Am 16. Oktober 2019 wird das Bundesarbeitsgericht in Erfurt sich damit befassen, ob das Unternehmen, das die Mall of Berlin errichten ließ, für die Bezahlung der Bauarbeiter einstehen muss. Warum ist das überhaupt eine Frage?
Im Mittelalter war es üblich, dass die Zimmerleute zum Richtfest den letzten Holzsparren, der zur Fertigstellung des Dachstuhls fehlte, vor dem Bauherrn versteckten. Erst wenn klar war, dass es läuft mit dem Lohn und dass ausreichend Bier zur Feier des abgeschlossenen Bauabschnitts am Start ist, konnte der letzte Nagel eingeschlagen werden. Ansonsten stand dem Bauherrn ein blamables Event bevor. Die Zimmerleute werden ihren Grund für diesen Brauch gehabt haben. Denn wenn der letzte Sparren erstmal befestigt ist, nimmt das Interesse des Bauherrn an der Bezahlung der Arbeiter*innen mysteriöserweise ab. Wer bekommt nicht gerne was umsonst?
Mitten in Berlin steht ein poshes Einkaufszentrum, die Mall of Berlin. Erbaut wurde sie im Auftrag von Harald G. Huths HGHI-Gruppe. [1]Bauherrinnen waren die HGHI Leipziger Platz GmbH und die HGHI LP 125 GmbH, seit Ende 2014 beide in GmbH & Co. KGs umgewandelt. Aber nicht alle Bauarbeiter*innen wurden bezahlt. Einige rumänische Arbeiter kämpfen zusammen mit der FAU Berlin seit fünf Jahren um ihren Lohn für den Bau der „Mall of Shame“. Dabei scheint der Fall doch einfach: Die Auftraggeber haben bekommen, was sie wollten – sollten dann nicht auch die Arbeiter bekommen, was verabredet war?
Müsste sich bei einer Ungerechtigkeit wie der Mall of Shame nicht juristisch etwas tun lassen? Die Gerichte haben viel getan, nur nichts wodurch Geld bei den Arbeitern angekommen wäre. Der Trick, wie man eine Mall bekommt, ohne dass diejenigen, die sie bauen, vollständig bezahlt werden, dreht sich um Subunternehmerketten. Wie von Geisterhand gingen alle Unternehmen, gegen die die Arbeiter Ansprüche geltend machen konnten, pleite.
Das Gesetz sieht eigentlich vor, dass in solchen Fällen, die auftraggebenden Unternehmen dafür haften, dass die Arbeiter zumindest die Branchenmindestlohn erhalten. § 14 „Haftung des Auftraggebers“ des Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) bestimmt:
Ein Unternehmer, der einen anderen Unternehmer mit der Erbringung von Werk- oder Dienstleistungen beauftragt, haftet für die Verpflichtungen [der Nachunternehmer] zur Zahlung des Mindestentgelts an Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerinnen [wie ein Bürge.]
Ist die HGHI Leipziger Platz ein Unternehmen? Check! Hat sie Nachunternehmen beauftragt? Check! Ist ein Bürgen-Fall durch deren Zahlungsausfall eingetreten? Check! Haftet die HGHI? Die Gerichte sagen: Nein.
In den unteren Instanzen ist der Versuch der FAU Berlin gescheitert, die HGHI entsprechend § 14 AEntG für die Bauarbeiter zumindest den Mindestlohn zahlen zu lassen. Der Grund ist, dass das Bundesarbeitsgericht (BAG) 2002 entschieden hat, der Begriff des Unternehmers sei vom unterstellten „Ziel des Gesetzes“ her einschränkend auszulegen:
Der Gesetzgeber wollte nicht jeden Unternehmer iSv. § 14 Abs. 1 BGB, der eine Bauleistung in Auftrag gibt, in den Geltungsbereich des § 1 a AEntG [Anmerkung: Vorgänger der § 14 AEntG] einbeziehen. Ziel des Gesetzes ist vielmehr, Bauunternehmer, die sich verpflichtet haben, ein Bauwerk zu errichten, und dies nicht mit eigenen Arbeitskräften erledigen, sondern sich zur Erfüllung ihrer Verpflichtung eines oder mehrerer Subunternehmen bedienen, als Bürgen haften zu lassen, damit sie letztlich im eigenen Interesse verstärkt darauf achten, daß die Nachunternehmer die nach § 1 AEntG geltenden zwingenden Arbeitsbedingungen einhalten. Da diesen Bauunternehmen der wirtschaftliche Vorteil der Beauftragung von Nachunternehmern zugute kommt, sollen sie für die Lohnforderungen der dort beschäftigten Arbeitnehmer nach § 1 a AEntG einstehen. […] Bauherren fallen daher nicht in den Geltungsbereich[.]
Dieses Argument können natürlich nur Jurist*innen verstehen, weil jeder normale Mensch sagen würde: Aha, wenn „der Gesetzgeber“ nur Bauunternehmer meinte, warum hat er den Paragraphen dann nicht einfach mit „Ein Bauunternehmer … “ angefangen? Warum bedurfte es der telepathischen Fähigkeiten des BAG, um in die Köpfe hunderter Abgeordneter zu blicken und ihre eigentliche Intention beim Erlass des Paragraphen zu entdecken? Tatsächlich gibt es Stellen in Gesetzen, an denen eine solche teleologische Reduktion, wie die Jurist*innen es nennen, auch mit dem gesunden Menschenverstand vereinbar ist. Dass sie es beim AEntG nicht ist, zeigt der Fall der Mall of Berlin.
Das BAG reduzierte 2002 das Recht der Arbeiter*innen, dass jemand in der Auftraggeber-Kette, die das eigene unbezahlte Schuften veranlasst hat, dafür geradezustehen hat, dass zumindest der Mindestlohn fließt, teleologisch weg. So können Insolvenzen weiter als Waffe im Klassenkampf genutzt werden. Die Kapitalseite kann sich mit der BAG-Auslegung um einen Teil der Lohnkosten für den geschaffenen Wert drücken. Das ist ein ziemlich überraschendes Ergebnis in der vom Ziel her erfolgenden Interpretation eines Gesetzespakets, das den Namen „Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte [!]“ trug.
Vermutlich liegt das BAG nicht ganz verkehrt mit seinem Ansatz, dass „der Gesetzgeber“ auch bei „Arbeitnehmerrechte“-Gesetzestiteln primär das Ziel verfolgt, Kapitalist*innen vor sich selbst zu schützen. Zwar soll im Kapitalismus der cleverste Ausbeuter gewinnen. Aber bauernschlaue Ausbeuter erzeugen Situationen, in denen Arbeitende die Dinge in die eigene Hand nehmen. Dann zerlegt einem ein um den Lohn geprellter Arbeiter schon mal den Neubau, wie Daniel Neagu 2018 in England. Der Gesetzgeber möchte für eine Ordnung sorgen, in der Frieden im Innern herrscht.
Die Fokussierung des BAG auf die Pflichten der Auftraggebenden, hat durch die Einführung des flächendeckenden Mindestlohns weitere Implikationen. Auch die Haftung bei Subunternehmer-Ketten im § 13 des Mindestlohngesetzes soll „entsprechend“ § 14 AEntG umgesetzt werden. Spätestens das stellt klar, dass wohl kaum ausschließlich Bauunternehmen mit „Unternehmen“ im § 14 AEntG gemeint sein können.
2012 fiel auch dem BAG auf, dass die Ausnahme der Bauherren vom Haftungsbereich im 2002er Urteil gar nicht aus der eigenen Argumentation folgt. Es korrigierte sich dahingehend, dass Bauherren haften, wenn sie als Bauträger wirken. Ein Bauträger ist dabei ein Unternehmen, das bauen lässt, um zu verkaufen.
Da im konkreten Fall die HGHI die Mall of Berlin aber nur bauen ließ, um zu vermieten, urteilten die bisherigen Instanzen, dass sie nicht zu zahlen habe.
Die Öffentlichkeit sieht Huth und seine Firmen hingegen zunächst als Bauende. So prangt im BZ-Artikel „Wir sind Berlins Baubären“ neben Harald Huths Gesicht der Satz: „Ich baue für eine Milliarde Euro die ‚Mall of Berlin‘.“ Vor Gericht hingegen redet sich die HGHI Leipziger Platz dahingehend heraus, ihr Unternehmenszweck sei ja gar nicht der Bau, sondern die Vermietung. Ihre Anwälte werden Gründe gehabt haben, warum sie die anderen Projektentwicklungs-Ziele nicht thematisierten: Laut Handelsregister betreibt sie „Entwicklung, Vermietung, Verwaltung und Verwertung des Grundstücks Leipziger Platz 12, 13 in Berlin“. Der Kern der GmbH ist also, für den Mall-Bau zu sorgen und für ihre Verwertung durch Vermietung oder Verkauf. Am 16. Oktober 2019 wird sich zeigen, ob auch das Bundesarbeitsgericht sie mit ihrer bisherigen Argumentation durchkommen lässt.
Selbst Harald Huth gesteht im Tagesspiegel-Interview (2018) zu, dass er auch vom Juristischen abgesehen in einer Verpflichtung gegenüber den Arbeitern steht: „Wenn die Gewerkschaftler mich angerufen und mir das Schicksal der Männer geschildert hätten, hätte ich denen natürlich Geld gegeben, schon um den Ärger zu vermeiden.“ (Hätte er natürlich nicht; aber schön, dass er das rückblickend so sieht!)
Andreas Fettchenhauer, gegen dessen durch die HGHI beauftragte insolvente Baufirma Fettchenhauer Controlling und Logistic (FCL) die Arbeiter bisher Haftungsansprüche erreichen konnten, vertrat 2014 im Tagesspiegel sogar, dass die HGHI eine konkretere Verantwortung für die ausstehenden Löhne trage. Er sagte: „Wenn der Auftraggeber den Forderungen nachkommt, könnten alle bezahlt werden.“
Was das Bundesarbeitsgericht am Mittwoch entscheidet, wird sich auf die Rechte aller Arbeiter*innen auswirken, deren Lohn irgendwo in Subunternehmer-Strukturen verschütt geht. Dennoch sind das sehr theoretische Rechte: Praktisch haben die meisten Arbeiter*innen – besonders migrantische und Wanderarbeiter*innen – nicht die Ressourcen, sich jahrelang durch Instanzen und Subunternehmerketten zu klagen.
Der einzige Weg, sicherzustellen, dass man nicht verarscht wird, bleibt, schon bei ersten Zweifeln an der Zahlungsmoral der Auftraggeber gemeinsam mit den Kolleg*innen aktiv zu werden. Als unsere Kolleg*innen das beim Bau der Mall of Shame 2014 versuchten, ließ die Ausbeuter*innen-Seite sie noch auflaufen. 2018 aber standen Bauarbeiter beim HGHI-Projekt „Tegel-Quartier“ einige Monate ohne Lohn da. Sie legten gemeinsam die Arbeit nieder und versammelten sich vor der HGHI-Zentrale mit Schildern: „Huth! Du Betrüger!“. Das hat gewirkt. Wenn man stets schnell reagiert, geht es beim zweiten Mal also auch ganz ohne Umweg übers Bundesarbeitsgericht. Von der Hartnäckigkeit der FAU im Mall-of-Shame-Fall profitieren somit auch andere Arbeiter*innen.
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Kommentare
der huth hatte damals doch sogar eine beteiligung an der FCL, war also miteigentuemer. konnte man aber „von ausen“ nicht sehen weil der fettchenhauer die huth anteile treuhaemderisch fuer huth gehalten hat... lustig gell?
Hallo Besserwisser, kannst Du bitte zu Deiner Andeutung mit mir per E-Mail Kontakt aufnehmen (oiseasy@hotmail.com) - Danke Roman