Betrieb & Gesellschaft

Digitalisierte Menschenverachtung

Eine Antwort auf den Artikel „Lockdown ja - aber nur für Gefährder!“ im Tagesspiegel vom 07.04.2020.

So einfach ist es mit dem bürgerlichen Freiheitsverständnis bei konservativen Digitalisierungsexperten: „Wer eine besondere Gefahr darstellt, der muss besondere Einschränkungen dulden.“ [1]https://www.tagesspiegel.de/politik/menschen-mit-maske-und-app-sollten-raus-duerfen-lockdown-ja-aber-nur-fuer-gefaehrder/25719078.html Und wer ist eine besondere Gefahr? Na, wer legt das wohl fest?

Glaubt man dem Tagesspiegel und Martin Schallbruch, gilt ab sofort als „Gefährder“, wer sich staatlichen Zwangsmaßnahmen entzieht. Als besonders hinterhältig und subversiv könnte dann zum Beispiel gelten, wer ohne Smartphone vor die Türe geht. Mit dem Begriff des „Gefährders“ werden da schwere Geschütze aufgefahren: man denke nur an die juristisch fragwürdige und rassistische Zuschreibungen provozierende Geschichte des Konstrukts. [2]https://netzpolitik.org/2019/der-begriff-des-gefaehrders-hat-immer-auch-eine-rassistische-komponente/ Wer die Gemeinschaft gefährdet, oder zumindest im Verdacht steht, dies zu tun, hat seine Rechte verwirkt. Wer sollte dem Staat dies im Krisenfall übel nehmen? Hört da eigentlich niemand die alte Erzählung von den „Volksschädlingen“, die man „ausmerzen“ müsse, um die Ecke schleichen?

Schallbruch, sogenannter „Experte“, hat zwei Bücher veröffentlicht und ist stellvertretender Institutsdirektor einer privaten Bussiness-Uni in Berlin. Qualifiziert dies einen Menschen darüber, gesellschaftliche Urteile zu fällen? Zumindest ist das zweifelhaft. Wer als Beamter für das deutsche Innenministerium an IT-Strategien feilen durfte, steht mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht gerade euphorisch für den Schutz von Bürger*innenrechten ein. Unter anderem scheint Schallbruch für so zweifelhafte Projekte wie den biometrischen Reisepass und den elektronischen Personalausweis mitverantwortlich zu sein.

In der letzten Woche wurde viel über eine „Corona-App“ als Möglichkeit der Pandemiebekämpfung diskutiert. Natürlich auf komplett freiwilliger Basis und, nach absehbar heftiger Kritik, datenschutzkonform. Auf konservativer Seite ist man angefressen, dass die Bürger*innen die moderne Technik so offen verschmähen, ja sogar kritisieren. Und gelobt Besserung. Besserung nicht im Sinne eines besseren Schutzes des Individuums. Sondern Nachbesserung des Diskurses, was heißt, gezielte Attacke und dann Rechtsverschiebung. Der „Tagesspiegel“ hat am 07.04.2020 einen erfolgreichen Auftakt in dieser Verschiebung hingelegt. Weitere werden folgen.

Die Folgen eines solchen digitalen Abstandsmessers für das soziale Leben sind nicht mal annähernd vorhersehbar. Schon jetzt berichten Gesundheitsarbeiter*innen von Ausgrenzung. Eine Intensivpflegerin berichtet, wie sie in ihrem Dorf gemieden und aus dem Supermarkt verwiesen wurde. [3]https://www.zeit.de/arbeit/2020-04/intensivpflege-coronavirus-ausgrenzung-social-distancing Und was glauben all die schlauen Technokrat*innen, was dann bei einer App passiert, die uns die nächste infizierte Person auf dem Silbertablett serviert? Soziale Ausgrenzung wäre unter diesen Umständen noch das mildeste – eine wütende Meute, die eine als infiziert stigmatisierte Person durch die Straßen jagt, schon viel wahrscheinlicher.

Wenn die Wirtschaft wackelt, darf der Staat alles. Es lässt tief blicken, dass die von Schallbruch ins Spiel gebrachten weitreichenden Eingriffe nicht etwa mit dem Hinweis platziert wurden, es gelte Menschenleben zu schützen: Sondern „um die Risiken für die Wirtschaft so klein wie möglich zu halten“. Man möchte sich gerade in einem Land mit einer Geschichte, wie sie Deutschland hat, nicht vorstellen, was es bedeutet, dass Menschen wieder nur vor die Tür gehen dürfen, wenn sie sich „freiwillig“ einer Kennzeichnungspflicht durch den Staat beugen. Überall Gefährder. Und wer einfach zu Hause bleibt, weil er sich der staatlichen Überwachung nicht unterordnen möchte, ist dann dieser Definition offensichtlich ein „Schläfer“.

Schallbruchs Plädoyer für einen „differenzierten Risikobegriff“ sieht Menschen in erster Linie als Gefahr für andere an. Wer eine Gefahr ist, und worin diese besteht, liegt im Auge der definierenden Autorität. Die jüngsten Polizeigesetze zeigen die Neigung, den Gefahrenbegriff immer weiter zu dehnen, bis es potentiell jede*n treffen kann, der bestimmten Gruppen angehört – Risikogruppen als Gruppen, von denen ein Risiko für die Ordnung ausgeht? Was passiert als nächstes: was ist mit Streikenden? Oder gar psychisch kranken? „Arbeitsscheuen“ Individuen? Oder HIV-infizierten? Menschen mit einer „kriminellen Neigung“?

Der Philosoph Zygmunt Bauman, der sich durch eine Flucht in die Sowjetunion dem Massenmord an den europäischen Jüd*innen entziehen konnte, stellte sich die Frage, warum die Menschen in Deutschland bereit waren, der Deportation und physische Vernichtung ihrer jüdischen Mitmenschen erst schweigend zuzusehen und sie im Anschluss als einfache Rädchen im Getriebe mit umzusetzen. Er sah die soziale Erzeugung von Distanz als zentralen Faktor dafür an, dass ein beispielloser Massenmord in einer modernen Zivilisation durchgesetzt werden konnte. [4]Zygmunt Bauman: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 2012. Raul Hilberg, Historiker jüdischen Glaubens, der selbst vor den Nazis fliehen musste und als Soldat der US Army nach Deutschland zurückkehrte, machte dafür eine Praxis verantwortlich, die in verschiedenen Stufen erst „die anderen“ definierte, sie dann isolierte, schließlich konzentrierte. [5]Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, Berlin 1982. (6) Es folgte die Vernichtung.

Bauman wies darauf hin, dass die technischen Potentiale der heutigen Industriegesellschaft gesellschaftliche Selektionsprozesse viel einfacher und geräuschloser ermöglichen würden. Der in modernen Industriegesellschaften vorherrschende Zwang, „rational“ zu handeln, verschiebt nicht zweckorientiertes Handeln in den Bereich des Privaten. Moralisches – also nicht zweckgerichtetes – Handeln lohnt sich nicht. Funktionales Handeln hingegen gilt als einiges wirklich „soziales“ Handeln, kann in diesem Zusammenhang aber nur noch nach funktionalen Maßstäben bewertet werden. [6]Bauman relativierte keineswegs die Beispiellosigkeit der Vernichtungsagenda des NS- Regimes. Zugleich betrachtete er die Gemeinschaft der Mörder*innen jedoch als moderne, rationale und zivilisierte Gesellschaft – der Holocaust war also kein Unfall, sondern ein Teil der europäischen Moderne. Moralische Bewertungsmaßstäbe, die uns unter anderem daran hindern würden, ohne zweckgerichtete Gründe von der Ausgrenzung des „Anderen“ Abstand zu nehmen, existieren in diesem Schema nicht länger. Verfolgt Überwachung also einen gesellschaftlichen Zweck – in diesem Fall die Pandemiebekämpfung – so gilt sie automatisch als legitim. So, wie es die Idee einer lückenlosen Smartphonepflicht als Bedingung, dem Hausarrest zu entgehen, vorsieht. Erstmal im Pandemiefall. Und vielleicht bald in der Endlosschleife beliebiger Wiederholungssituationen.

Dies würde selbstredend nicht sofort die gesellschaftliche Mehrheit betreffen. Jedoch umso eher gesellschaftliche Randgruppen, solche, die als subversiv oder potentiell unbequem gelten, oder die ein Interesse hätten, den gegenwärtigen Zustand nicht mehr hinzunehmen. Als grundlegend für die Legitimation spezieller Überwachungsmaßnahmen erkannte Zygmunt Bauman die „Auslöschung des Antlitzes“ – also die Unsichtbarmachung von Menschen als uns gegenübertretende, ebenbürtige Menschen. „Objekte und bestimmte Gruppen können zum Feind erklärt und explizit jeden moralischen Schutzes beraubt oder […] auf ihren funktionalen Wert reduziert werden“, schrieb Bauman 1989 und nahm damit sowohl Bezug auf die sozialdarwinistische Trennung von Menschen in lebenswert und lebensunwert, als auch die Diskurse um nützliche und unnütze Migrant*innen vorweg. [7]Zygmunt Bauman: Dialektik der Ordnung, S. 241. Also diejenigen, die in Griechenland verrecken dürfen und die anderen, die als Fachkräfte benötigt werden. Ebenso schilderte er die Entfernung von Menschen aus der alltäglichen Interaktion als Strategie, um die „hemmende Wirkung der moralischen Interaktion“ zu bannen. Was wie eine philosophische Dystopie klingt, könnte mit technologischen Mitteln Wirklichkeit werden: Menschengruppen, die der Funktionalität des warenproduzierenden Systems gefährlich sein könnten, werden als Gefahr gekennzeichnet und dürften sich, wenn überhaupt, nur noch in bestimmten Gebieten bewegen. Der Mehrheitsgesellschaft würde dies als funktionale, sinnvolle und deshalb legitime Maßnahme erklärt werden. Vermutlich wäre diese Mehrheit längst jenseits aller moralischen Skrupel.

Bauman forderte eine Ethik, die sich der „Reduzierung des Individuums auf seine Funktionalität“ widersetzt. [8]Ebd., S. 247. Dass die Angst vor den gesellschaftlichen Folgen des Coronavirus im bürgerlichen Mainstream immer unverhohlener in eine nackte Panik vor einer Rezession kippt, die man mit einem ganzen wohlüberlegten rationalen Arsenal an kalkulierter Unmenschlichkeit zu verhindern gedenkt, zeigt die ungebrochene Notwendigkeit einer solchen Ethik – und wie sehr sich der Spätkapitalismus Tag für Tag weiter davon entfernt. Dieser Prozess der Entfernung potenziert sich gerade, wie die wortgewaltigen Ausdünstungen technokratischer Gewalttäter wie Schallbruch und ihre grotesken Visionen vom gläsernen Untertan zeigen. Nicht diejenigen, die sich staatlichen Zwangsmaßnahmen und Allmachtsphantasien entziehen, sind Gefährder. Sondern verhinderte Stasi-Offiziere vom Schlage eines Martin Schallbruch. Und jene, die derartigen Figuren auch noch ein Podium bieten.

 

Beitragsbild: „Überwachung des Herzschlags mit Smartphone App und Stethoskop“, Marco Verch, 2018 (CC BY 2.0).

Roman Waldheim

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Roman Waldheim

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