Kultur

Der Sommer der Anarchie

Anarcho-Poetry

RESET. Der Frühling stellt die Polizeisirenen ab. Das zur Außenwerbung der Amtsdirektionen und zur Befriedung des in Randbezirken ansässigen Unmuts angesparte Tränengas verwandelt sich in Rosen. Ins Wasser fallen Schlagstöcke, die von einer Strömung mitgezogen nicht wieder vorkommen. In der Innenstadt fliegen Chefsessel und Bürostühle aus den Fenstern, Bruchlandung auf der Ebene der Farben. Ein Bürovorstand berechnet seine Flugbahn und legt den Posten nieder, der zu diesem Zeitpunkt nicht mehr existiert. In einer Nebenstraße wird eine Geschäftsbilanz in eine Vase gestellt zur Erklärung der Vergangenheit.

Allen das Brot und allen die Zeit. Als ahmten sie junge Hunde nach laufen unsere Gedanken durch Geräuschfelder und fangen Entfernungen ein, Sprünge in einer Sprache, die weder Erniedrigungen noch Möbelkataloge ausleckt, das schönste Satzaufkommen. Diesmal geht niemand zu Boden, angelangt am Endpunkt von Formulierungen. Hier, an der Rückseite der Fragen, stehen wir dem Tag in der Tür. Satz nachlegen, heißt die Devise, uns das Wort, die Straße, die Stadt, vor allem aber: das Jetzt das Jetzt das Jetzt. Lass uns immer neu erfinden. Weil es die Zeiten nicht mehr gibt, in denen Arbeitswelten, Aktiengesellschaften und Ampelmännchen vorleuchteten.

Dass wir niemals staunten, staunen wir. Keine Ansagen mehr, kein Shop and Go auf der Richterskala des Eigentums an Konsummitteln. Eigentum kommt vor dem Fall, sagst du, und wir verlassen unser Hirn im Tank, geben den Wolken Straßennamen und bilden in Pappkartons aus Kirschkernen, Glasscherben und Metallresten tausend funkelnde Sterne, die in einem einzigen Moment vergehen. Und während Fabrikruinen mit offenen Mäulern nach Augenblicken schnappen, hören wir in den Straßen das Echo von Tänzen, die Banden bilden, Banden aus Umarmungen. Weil Anwesenheit mehr ist als Dasein auf einer Bildfläche. Durch das Pflaster bricht der Strand. Der nächste Satz ist blau.

Erstveröffentlichung aus: Ralf Burnicki: Lichtaspirin (Anarcho-Poetry), Edition AV 2022

Kurzbio:

Ralf Burnicki, Anarchopoet, seit 25 Jahren Mitglied der FAU. In den 90er Jahren Teil der bundesweiten Literatur-Undergroundbewegung „Social-Beat“, später Mitbegründer des „Netzwerks libertärer Autor*innen -Fraktal“ und Initiator von „Anarcho-Poetry“, einer Literaturrichtung, die sich kritisch gegen Herrschaft jeglicher Art wendet. Veröffentlichungen in Direkte Aktion, GWR, Gaidao, conAction, Die Novelle, Der Maulkorb, Dreischneuß, SFD (Wien), Jahrbuch der Lyrik u.a.. Diverse Gedichtbände, darunter „Die Wirklichkeit zerreißen wie einen misslungenen Schnappschuss“ (2000, zusammen mit Michael Halfbrodt), Zahnweiß“ (2007), „Hoch lebe sie – die Anarchie“ (2014, zusammen mit Findus) u.a..

Ralf Burnicki

Leave a Comment

Kommentare

  • Das ist die Art von Lyrik, die den Rationalisten daran erinnert, dass die Überwindung des Bestehenden eben doch nicht nur eine politische und ökonomische, sondern auch und vor allem eine poetische Aufgabe ist.
    Danke.

Share
Veröffentlicht von
Ralf Burnicki

Recent Posts

Syndikalismus für das 21. Jahrhundert II

Interview mit Torsten Bewernitz und Gabriel Kuhn.

13. November 2024

Syndikalismus für das 21. Jahrhundert

Der revolutionäre Syndikalismus, wie wir ihn kennen, gehört vielleicht der Vergangenheit an. Damit er überleben…

23. Oktober 2024

Aber es braucht viele.

Rezension zum Buch der Sanktionsfrei e.V. Gründerinnen über Bürgergeld, Armut und Reichtum.

9. Oktober 2024

Arbeiter:innen für die Zukunft des Planeten

Arbeits- und Klimakämpfe verbinden - zum neuen Buch von Simon Schaupp und dem Film Verkehrswendestadt…

2. Oktober 2024

Back to Agenda 2010?!?

Alter Chauvinismus oder die Kehrtwende in eine neue Fürsorglichkeit.

31. August 2024

Marxunterhaltung und linker Lesespaß

Rezension zu „Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut“

24. August 2024