Rückblick: Juni 2018. Als sich die Situation Geflüchteter im Mittelmeer zunehmend zuspitzt, wird der Lifeline, einem Schiff der Seenotrettungsorganisation Mission Lifeline, verboten, in Italien anzulegen.
234 Schiffbrüchige befinden sich zu diesem Zeitpunkt an Bord. Laut UN ertranken 2262 Menschen 2018 im Mittelmeer, 2017 sind es sogar 3139 Menschen gewesen. Europa schottet sich energisch ab. Soweit nur die offiziellen Zahlen. An den abgelegenen Außengrenzen der EU lässt sich das Elend Schutzsuchender einfacher ausblenden. Die Europäer*innen wollen es nicht sehen. Sie könnten es, wenn sie denn wollen würden. Aufmerksamkeit erhielten Menschen auf der Flucht in den Monaten zuvor eigentlich nur, wenn sie der ungezügelte Volkszorn traf. Täglich brannten seit 2015 in Deutschland Unterkünfte Schutzsuchender. In Italien regiert währenddessen eine rechte Koalition aus rechtspopulistischer „Fünf-Sterne-Bewegung“ unter Führung von Guiseppe Conte und der rechtsradikalen Lega Nord, angeführt vom Innenminister Matteo Salvini. Lega-Nord-Chef Salvini, gerade einige Wochen im Amt, fährt einen harten, erbarmungslosen Kurs, um den man in Berlin, stillschweigend, nicht traurig ist.
Die inhumane Politik empört europaweit, zunehmend treibt es solidarische Menschen zu Protesten auf die Straße, in Deutschland sind es Zehntausende. Forderungen sind „sichere Fluchtwege, eine menschenwürdige Aufnahme von Vertriebenen und eine Entkriminalisierung der Seenotrettung“, die Seebrücke entsteht. Freiburg erklärt sich als erste Stadt zum „sicheren Hafen“. Im Sommer 2019 gründen 13 Städte die Initiative „Sichere Häfen“. Im November 2020 schließlich sind es bereits 206 Städte. „Sichere Häfen fordern im Namen ihrer Bürger*innen die Entkriminalisierung der Seenotrettung und neue staatliche Rettungsmissionen. Sie heißen Geflüchtete in ihrer Mitte willkommen – und sind bereit, mehr Menschen aufzunehmen, als sie müssten. Gemeinsam bilden die Sicheren Häfen eine starke Gegenstimme zur Abschottungspolitik der Bundesregierung – laut, unbequem und medienwirksam“, schreibt die Seebrücke und ruft weiterhin Städte und Kommunen auf, sich dem anzuschließen. Mit Thüringen und Berlin haben Bundesländer sich dem Aufruf angeschlossen und Schutzsuchende aus griechischen Notunterkünften aufgenommen.
80 Millionen Menschen befanden sich 2019 auf der Flucht, so viele wie nie zuvor, als dann zu Beginn dieses Jahres die Coronavirus-Pandemie ausbrach und begann, um den Erdball zu toben. Aufgrund der Infektionsgefahr waren die Aktivist*innen gezwungen, neue Protest- und Aktionsformen zu entwickeln. #leavenoonebehind wurde geboren: Es wurden Banner aufgehängt, Papierschiffchen und andere Blickfänger in den orangenen Signalfarben der Kampagne in den öffentlichen Raum platziert. Bundesweit gab es quasi täglich Protestaktionen, online dokumentiert, versehen mit dem Hashtag der noch immer laufenden Kampagne. Auf unzumutbare Zustände in den Lagern wie Moria möchte die Kampagne #leavenoonebehind hinweisen. Zwar wurde Moria nach dem Brand in der Nacht zum 8. September vollständig abgerissen, doch das neue, ersatzweise errichtete Lager Kara Tepe, Moria 2 genannt, ist Berichten zufolge ebenso unerträglich, wenn nicht gar noch schlimmer. Mindestens 10.000 Menschen leben laut UN dort. Es gibt nicht ausreichend zu Essen, zu weinge Toiletten und keine Duschen, die Menschen müssen zwischen Müll leben. Die Ärzte ohne Grenzen berichten von Kranken, denen eine dringend benötigte medizinische Behandlung nicht gewährt wird. Das Corona-Virus grassiert ungebremst. Die Zelte sind nicht winterfest, bei Regen ständig überflutet. Erschütternde Zustände. Die EU ignoriert das Problem, bei ausbleibendem öffentlichen Interesse kommt es nachweislich zu Pushback-Aktionen der Frontex-Grenzpolizei. 11.000 Schutzsuchende wurden seit Januar wieder nach Libyen zurückgebracht.
Vor Lybien sind diese Woche 74 Menschen ertrunken, dieses Jahr starben bisher mindestens 900 Menschen bei dem Versuch, Europa über das Mittelmeer zu erreichen. Sollten die düsteren Prognosen recht behalten und wir am Anbeginn einer neuen Weltwirtschaftskrise stehen, ist der Seebrücke ein langer Atem zu wünschen. Und die Bewegung wächst: In Norddeutschland haben sich in diesen Tagen Aktivist*innen von United4Rescue, einem Bündnispartner der Seebrücke, an die Arbeit gemacht, die Sea-Eye 4 zum Seenotrettungsschiff umzubauen.
Beitragsbild: SEEBRÜCKE Schafft Sichere Häfen!, Nick Jaussi, 2018, (CC BY 2.0)
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