Hintergrund

Fred Thompson: Was bedeutet Machtausübung durch die Basis?

Ursprünglich erschienen in The One Big Union Monthly (März 1938). Übersetzung von Fritz Faul.

Wir Werktätigen wollen unsere Löhne erhöhen und unsere Arbeitszeit verkürzen. Wir wollen unsere Arbeitsplätze sicherer und weniger gesundheitsschädlich machen. Dort, wo wir unseren Lebensunterhalt verdienen müssen, soll es weniger unangenehm zugehen. Wenn wir erkennen, welchen Schaden das kapitalistische System uns zufügt, wollen wir es auch loswerden. Wir können all diese Dinge nicht alleine erreichen. Aber wir können sie gemeinsam erreichen. Deshalb gründen wir Gewerkschaften. Unsere Gewerkschaften sind nur dann Gewerkschaften, wenn sie das tun, was wir von ihnen verlangen. Eine Vereinigung von Arbeiter:innen ist keine Gewerkschaft, wenn sie nicht von ihren Mitgliedern kontrolliert wird. Das ist Grund Nr. 1, warum die I.W.W. auf Basisorganisierung besteht.

Der Begriff der Basis wird in letzter Zeit auf so seltsame Weise verwendet, dass er im Zuge dessen einige seltsame Bedeutungen angenommen hat. Aus diesem Grund ist es an der Zeit, dass die I.W.W. als führende Vertreter:innen und Praktiker:innen einer Basisgewerkschaftlichkeit erklären, was eine Basisgewerkschaft ausmacht und was nicht.

Die seltsame Verwendung des Begriffs „Basis“, auf die wir uns beziehen, machen am häufigsten die Kommunist:innen und andere Anhänger:innen des „Führungsprinzips“. Nun ist das „Führungsprinzip“ – die Idee, dass wir uns Führer:innen aussuchen und ihnen folgen sollten, und dass wir unsere Probleme durch den Wechsel von Führer:innen zu beheben suchen – das direkte Gegenteil der Basisidee. Es ist in der Tat merkwürdig, dass gerade diejenigen, die diesen „der fuehrer“-Plan einer Organisierung befürworten, überhaupt jemals die „Machtausübung durch die Basis“ einfordern. Wie ist das möglich?

Das Ziel dieser verschiedenen politischen „Folgt-dem-Führer“-Kulte ist es, mehr Anhänger:innen für ihre verschiedenen Führer:innen zu gewinnen. (Und da es jedes Mal, wenn es eine:n neue:n Führer:in gibt, auch neue Sekten gibt, führt dies zu einer ziemlich verwirrenden Situation. Ihr Ziel besteht nicht darin, eine Arbeiterklasse zu organisieren, um etwas für sich selbst zu tun, sondern dafür zu sorgen, dass man den einen Führer:innen dieser und jener Sekte und nicht denen einer anderen folgt. Deswegen suchen sie ihre Anhänger:innenschaft vor allem in bereits organisierten Gruppen von Arbeiter:innen. Manchmal versuchen sie, sich diese Anhänger:innenschaft zu sichern, indem sie sich bei den Funktionär:innen dieser Gewerkschaften einschmeicheln. Das war und ist die Lieblingspolitik der Sozialist:innen. Die kommunistischen Sekten variieren diese Politik mit dem „Bohren von innen“ [1]Anm. d. Übersetzers: „Boring from within“ war die präferierte Strategie von William Z. Foster. Dieser begann seine Aktivistenkarriere als Organizer der I.W.W., vertrat dort die Minderheitenposition einer militanten Minderheit und verließ diese in Folge. Er arbeitete sich zum Führer der Kommunistischen Partei der USA hoch und vertrat die genannte Strategie, reformistische Gewerkschaft von innen durch politische Aktivist:innen zu reformieren. Heutige linksgewerkschaftliche Intelektuelle wie Jane McAlevey oder die salts der Amazon Labor Union beziehen sich zentral auf William Z. Foster., um sich offizielle Posten zu sichern.

Wenn eine Gruppe selbsternannter Retter:innen versucht, solche offiziellen Posten in einer Gewerkschaft an sich zu reißen, müssen sie auf die Lieblingstricks des:der erfolglosen Politiker:in zurückgreifen – also des:derjenigen, der:die nicht mehr im Amt ist. Sie müssen die gewählten Funktionär:innen beschuldigen, „ihr Mandat zu verraten“, „ihre Versprechen nicht einzuhalten“ und „die Wünsche der Basis zu ignorieren“. Sie müssen versprechen, dass, wenn sie gewählt werden, die „Basis“ durch sie regieren wird. Das Ergebnis ist das merkwürdige Schauspiel von „Basis“gruppen, die auf Anweisungen eines:einer Führer:in warten, bevor sie über ihre nächsten Schritte entscheiden können!

Um sich selbst in den Sattel zu setzen, müssen diese Möchtegern-Führer:innen ihre potenziellen Opfer davon überzeugen, dass sie im Moment noch geritten werden, aber dass sie, wenn diese Möchtegerns im Sattel sitzen, nicht mehr geritten werden. Es wird den Absichten dieser Möchtegerns nicht dienlich sein, darauf zu drängen, dass diejenigen, die geritten werden, den:die Reiter:in, den Sattel und alles andere loswerden sollten. Sie müssen darauf drängen, dass nur der:die Reiter:in gewechselt werden. Diesem Ziel dienen ihre politischen Intrigen und Manipulationen in den Gewerkschaften. So lassen sie den Eindruck entstehen, dass wann immer jemand das Wort “Basis” benutzt, es dabei eigentlich um die Sabotage und Verleumdung der aktuellen Funktionär:innen geht. Der Bezug auf die „Basis“ nimmt in diesem Ränkespiel alle möglichen Konnotationen an. Was dabei aus dem Blick gerät, ist diejenige Verwendung des Begrifss, welcher aussagen will, dass eine Gewerkschaft durch ihre Mitglieder zur Durchsetzung ihrer eigenen Wünsche benutzt wird.

In der I.W.W.

In der I.W.W. ist die Machtausübung durch die Basis implizit in unserer Satzung, unserer Struktur, unseren Finanzrichtlinien und unseren bewährten Verfahrensweisen verankert. Dennoch haben wir keine Basiskomittees, und selten erleben wir ein Mitglied in unseren Reihen, das an die Basis appelliert oder sie auch nur erwähnt. So, wie der beste Beweis für eine gute Leber darin besteht, dass es keinen Anlass gibt, sie zur Kenntnis zu nehmen, so ist der beste Beweis für eine funktionierende Machtausübung durch die Basis darin zu sehen, dass sie nicht erwähnt zu werden braucht. Wir verwenden den Begriff vor allem, um die Unzulänglichkeiten anderer Gewerkschaften zu beschreiben. Wie wird eine solche vollständige Machtausübung durch die Basis erreicht?

Erstens gibt es in unseren Reihen keine Unterteilung in Funktionär:innen und Basismitglieder. Es gibt kein Beamtentum. Wir haben Sekretär:innen („officers“), einige ehrenamtlich, andere auf der Gehaltsliste, einige widmen sich voll und ganz der Arbeit der I.W.W., andere nur in ihrer Freizeit nach der regulären Arbeitszeit. Keiner von ihnen ist über viele Jahre im Amt. Die verschiedenen Amtszeiten reichen von drei Monaten bis zu einem Jahr, und in keinem Fall kann ein Mitglied mehr als drei aufeinander folgende Amtszeiten ausüben. Unsere Mitglieder werden also in ihr Amt gewählt und wieder abgewählt. Würden sie ein Leben lang im Amt bleiben, wie es in vielen Gewerkschaften der Fall ist, würden sie zweifellos „von der Verantwortung des Amtes ernüchtert werden und ihren revolutionären Drang der Notwendigkeit unterordnen, den Organisationshaushalt auszugleichen“. Aber sie bleiben nicht, und während dieser Amtszeit betrachten sie die Probleme der Organisation auf die gleiche Weise wie der Rest der Mitglieder. Umgekehrt haben so viele unserer Mitglieder, die zu einem bestimmten Zeitpunkt kein offizielles Amt innehaben, solche Ämter bekleidet, dass der Standpunkt dieser Mitglieder weitgehend auf einer Erkenntnis der Probleme beruht, mit denen die Sekretär:innen einer Gewerkschaft konfrontiert sind. So gibt es eine natürliche Harmonie und Einheitlichkeit der Ansichten innerhalb der I.W.W.

Die Befugnisse dieser I.W.W.-Sekretär:innen sind sehr begrenzt. Sie können weder zu Streiks aufrufen, noch können sie diese verhindern. Folglich ist ihnen ein Verrat und Ausverkauf der Interessen der Arbeiter:innen nicht möglich. Wenn sie bezahlt werden, haben sie kein Stimmrecht in Mitgliederversammlungen, und kein:e Sekretär:in, ob bezahlt oder nicht, hat eine Stimme in der Industriegewerkschaft oder auf allgemeinen Kongressen. Dies steht in deutlichem Gegensatz zu der Praxis der meisten anderen Gewerkschaften. Die Arbeit der I.W.W.-Sekretär:innen wird ihnen von den verschiedenen Kongressen oder anderen beratenden Gremien der Mitglieder vorgegeben. Sollte ein unvorhergesehener Umstand eintreten, der eine abrupte Änderung des Plans oder der Politik erforderlich macht, muss darüber ein Referendum durchgeführt werden. Sie können jederzeit durch ein Referendum abberufen werden.

Keine Föderation

Die Struktur der I.W.W. sorgt für ein Höchstmaß an Zusammenhalt bei größtmöglicher Freiheit oder Autonomie ihrer Glieder, um lokale oder spezifische Probleme zu lösen, wie es die konkreten Umstände erfordern. Sie ist keine Föderation von Industriegewerkschaften, sondern eine einzige große Gewerkschaft der Arbeiter:innenklasse. Alle ihre Mitglieder sind direkt Mitglieder der I.W.W. Sie treffen sich als Mitglieder von Industriegewerkschaften, je nach der Art ihrer Arbeit; und es gibt einen freien automatischen Wechsel von einer Industriegewerkschaft zur anderen. Ein großer Teil der Arbeit der I.W.W. wird durch Mitgliederversammlungen, Konferenzen aller Mitglieder in einem Distrikt, Industrie-Distriktsräte und andere Strukturen geleistet, in welchen Mitglieder verschiedener Industriegewerkschaften zusammenkommen. All dies führt zu Zusammenhalt und Solidarität, ohne dass eine mächtige zentrale Autorität auferlegt wird. [2]“It is not a federation of industrial unions, but a One Big Union of the working class. All its members are directly members of the I.W.W. They meet as members of industrial unions, according to the sort of work they do; and there is a free automatic transfer from one industrial union to another. A good portion of the work of the I.W.W. is accomplished by general membership meetings, District Conferences of all members in a district, Industrial District Councils, and other structures that bring members of various industrial unions together. All this results in cohesiveness and solidarity without the imposition of a powerful central authority.“

Folglich bedeutet die Beibehaltung eines üblichen Maßes an Autonomie der einzelnen Gliederungen der I.W.W. nicht, dass der Zusammenhalt dadurch beeinträchtigt wird. Die Betriebsverbände entscheiden selbst, wie sie die Arbeit organisieren, wie sie ihre Organisierung fortführen oder wie sie verbessert werden kann. Die Zweige der Industriegewerkschaft entscheiden über ihre lokale Organisationspolitik, wählen ihre eigenen Sekretär:innen, entscheiden über ihre eigenen Mittel und Wege. Die Industriegewerkschaften selbst tun dasselbe. Diese Organe sind nur durch Folgendes eingeschränkt: Alle müssen im Einklang mit der allgemeinen Verfassung und den Satzungen ihrer Industriegewerkschaften sowie den Beschlüssen ihrer Kongresse handeln.

Die Finanzrichtlinien der I.W.W. sind eine weitere Garantie für die Kontrolle durch die Basis. Die Kontrolle über die Kasse einer Gewerkschaft bedeutet oft auch die Kontrolle über die Gewerkschaft. Die Zweige der Industriegewerkschaft haben ihre eigenen Kassen, die Industriegewerkschaften haben ihre eigenen Kassen, die Allgemeine Organisation hat ihre eigene. Von den von den Mitgliedern erhobenen Beiträgen verbleibt ein in der Satzung der jeweiligen Industriegewerkschaft festgelegter Anteil in der örtlichen Zweigstelle der Industriegewerkschaft, ein weiterer Anteil geht an die Hauptverwaltung der Industriegewerkschaft. Davon geht ein bestimmter, in der Satzung festgelegter Anteil an das General Office, und der Rest verbleibt als Organisationsfonds, der vom Allgemeinen Organisationsausschuss der betreffenden Industriegewerkschaft ausgegeben wird. Wenn Streiks oder Organisierungskampagnen die Kassen einer Gewerkschaft sprengen, kann das General Office um Unterstützung gebeten werden, oder die anderen Industriegewerkschaften – aber sie können nicht gezwungen werden, ihre Mittel beizusteuern. In solchen Notfällen muss die I.W.W. feststellen, dass ihre Schatzkammer immer noch „in den Taschen der Arbeiter:innen“ ist. Und je näher diese Schatzkammer den Taschen der Arbeiter:innen ist, desto mehr Rücksicht müssen die Gewerkschaftssekretär:innen auf die Wünsche dieser Hüter:innen der Schatzkammer nehmen.

Die wirksamste Garantie für die Machtausübung durch die Basis in der I.W.W. liegt jedoch nicht in ihrer Satzung, Struktur oder ihren finanziellen Regelungen, sondern in den Standpunkten, die in unseren Reihen zur Tradition geworden sind. Die I.W.W.-Mitglieder betrachten Basisorganisierung nicht nur als ein Mittel, um sicherzustellen, dass die Gewerkschaft nach ihren Wünschen geführt wird. Sie betrachten diese vorallem als ein Mittel, um Dinge gebacken zu bekommen. Die Aufteilung der Verantwortung in einer Basisorganisation fördert Initiative und setzt Energie frei. Noch wichtiger für Erfolge ist, dass die Dinge von denjenigen erledigt werden, die wissen, was sie erreichen wollen, welche Hindernisse auf dem Weg dorthin bestehen und wie die Sache folglich angegangen werden muss. Es mag möglich sein, ein Boot auf offener See per Fernsteuerung zu lenken, aber das funktioniert nicht, wenn man einen Baumstamm den Fluss hinunterschiffen will.

Es ist die Machtausübung durch die Basis, die es der I.W.W. ermöglicht hat, mit relativ wenigen Mitgliedern solch großartige Ergebnisse zu erzielen, wie sie es in der amerikanischen Industrie getan hat. Es ist die Machtausübung durch die Basis, die sie davor bewahrt hat, von den verschiedenen Launen und Marotten, die die angebliche Intelligenz der Arbeiter:innenbewegung befallen haben, in die Irre geführt zu werden. Es ist die Machtausübung durch die Basis, die die Organisationsfähigkeit in den Reihen unserer Organisation so weit entwickelt hat, dass sich nicht nur die meisten unserer Mitglieder als kompetente Organisator:innen erwiesen haben, sondern dass unsere ehemaligen Mitglieder einen großen Teil der Organisationskräfte für andere Gewerkschaften gestellt haben. Es ist dieselbe Entwicklung individueller Fähigkeiten, die die I.W.W. angesichts der rücksichtslosesten Versuche, sie auszurotten, unzerstörbar gemacht hat; und es ist diese Entwicklung individueller Fähigkeiten und das organisierte Selbstvertrauen, das dahinter steht, auf das die I.W.W. blickt, um sicher zu sein, dass sie für sich selbst kämpfen kann, ganz gleich, welche Unterdrückung der bürgerlichen Freiheiten, welcher Despotismus und welche staatlichen Eingriffe in die Gewerkschaftsbewegung aus dem „Fuehrer-Prinzip“ erwachsen mögen.

Es ist nicht verwunderlich, dass die I.W.W. großen Wert auf diese Idee der Basis legt und
in den Gewerkschaften, in denen sie fehlt, nach ihr Ausschau hält. Es ist auch nicht verwunderlich, dass sie die Idee des Führers, die für diese keinen Raum lässt, vollständig ablehnt und darauf drängt, dass die echte Machtausübung durch die „Basis“ nicht mit den lächerlichen Imitationen verwechselt wird, die von den gernegroßen, selbsternannten Retter:innen der amerikanischen Arbeiterklasse feilgeboten werden.

 

Titelbild: https://www.wobblies.org/

 

Fred Thompson

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