Kultur

Glückwünsche zur 100. Ausgabe der Zeitschrift GăiDào!

Betrachtung der Entwicklung und der Herausforderungen eines bewegten Mediums der anarchistischen Szene.

Die Zeitschrift der Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen erscheint in ihrer 100. Ausgabe. Damit hat das autonome und pluralistische Zeitungsprojekt eine größere Kontinuität und gewissermaßen Tradition als viele anderen Projekte in der anarchistischen Szene. Monat für Monat in Eigenleistung eine Zeitschrift zusammenzustellen und kostenlos downloadbar zur Verfügung zu stellen, ist keine Selbstverständlichkeit und daher ein wichtiger Beitrag für die Kommunikation, den Austausch und die Organisierung innerhalb der anarchistischen Szene. Insbesondere ihre ansprechende und übersichtliche Homepage [1]https://fda-ifa.org/gaidao/ stellt einen innovativen Meilenstein für anarchistische Printmedien dar.

Der stetige Spagat zwischen verschiedenen Vorstellungen und Erwartungen

Die Gestalt der anarchistischen Szene, gesellschaftliche Bedingungen insgesamt, aber auch der Mitmach-Charakter der Găi Dào und ihre gewollte Vielfältigkeit, führten dazu, dass die Qualität der Beiträge in ihr sehr schwankte. Leider wurden wenige kontinuierliche Debatten (auf eine solidarische und konstruktive Weise) geführt und die Artikel sind selten wirklich aktuell. Somit bewegten sich die Inhalte der Găi Dào in einem stetigen Spagat zwischen widerstreitenden Bedürfnissen vieler ihrer (potenziellen) Leser*innen: Gibt es für manche zu viele komplizierte Theorie-Artikel oder uninteressante Rezensionen, wünschen sich andere ein höheres theoretisches Niveau. Wollen die einen mehr aktuelle Infos für ihre politische Praxis, finden andere längere Debatten inspirierender. Während verschiedene Personen, sich eine größere Sachlichkeit, Ernsthaftigkeit oder auch Klarheit wünschen, können sich andere vor allem in unfertigen, ganz persönlichen Erfahrungsberichten und Gedankengängen wiederfinden.

Da die Redaktion wiederum weder die Absicht, vor allem jedoch nicht die Kapazitäten hat, um die Entwicklung der Găi Dào nach einer klareren Linie zu entfalten, sind ihre Inhalte zum Teil ein Abbild dessen, was in der anarchistischen Szene los ist. Mehr aber noch zeigen sie, welchen Wert Anarchist*innen auf Selbstdarstellung, Debatte, Bewusstseinsbildung und Organisation legen – zumindest an den Stellen, wo sie in die Öffentlichkeit treten. Dies ist durchaus nicht negativ gemeint: Es kann davon ausgegangen werden, dass sich wieder mehr Menschen eindeutiger dem Anarchismus zuwenden. Innerhalb der Szene findet auch viel Kommunikation statt – offensichtlich weniger jedoch in Zeitschriften. Möglicherweise spiegelt sich darin auch ein Generationsumbruch wider, insofern jüngeren Personen die Găi Dào entweder noch nicht bekannt ist oder sie weniger auf den Stand ihrer Erfahrungen und ihres Wissens eingeht, während die inzwischen älter gewordenen, verbleibenden Leute, der tendenziell nach wie vor in der Jugendbewegung verhaftetet Anarch@-Szene, eher das Bedürfnis nach mehr Seriosität, verbindlicheren Zusammenhängen, kontinuierlichen Strukturen und klaren inhaltlich-politischen Positionen und Analysen haben. Für die Letzteren ist es anstrengend, wenn Jüngere immer wieder das Rad neu erfinden wollen, während von den geführten Kämpfen leider oftmals wenig zu sehen ist, während erstere zurecht einfordern, ihre Gedanken artikulieren zu können, ohne sich dauernd anhören zu müssen, dass dies alles unausgegorener, idealistischer Quatsch sei, der ohnehin schon hundertmal diskutiert wurde.

Mit den hier angesprochenen Schwierigkeiten müssen logischerweise auch andere selbstgemachte anarchistische Zeitungen einen Umgang finden. Wenn dies also auch Publikationen wie den (leider eingestellten) Leipziger Feierabend! [2]http://feierabend-le.net/wordpress/editorial-fa-55/, das kleine Anarcho-Info-Blatt Jena [3]https://samizdatarchiv.noblogs.org/ oder das umfangreiche und bebilderte, noch recht junge Circle A aus Dresden [4]https://and.notraces.net/category/allgemein/infoblatt/ betrifft, so besteht an diesen jedoch Interesse gerade aufgrund des lokalen Fokus. Ein klares Profil hat Ne Znam. Zeitschrift für Anarchismusforschung, die sich aber aufgrund ihres Charakters und ihrer Inhalte nicht mit den anderen anarchistischen Zeitungen vergleichen lässt. Dies trifft im Übrigen auch auf die Graswurzelrevolution (GWR) zu, die allerdings als erfolgreiches anarchistisches Zeitungsprojekt gelten kann, aus verschiedenen Gründen jedoch weniger die Interessen der meisten Menschen abbildet, welche sich (potenziell) für die Găi Dào interessieren.

Die Struktur steht – beteiligt euch!

Festzustellen ist jedenfalls, dass es einen kontinuierlichen Rückgang der Leser*innenschaft gab. Sehr verzerrt lässt sich dies anhand der Download-Zahlen der Online-Ausgabe nachvollziehen (auch wenn klare Zahlen nie wirklich erhoben wurden). Dies ist insofern bedauerlich, als dass die Arbeit für die Redaktion die gleiche bleibt, während es meines Erachtens nach immer noch sehr lesenswerte Beiträge gibt. Der wesentliche Unterschied scheint zu sein, dass die meisten organisierten Anarchist*innen im Umfeld der FdA die Găi Dào aktuell nicht mehr als ihr eigenes Medium begreifen, dessen Redaktion jedoch darauf angewiesen ist, von ihnen regelmäßig Artikel zugesandt zu bekommen.

Doch da die Struktur der Zeitschrift steht und in ihrem Umkreis auch viele Erfahrungen vorhanden sind, besteht prinzipiell die Möglichkeit, ihre Auflage wieder zu steigern und damit einen weiteren Wirkungsradius zu entfalten, als die meisten selbstgemachten (explizit anarchistischen) Zeitungsprojekte. Dies wäre insbesondere wichtig für Menschen, die – weil sie auf dem Land oder in Kleinstädten leben, mit Arbeit gefordert sind oder sich gerade erst politisieren – auf Informationen und Beiträge zurückgreifen können, die öffentlich verfügbar sind. Gerade aufgrund der Selbstbezüglichkeit, nach welcher Menschen außerhalb dieser Szene oftmals kaum in den Blick kommen und dem Eindruck von Geschlossenheit, den sie verbreitet, wird nämlich oft eines vergessen: Ein großer Teil derjenigen, die sich heute politisch einbringen, sind nicht einfach direkt in eine anarchistische Szene hineingewachsen, sondern haben sich ihr über einen langen Prozess angenähert. Dies funktioniert nur mit persönlichen Beziehungen, Auseinandersetzung und einem gewissen Mindestmaß an Organisation. Zeitschriften sind dahingehend wiederum ein gutes Medium, was Menschen in die Hand gedrückt werden kann…

Neue digitale Infrastruktur?

Um den Schatz manches wirklich guten Erfahrungsberichtes oder Theorie-Textes in einzelnen vergangenen Ausgaben der Găi Dào wieder zugänglich zu machen und damit nicht zuletzt auch eine Dokumentation, beispielsweise auch internationaler anarchistischer Aktivitäten zu gewährleisten, könnte ein online-tool helfen, mit dem die einzelnen Artikel gesucht und angeklickt werden können. Dieses ist in Planung, wurde aber bisher noch nicht umgesetzt.

Abschließend noch einmal die Aufforderung an alle potenziell Interessierten, gern auch aus Kreisen der FAU: Bringt eure Erfahrungen, Gedanken und Berichte, ob kurz oder lang gehalten, in die Găi Dào ein! Selbstverständlich sind auch Themen zu Arbeitskämpfen und zum Alltag im Kapitalismus von Interesse – doch auch darüber hinaus habt ihr sicherlich einiges zu erzählen. Und abgesehen vom selber schreiben – vielleicht hat die eine oder andere unter euch auch Lust mal in den alten Ausgaben zu stöbern oder die Zeitschrift zu abonnieren…

Jonathan Eibisch

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Kommentare

  • "Da die Redaktion wiederum weder die Absicht, vor allem jedoch nicht die Kapazitäten hat, um die Entwicklung der Găi Dào nach einer klaeren Linie zu entfalten, sind ihre Inhalte zum Teil ein Abbild dessen, was in der anarchistischen Szene los ist. "

    Aber das war/ist doch genau eines der Kon zepte der Gai Dao: Abbilden wo/und wie die A-Bewegung gerade steht!
    (und eine These der Gründer*innen war, das die A-Bewegung eben eine Bewegung und KEINE Szene ist, auch wenn sie sich oft in diversen Szenen bewegt)

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Veröffentlicht von
Jonathan Eibisch

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