die Behörden gegen alle internationalen Vereinbarungen und das in Polen geltende Recht verstoßen. Eine große Armee- und Polizeitruppen wurden im Grenzgebiet eingesetzt, um die Geflüchteten abzufangen und durch den Stacheldraht zu werfen, der sofort über die Grenze zu Belarus gespannt wurde. Als die Weißrussen solche Menschen fanden, schlossen sie sie zu größeren Gruppen zusammen und drängten sie auf die polnische Seite zurück. Dieses merkwürdige Pingpong führte zum Tod vieler Menschen, die an Kälte und Erschöpfung starben.
Sind die Geflüchteten also zu Geiseln der politischen Spielchen geworden?
Ganz genau. Sobald sie die Grenze auf der weißrussischen Seite erreichten, wurden sie ihres Geldes beraubt und sehr oft geschlagen. Dann wurden sie nachts auf die polnische Seite gedrängt, wo sie versuchten, die Notstandszone zu passieren, wo sie von den polnischen Diensten aufgegriffen und dann in Lastwagen zur Grenze transportiert wurden, wo sie sehr oft buchstäblich über die Drahtzäune geworfen wurden. Einige von ihnen mussten diese Strecke mehr als ein Dutzend Mal zurücklegen. Keine der beiden Seiten wollte ihnen helfen oder ihnen Essen oder Wasser geben. Unter ihnen befanden sich viele Kinder, ältere Menschen und ganze Familien, die vor verschiedenen bewaffneten Konflikten in ihren Heimatländern flohen.
Nun, wer sind diese Geflüchtete und aus welchen Ländern kommen sie?
Für viele von ihnen war dieser Weg die einzige Möglichkeit, aus einem Land zu fliehen, in dem sie mit dem Tod bedroht waren. Unter ihnen überwiegen Jemeniten, Syrer, Kurden, Afghanen und Kongolesen. Überall herrscht Krieg, und ein Billigflug nach Minsk schien wie ein Lotterielos.
Ein Schicksal, das für viele von ihnen wohl doch nicht glücklich war?
Ganz genau. Geplündert, hungrig, frierend, niemanden kümmert es. Einige von ihnen verbrachten vier Wochen im Wald und ernährten sich nur von dem, was sie auf den angrenzenden Feldern fanden, oder tranken Wasser aus Bächen und Pfützen. Einem Großteil von ihnen gelang es, telefonisch Kontakt zu ihren Familien im Westen aufzunehmen oder sich mit Schmugglern zu arrangieren, und sie wurden nachts aus der Zone gebracht. Anschließend reisten sie nach Deutschland, Frankreich oder in andere EU-Länder. Viele von ihnen starben jedoch, und wir werden wahrscheinlich nie erfahren, wie viele es waren, da das Grenzgebiet dicht mit Wäldern und Sümpfen bewachsen ist. Die Grenzschützer selbst sagen, dass die Leichen über den Winter von Tieren „gesäubert” werden sollen.
Wie haben sich die Pol:innen verhalten, als sie dieses enorme Leid sahen?
Ganz unterschiedlich. Die große Mehrheit der Bevölkerung unterstützt die von Anti-Migranten-Propaganda durchdrungene Grenzpolitik der Regierung. Es fanden und finden jedoch zahlreiche Demonstrationen statt, die ein Ende dieser unmenschlichen Situation und die Aufnahme von Geflüchteten fordern. Außerdem wurden rund ein Dutzend Freiwilligenstützpunkte eingerichtet, um entlang des Notstandsgürtels zu helfen.
Ist es möglich, unter solchen Bedingungen Menschen zu helfen?
Das ist sehr schwierig. Wenn mensch die Zone nicht betritt, ist eine solche Hilfeleistung theoretisch legal. Sie wird jedoch sehr erschwert, und die Personen, die sie anbieten, werden schikaniert. Die Standhaftigkeit dieser Menschen ist jedoch sehr groß, und seit mehr als drei Monaten retten sie täglich eine ganze Reihe von Menschen vor Unterkühlung und geben ihnen zu essen. Entlang der Zone (da die medizinischen Dienste nicht in die Zone einfahren dürfen) gibt es Sanitäter, deren Reifen aufgeschlitzt oder deren Autos mehrfach beschädigt wurden.
Das, was ihr sagt, klingt schrecklich. Wie halten die Leute das aus?
Das erinnert an die Jagd auf Juden während des Zweiten Weltkriegs. Die Armee spürt diese Menschen mit Hunden, Drohnen und Wärmebildgeräten auf. Sie sind nicht nur körperlich extrem erschöpft, sondern auch geistig nicht fit. Die Freiwilligen trafen sehr oft auf Menschen, die über Selbstmord nachdachten oder völlig apathisch waren und zu denen nur sehr wenig Kontakt bestand. Das ist sehr schlecht für Kinder, die die ganze Situation nicht verstehen und den Wald nachts beängstigend genug finden.
Könnt ihr von einzelnen Fällen erzählen, die besonders in Erinnerung geblieben sind?
Es gibt viele solcher Vorfälle. Wir erhielten einen Notruf von einer Frau, die sich mit ihrem zweijährigen Kind verlaufen hatte, als sie auf der Flucht die grüne Grenze überquerte. Sie hatte mehrere Stunden lang nach ihm gesucht. Als wir ankamen, hörten wir es weinen, aber im nächtlichen Wald ist es sehr schwierig, die Quelle des Geräuschs zu lokalisieren, und wir konnten es nicht finden. Wir haben auch zweimal einer Frau geholfen, die im Wald eine Fehlgeburt hatte. Praktisch jeden Tag begegnen wir Menschen, die sich in einem sehr schlechten körperlichen und geistigen Zustand befinden. Jeder dieser Menschen hat in seinem eigenen Land die Hölle durchgemacht und dann an dieser Grenze.
Gibt es jetzt, wo die Temperaturen unter den Nullpunkt sinken, weniger von diesen Menschen?
Minsk hat seinen Teil der Visafreiheit zurückgezogen, und Polen hat mit dem Bau einer Mauer begonnen, was zur Folge hat, dass weit weniger Menschen auf die polnische Seite wechseln. Es gibt immer noch viele Menschen in der Zone, die vor einiger Zeit die Grenze überschritten haben. Aufgrund der Kälte werden immer mehr Menschen mit schweren Unterkühlungserscheinungen gefunden. In diesem Fall werden sie in ein Krankenhaus gebracht, wo sie von der Polizei überwacht werden, und nach zwei Tagen werden sie in Gefängniszellen gepackt und über die Grenze zurückgeschickt.
Wie lange kann diese Situation noch bestehen?
Ich denke, dass diese Welle jetzt aufgrund des Mauerbaus und des kalten Wetters zurückgehen könnte. Diese Strecke wird jedoch im Frühjahr wieder befahren werden. Trotz der schrecklichen Dinge, die hier geschehen, ist es eine viel schnellere Route als die anderen. Wenn mensch sich entscheidet, aus einem vom Krieg zerrütteten Land zu fliehen, ist er bereit, das Risiko einzugehen, weil ihm dort ohnehin der Tod erwartet.
Danke für das Gespräch!
SpendenaufrufWir sind eine Gruppe von Aktivist:innen aus Polen, die seit Anfang Oktober 2021 Menschen in der Flüchtlingskrise an der polnisch-weißrussischen Grenze helfen. Wir brauchen dringend Geld für den Kauf lebensrettender Pakete: Winterjacken, Schuhe, Hose, Rucksäcke, Energieriegel, Nüsse, Konserven, Wasser, Thermoskanne, Powerbanks, SIM-Karten, Telefone. Ihr könnt unsere Arbeit mit den Spenden unterstützen: firefund.net Bitte nicht mehr als 4.000 Zloty (ca. 860 Euro) auf einmal einzahlen. |
Bilder/A.S.
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