Eine Rezension zum neuen Historienfilm von Cyril Schäublin.
Die Fabrikhallen sind hell und die Arbeiterinnen sind keineswegs demütig und geduckt, sondern selbstbewusst und immer wieder auch aufmüpfig. Wir befinden uns im Jahr 1877 im Schweizer Jura. Dort boomt gerade die Uhrenindustrie, die damals zu einem weltweiten Exportprodukt wurde. Hergestellt werden die Uhren hauptsächlich von Frauen. Der kürzlich angelaufene Film des Schweizer Regisseurs Cyril Schäublin mit dem bezeichnenden Titel „Unruh“ führt die Zuschauer*innen gekonnt ein in diese Gesellschaft vor über 140 Jahren im Schweizer Jura. Schäublin begründet den Film mit seinem biographischen Hintergrund: „Meine Großmutter arbeitete in einer Uhrenfabrik in der Nordwestschweiz, wo sie das mechanische Herz der Uhr, die sogenannte Unruh, herstellte“. Er nannte als zentrales Motiv des Films, die Frauen in der Uhrenindustrie in den Mittelpunkt zu stellen. „Ich wünsche mir, über ihre Arbeit und die Zeit, die sie in den Fabriken verbracht haben, einen Film zu machen. Und dabei auch der anarchistisch geprägten Gewerkschaftsbewegung der Uhrmacher*innenbewegung des 19. Jahrhunderts Aufmerksamkeit zu schenken“, erklärte der Regisseur.
Sein Vorhaben, die Arbeiter*innen in den Mittelpunkt zu stellen, ist Cyril Schäublin hervorragend gelungen. Wir sehen sie immer wieder bei der durchaus schweren Arbeit, wie sie die Lupe auf ihre entzündeten Augen setzen, damit sie die Unruh, den kleinen entscheidenden Zeiger in den Uhren zum Schwingen bringen können. Wir sehen, wie eine ältere Frau nur mit Tabletten den Arbeitstag übersteht. Wir sehen die Meister, wie sie mit Heft und Bleistift den Arbeiterinnen über die Schulter schauen und deren Ertrag messen. Dabei machen sie immer wieder deutlich, dass sie schneller arbeiten müssen, damit die Firma weltweit konkurrenzfähig bleibt. Wir sehen aber auch die aufmüpfigen Arbeiterinnen, die, kaum sind die Meister außer Hörweite, darüber reden, dass es eine anarchistische Organisation gibt, die es ermöglicht, dass die Arbeiterinnen krankenversichert sind. Das sah damals das Schweizer Arbeitsrecht nicht vor. Wir hören auch, wie einige Frauen auf die Pariser Kommune zu sprechen kommen, die sechs Jahre vorher in der französischen Hauptstadt blutig niedergeschlagen wurde. Tausende Aktivist*innen wurden inhaftiert und teilweise auf ferne Inseln deportiert. Darunter die Anarchistin Louise Michel, die von den Frauen mit besonderem Respekt ausgesprochen wird.
Doch der Terror gegen die Pariser Kommune beugt die Frauen nicht. Sie verkaufen Lose für eine anarchistische Tombola und machen sich über die männlichen Honoratioren lustig, die sich als einzige in den Schweizer Bundesrat wählen lassen dürfen. Frauen sind von den Wahlen ebenso ausgeschlossen, wie alle Menschen, die Schulden haben. Wir sehen eine beklemmende Szene, wo einer ältere Arbeiterin, die nicht mehr so schnell war und daher Lohnabzüge bekam, von den Dorfpolizisten mitgeteilt wurde, dass sie für mehrere Wochen in den Schuldturm muss. Ihre Kolleginnen stehen ihr mit Worten und Gesten bei, doch dagegen aufbegehren, dazu sind sie nicht in der Lage.
Die Unruh, ein durchaus doppeldeutiger Begriff, bleibt vorerst noch in der Uhr. Sie greift nur langsam in die Gesellschaft über. Das zeigt sich dann, wenn in der Dorfkneipe, wo sich die Arbeiter*innen in ihrer Freizeit unter den Augen der Dorfpolizisten treffen, eine Karte von Pyotr Kropotkin aufgehängt wird. Der russische Anarchist kam als Geograph in das Schweizer Jura, weil er dort wissenschaftlich arbeiten wollte, aber auch weil ihn die anarchistische Bewegung dort inspirierte. Allerdings nimmt Kropotkin im Film erfreulicherweise eine kleinere Rolle ein als in vielen Rezensionen auch in linken Zeitungen. Dort wird der bekannte Anarchist immer wieder besonders hervorgehoben. Dann geraten die Frauen, die die syndikalistisch-kommunistische Solidarität in der Praxis leben, wieder zu Nebenrollen. Dabei ist Unruh gerade das positive Gegenteil zum Film „Der junge Marx“ von 2017. Dort geht es ausführlich um das Leben von Marx und Engels. Die Arbeiterinnen, die in den Textilfabriken von Manchester schuften mussten, die Engels mal erben sollte, kamen nur als Statist*innen vor. In Unruh hingegen spielt Kropotkin diese Nebenrolle, wird mal von den Polizisten von der Uhrenfabrik verscheucht. Besonders lustig ist zu sehen, wie Kropotkin revolutionäre Grussadressen in alle Welt über das Telegraphenamt versendete. Das spielte damals die Rolle, die heute das Internet hat.
Der Film sollte angeschaut werden, weil er gerade keinen „Schweizer Sommer der Anarchie“ zeigt, wie die Filmwerbung einen viel strapazierten Buchtitel des kürzlich verstorbenen Schriftstellers Magnus Enzensberger wiederholt. Nein, der Film zeigt einen proletarischen Anarchismus Schweizer Arbeiterinnen, der deutlich macht, dass sie die Unruh in die Gesellschaft tragen.
Unruh, Cyril Schäublin, Schweiz 2022, 93 Minuten.
Der Film ist kürzlich angelaufen. Vorführungstermine finden sich hier: https://unruh.grandfilm.de
Beitragsbild © Grandfilm: https://grandfilm.de/unruh/
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