Die Staatsgläubigkeit war und ist auch das größte Hindernis für die Entwicklung der sozialistischen Aufbaupläne. Wo schon eine Gesellschaftsorganisation vorhanden ist, die in die neue, sozialistische Weltordnung mit übernommen werden soll, dort braucht man keine neuen Pläne, keine Ideen über die Neugestaltung.
Holger Marcks startete 2018 in der Direkten Aktion „eine zeitgemäße Skizze dessen […] was Rudolf Rocker einst als »konstruktiven Sozialismus« bezeichnete“. Die theoretische Komplettierung im Onlineblog der FAU „einer aufbauenden Sozialtechnik, die strategisch zwischen Realität und Utopie vermitteln kann“, wurde von Marcks abgebrochen. Marcks schrieb im ersten Teil seiner „Skizze eines konstruktiven Sozialismus“:
„Tatsächlich gelang es dem Syndikalismus, der in vielen Ländern dominierend in der Arbeiterbewegung war, bevor diese nach der Russischen Revolution von 1917 eine autoritäre Wende vollzog, vielerorts revolutionäre Bewegungen aufzubauen. Allerdings hatte dabei das Element des revolutionären Bruchs immer noch ein starkes Gewicht, wie auch der syndikalistische fiktive Roman Wie wir die Revolution machten zeigt. Trotz aller Keimformpraxis konnte man sich die Transformation ohne ein »letztes Gefecht«, etwa einen aufständischen Generalstreik, nicht vorstellen.
Zum Teil war das berechtigt. Denn mit dem Wachsen der Gegenmacht mobilisierte das verunsicherte Bürgertum in der Regel auch schon vor einem Aufstand zur gewaltsamen Reaktion. In jedem Falle konnten sich die SyndikalistInnen in der direkten Konfrontation mit dieser nie durchsetzen. Diese Erfahrung veranlasste TheoretikerInnen der Bewegung in den 1920ern zu Überlegungen, wie der Weg vom syndikalistischen Organismus zur neuen Gesellschaft auch ohne aufständisches Moment beschritten werden könnte.
In der FAUD führte man daher eine Debatte über »konstruktiven Sozialismus«, die zu einer weiteren Konkretisierung der Keimformtheorie führte. Die Debatte fand im Theoriemagazin der FAUD (Die Internationale – Zeitschrift für die revolutionäre Arbeiterbewegung, Gesellschaftskritik und sozialistischen Neuaufbau) statt. Für den Initialartikel siehe Rudolf Rocker, »Konstruktiver Sozialismus«, in: Die Internationale, Nr. 1, Jg. 1 (1927). Dabei wurden umfassende soziale Gegeninstitutionen angedacht, mit denen ein geordneter Übergang zum Sozialismus möglich wäre. Eine frühere Fundierung findet sich bereits bei: Studienkommission der Berliner Arbeiterbörsen & Franz Barwich, »Das ist Syndikalismus«. Die Arbeiterbörsen des Syndikalismus, Frankfurt a.M. 2005 (Original von 1923).“
Im Folgenden soll eine der historischen Quellen dieses Theorieprojekts zugänglich gemacht werden: die erwähnte Artikelreihe Rudolf Rockers „Konstruktiver Sozialismus“ aus Die Internationale. [1]Für eine Einführung in die Geschichte der Zeitschrift empfiehlt sich ein Artikel Helge Döhrings. Die an diesen Aufschlag Rockers anschließenden Texte Helmut Rüdigers aus der Internationale wurden bereits hier und hier zugänglich gemacht. In der Barrikade #6 wurde dieses Thema ebenfalls bearbeitet. Dort heißt es u.a.:
„In der libertären Arbeiterbewegung und in der anarchosyndikalistischen Organisation FAUD der Weimarer Republik (1918-1933) fand eine Diskussion über den „Konstruktiven Sozialismus“ statt. Hierbei ging es letztlich die Beweisführung, anhand von „Experimentalsozialismus“ aufzuzeigen, daß Arbeiter~innen Betriebe führen können und deshalb auch eine selbstverwaltete Gesellschaft praktisch möglich ist.
In der Theorie-Zeitschrift der FAUD Die Internationale ‚tobte’ 1929 bis 1932 ein Kampf um die Idee sozialistischer ‚Experimente’ oder des ‚konstruktiven Sozialismus’. Den Beginn machte eine historische Artikelserie von Rudolf Rocker über die den konstruktiven Sozialismus in den verschiedenen Epochen und durch unterschiedliche utopische Sozialisten im Jahre 1927. Er schreibt u.a.:
»Die Genossenschaften aber haben die einstigen Voraussetzungen ihrer Bestrebungen längst vergessen und sich in Organe der kapitalistischen Gesellschaft umgewandelt. Wir wollen nicht bestreiten, daß sie auch in dieser Form dem einzelnen Arbeiter noch von bescheidenem Nutzen sein können; aber der sozialistische Fernblick, den Robert Owen einst hatte, ist ihnen verloren: gegangen und zusammen mit ihm der Drang zur konstruktiven sozialistischen Betätigung […]«
Rocker übertrug damit der revolutionären sozialistischen Gewerkschaftsbewegung die Aufgabe der Produktion, während die Genossenschaften den Konsum zu organisieren haben. Er geht also scheinbar davon aus, daß es keine Produktionsgenossenschaften gäbe und nur Konsum- und Wohnungsbaugenossenschaften. Der kommunalistische Sozialismus als dritte Säule neben den revolutionären Gewerkschaften und den Konsumgenossenschaften manifestiert sich bei Rocker – ähnlich wie bei Kropotkin – allein durch die Vielzahl der sozialistischen Arbeiterorganisationen (Arbeitersport, Kultur- und Bildungsvereine etc.)“
Um in diese historische Debatte einzutauchen, beginnen wir mit dem Vorwort zu der oben von Marcks genannten Ausgabe der Internationale.
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Die Aufgabe dieser Revue soll darin bestehen, die Fragen der revolutionären Arbeiterbewegung gründlich zu behandeln, die Erscheinungen des modernen Kapitalismus zu beleuchten, die Entwicklungsrichtungen der heutigen Wirtschaftsordnung in ihrem Verhältnis zum Befreiungskampf des Proletariats zu betrachten, Kritik an dem politischen System der Gegenwart zu üben, die reaktionären Erscheinungen auf allen Gebieten des sozialen Lebens zu bekämpfen. Darüber hinaus sollen Berichte über die internationale Arbeiterbewegung im allgemeinen und über den internationalen Syndikalismus im besonderen gegeben werden. Allen neu auftauchenden Fragen und Versuchen zur Lösung des sozialen Problems soll gebührende Aufmerksamkeit gezollt werden. Auch sozialistisches Neuland wollen wir betreten.
Die deutsche Arbeiterbewegung ist zwar mächtig in die Breite, aber nicht genügend in die Tiefe gegangen. Die sozialistischen Ideen sind verflacht und haben in den politischen Parteien und Gewerkschaften nicht ihre geeigneten Träger. Der Sozialismus, den die breiten Arbeitermassen noch vor wenigen Jahren in greifbarer Nähe glaubten, hat sich für die lebende Generation zum entschwundenen Idol verflüchtet. An die Stelle, des Kampfes für die Endziele der sozialen Bewegung ist der Kampf ums nackte Leben, ums tägliche Brot getreten. Doch auch dieser Kampf wird nicht in der rechten Weise geführt. Die „berufenen“ Organisationen und „bewährten“ Führer wollten die Arbeiter von Sieg zu Sieg führen, tatsächlich ging es bergab: von einer Niederlage zur andern. Der Achtstundentag und das Mitbestimmungsrecht der Arbeiter im Produktionsprozeß durch Betriebsräte ging verloren, die Löhne wurden herabgesetzt, die Lebenshaltung sank auf der ganzen Linie und die Arbeitslosigkeit schlug tiefe Wunden in den Leib des Proletariats.
Daß auf parlamentarischem Wege durch Beeinflussung der Gesetzgebung nichts zu erreichen ist, zeigt sich täglich immer deutlicher. Lohnpolitik durch gesetzlich sanktionierte Tarifverträge, staatliche Schlichtungsbehörden und verbindliche Schiedssprüche haben sich als schicksalsschwer für das Proletariat erwiesen. Das Vertrauen in die eigene Kraft ist in den Reihen der Arbeiterschaft schwer erschüttert. Es muß wieder erweckt werden. Der Syndikalismus ist noch unverbraucht, seine Ideale besitzen noch Anziehungskraft, seine Kampfesmittel der direkten Aktion sind von den breiten Arbeitermassen Deutschlands noch nicht bewußt erprobt. Nicht der Staat hilft dem Proletariat, der Arbeitsmann muß sich selber helfen. Je intensiver der Entwicklungsprozeß des Selbstbewußtseins im modernen Proletarier fortschreitet, je weniger die Mittlerschaft des Staates und der Behörden in Anspruch genommen wird, um so rascher wird die Erkenntnis reifen, daß Eigenhandlung Freiheit schafft. Die Staatsgläubigkeit bei Sozialdemokraten wie Kommunisten, bei Zentralgewerkschaftern und allen autoritären Richtungen ist unser ärgster Feind; sie hat die Arbeiterbewegung auf den Hund gebracht, ihr sei in diesen Heften harte Fehde angesagt.
Die Staatsgläubigkeit war und ist auch das größte Hindernis für die Entwicklung der sozialistischen Aufbaupläne. Wo schon eine Gesellschaftsorganisation vorhanden ist, die in die neue, sozialistische Weltordnung mit übernommen werden soll, dort braucht man keine neuen Pläne, keine Ideen über die Neugestaltung. Aus diesem Grunde ist der Staatssozialismus, sind alle marxistischen Richtungen, die heute parlamentarische Opposition treiben und morgen parlamentarisch regieren werden, so unsagbar arm an sozialistischen Neuwerten. Hier liegt auch der tiefere Grund des Mißlingen der deutschen Revolution. Und auch die Zukunft bringt nur die Früchte, die in der Gegenwart gesät werden. Wenn morgen eine neue Revolution ausbricht, dann muß das Proletariat darauf vorbereitet sein. Es muß Betriebe leiten, den Bedarf feststellen, den Konsum regeln, die Gemeinde verwalten, die Produktion in die Hände nehmen können. Das alles muß heute schon ins Auge gefaßt werden. Das neue Leben muß außerhalb des Staates geschaffen und heute vorbereitet werden. Es gibt aber zurzeit keine Bewegung, die für sich allein so mächtig und vielgestaltig zugleich ist, daß sie allen Aufgaben gerecht werden könnte. Deshalb wird es erforderlich sein, daß die sozialrevolutionäre Arbeiterschaft sich auf allen Gebieten des sozialen Lebens Erfahrungen holt. Eine Zusammenfassung aller sozialistischen werktätigen Kräfte auf dem Boden der direkten Aktion wird sich am Tage der sozialen Revolution erforderlich machen. Und dazu wollen wir hier vorbereitend wirksam sein.
Die Rationalisierung der Wirtschaft und die internationale Vertrustung des Kapitalismus zeigen uns eine neue Entwicklungsstufe der heutigen Gesellschaftsordnung. Die Arbeiterbewegung muß dieser Neuentwicklung geistig und organisatorisch gewachsen sein. Sie muß national und vor allem auch international neue Wege suchen, um den neuen Ausbeutungsmethoden wirksamen Widerstand entgegensetzen zu können. Den vertikalen und horizontalen Erweiterungen des kapitalistischen Betriebes muß eine vertikale und horizontale Streik- und Boykottaktik entgegengestellt werden. Die wundesten Stellen des Kapitalismus müssen ausfindig gemacht und der Kampf an denselben eingesetzt werden. Bis heute bewegen sich die Arbeiterorganisationen immer noch auf den alten ausgetretenen Pfaden. Der Kampf der englischen Bergarbeiter ging verloren, weil noch keine neue internationale Kampfestaktik angewandt wurde. Die Hilfe der Arbeiterschaft aller Länder darf nicht in internationalen Geldsammlungen, sondern sie muß in internationalen Kampfesaktionen bestehen. Diese Methoden sind noch auszuarbeiten und sollen hier behandelt werden.
Der Aufgabenkreis, den wir dieser Zeitschrift stellen ist groß. Wir sind deshalb überzeugt, daß die Zeitschrift ihre Leser finden wird. Der revolutionäre Syndikalismus ist noch eine Minderheitsbewegung. Von seiner Entwicklung und seinem Fortschritt hängt der Sieg und die Zukunft der Arbeiterbewegung ab. Er ist die Wiedergeburt des Sozialismus. In dieser Zeitschrift, die in Erfüllung eines Auftrages des XVI. Kongresses der Freien Arbeiter-Union Deutschlands herausgegeben wird, werden sich die Gesamtprobleme der modernen sozialistischen Bewegung im Inland und Ausland widerspiegeln. Die Redaktion.
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