Oft wird in unserer Bewegung mit Hinblick auf die Direkte Aktion gesagt: „Was sind schon eintausend Demonstrierende gegen eintausend Streikende?“ Ich fühle mich versucht zu antworten: „Aber was sind tausend hungrige und frierende Streikende gegen 900 Streikende mit 100 Land- und Forstarbeiter:innen im Rücken?“ Darum geht es letztlich in diesem Artikel. Der folgende Text richtet sich an die Gewerkschafter:innen der International Confederation of Labour. Er ist ein Plädoyer für eine intensivere Ansprache der Arbeiter:innen in den „Grünen Gewerken“. Zu diesen zähle ich in diesem Text die Arbeiter:innen in Landwirtschafts-, Forstwirtschafts-, Gartenbau-Betrieben, sowie die Arbeiter:innen im Umwelt- und Naturschutz und den entsprechenden Forschungsinstitutionen.[1]Und ich muss mich schon an dieser Stelle bei allen Kolleg:innen aus GaLaBau, Umweltberufen und Forstwirtschaft entschuldigen, dass ich zu euren Bereichen sehr wenig Branchen-Erfahrung habe und mich deshalb mit Aussagen dazu im Text zurück halte.
Hintergrund: Eine Organisierung in den grünen Branchen
Im Sommer 2022 begannen v.a. Landarbeiter:innen und Garten-Landschaftsbauer:innen (GaLa-Bau) innerhalb der FAU mit einem Organisierungsprozess. Es wurden bundesweite Kommunikationskanäle aufgesetzt, mit einer Analyse der Branchen begonnen und in Dresden auch ein erster lokaler Arbeitskreis der „Grünen Gewerke“ gebildet. Mit kritisch-solidarischen Interventionen wurde diese Initiative Grüne Gewerke im Januar 2024 durch diverse Medienauftritte bundesweit bekannt. Die italienische Schwesterngewerkschaft USI hatte bereits 2019 eine eigene „Unione Contadina“, einen syndikalistischen Bäuer:innenverband gegründet.[2]Nachrichten dazu hier: https://usi-cit.org/?s=Unione+ContadinaIn der CNT-F, befreundeten Initiativen in Brasilien und in spanischen Regionalorganisationen gibt es ähnliche Bestrebungen.
Warum ist eine starke Verankerung in den grünen Branchen so wichtig?
Anarchosyndikalistische Gewerkschaften verfolgen eine Doppel-Strategie: Sie wollen einerseits eine effektive gewerkschaftliche Antwort auf die Probleme der Arbeiter:innen im Hier und Heute bieten. Andererseits wollen sie auch die Grundlagen für eine Gesellschaftsform jenseits von Profitlogik, der Ausbeutung von Mensch und Natur und der politischen Fremdbestimmung schaffen, also Strukturen für eine solidarische, basisdemokratische und nachhaltige Bedarfswirtschaft. Dazwischen sehen sich anarchosyndikalistische Gewerkschaften als Rückgrat der Bevölkerung für große, materiell geführte Konflikte, bspw. politische Generalstreiks (wie wiederholt in Frankreich oder im Januar 2024 in Argentinien) aber auch als Notstruktur für Katastrophen, in denen die kapitalistische Versorgung implodiert (bspw. während Naturkatastrophen, Krieg, Wirtschaftskrisen). Das gerade der letzte Aspekt tagesaktuell und sehr relevant ist, ist vielen Arbeiter:innen auch in Europa und den USA mit den wirtschaftlichen Verwerfungen in Pandemie und Ukraine-Krieg deutlich bewusst geworden. Es deutet vieles darauf hin, dass diese Versorgungskrisen auch in den privilegierteren Ländern – in denen die ICL zur Zeit v.a. angesiedelt ist – in Zukunft noch zunehmen werden, wenn sie nicht, wie bspw. in den USA und Südamerika ohnehin für große Bevölkerungsteile schon längst Realität sind.
Die Versorgung mit Nahrung und Holz sind bei der Notversorgung der Bevölkerung in Krisen- oder Kampfphasen existentiell. Und auch wenn es darum geht, ob Menschen über gesellschaftlichen Wandel nachdenken, spielt die bewusste Ernährungssouveränität[3]Also der lokale, gesicherte Zugang zu Land, Saatgut und die Fähigkeit der landwirtschaftlichen Betriebe, die Versorgung auch unter widrigen Bedingungen aufrecht zu erhalten. Dazu gehört auch der Erhalt von Handwerkstechniken und eine relative Unabhängigkeit z.B. von großen Maschinen-, Saatgut- und Düngemittelhersteller:innen. Zu unterscheiden ist dies von Ernährungssicherheit, also der reinen Notversorgung bspw. durch Hilfslieferungen. Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Ernährungssouveränitäteine bedeutende Rolle. Insbesondere in Teilen Europas und der USA haben wesentliche Teile der Bevölkerung heute keine Kenntnis und keine Beziehung dazu, wie und wo beispielsweise ihre Nahrung produziert wird. Als Konsument:innen sind diese Arbeiter:innen abhängig von einer undurchsichtigen Lebensmittelproduktion und globalen Lieferketten. Der Gedanke an eine Unterbrechung des kapitalistischen Alltags wird daher bei den meisten unserer Kolleg:innen v.a. eines auslösen: Nackte, existentielle Angst. Die Entfremdung eines – heute vor allem städtischen – revolutionären Potentials von ihren globalen Klassengenoss:innen in Wald und Feld mindert daher ganz massiv die Kampfbereitschaft und das revolutionäre Selbstbewusstsein. Wer sägt schon gerne am Ast, auf dem eins selbst sitzt?
Aus diesem Grund lässt sich Revolution, aber auch die Krisenfestigkeit der Bevölkerung nicht ohne den Kampf um eine gut organisierte, emanzipatorische, lokale und ökologische Agrarbewegung denken. Die anarchosyndikalistischen Bewegungen weltweit müssen sich deshalb mit den Agrarbewegungen ihrer Länder auseinander setzen, sich mit ihrer Klassenzusammensetzung, ihren sozialen Problemen und ihren Kämpfen beschäftigen und daraus eine Rolle unserer Gewerkschaftsbewegung ableiten. V.a. sollten sich die Gewerkschaften aber unbedingt bemühen, mindestens die Ernährungssouveränität für ihre eigenen Mitglieder herzustellen. Dafür gibt es weltweit ein immer populärer werdendes Konzept: Die Community Supported Agriculture (CSA).[4]In Deutschland v.a. vertreten durch das Netzwerk Solidarische Landwirtschaft (SoLaWi)
Ein Stück Anarchosyndikalismus? Community Supported Agriculture (CSA)
Das Prinzip einer CSA ist, dass Konsument:innen und Produzent:innen gemeinsam die Risiken der Produktion und die notwendigen Investitionen teilen, Konsument:innen den Absatz garantieren und dafür in die Planung der Produktion mit einbezogen werden. Der Zwischenhandel ist dabei ausgeschaltet. Aktuell erscheinen CSAs dabei als ein Erfolgskonzept, in vielen Teilen der Welt wächst ihre Zahl jährlich rasant, in manchen Ländern war sie schon immer eine sehr verbreitete Wirtschaftsform. Eine CSA ist nicht automatisch ein emanzipatorisches Konzept. In vielen Fällen wird dabei aber eine „Planwirtschaft von unten“ realisiert, das Konzept bietet sich an für den Aufbau von Kollektivbetrieben, bricht mit der Konkurrenz des freien Marktes. In CSAs wird im Regelfall lokal und biologisch produziert, Konsument:innen sind – anders als in vielen anderen Kollektivbetriebskonzepten – eine eigene politische und kollektive Kraft und so entstehen Aushandlungs- und Beteiligungsprozesse zwischen Konsument:innen und Produzent:innen – eine Grundvoraussetzung für eine vitale Bedarfswirtschaft.
Sicherlich wird es, wo gesucht wird, viele negative Beispiele für CSAs geben, vielen werden die Konzepte nicht weit genug gehen[5]Bspw. arbeiten die meisten CSAs mehr oder minder als Einzelbetriebe, konkurrieren somit bspw. potentiell um Ernteteiler:innen, gleichzeitig werden vielerorts auch gemeinsame Produktionsmittel angeschafft oder betriebsübergreifend Agrarkonzepte erforscht.und doch, gehen die CSAs vielen anderen kollektiven Wirtschaftsversuchen – zumindest in Deutschland – durch einige Aspekte voran: Basisdemokratische Planwirtschaft, kooperative Wirtschaftsformen im Maßstab einer gesamten Branche, Bedarfswirtschaft, Konsument:innenmacht, praktische Umsetzung eines klimafreundlichen Wirtschaftsumbaus – das alles ist nicht selbstverständlich und hat mehr als nur ein paar Gemeinsamkeiten mit anarchosyndikalistischen Wirtschaftsstrategien.
Besondere Beachtung verdient dabei der Umstand, dass es die konsument:innengestützte Wirtschaftsweise der CSAs es zumindest in Deutschland schafft, wesentlich bessere Löhne und Arbeitsbedingungen zu realisieren als vergleichbare Betriebe in der sonstigen biologischen Landwirtschaft. Das ist um so beachtlicher, da es vielen CSAs durch solidarische Bezahlungskonzepte gelingt, biologisch produzierte Nahrungsmittel für Schichten der Arbeiter:innenschaft zugänglich zu machen, die sich diese sonst niemals leisten könnten.
Die Rolle der anarchosyndikalistischen Gewerkschaftsföderationen sollte aus verschiedenen Aspekten bestehen:
a) gemeinsam mit den kollektiven CSAs basisdemokratisch-klassenkämpferische Leitlinien für Arbeitsverhältnisse, juristische Besitzverhältnisse, Ausbildung, Altersvorsorge, Arbeitsschutz etc. entwickeln, die Betriebe bei der Umsetzung beraten und ggf. mit einem Gewerkschaftslabel auszeichnen.
b) die eigene Mitgliederbasis für die Wichtigkeit der Ernährungssouveränität sensibilisieren und diese wenigstens für die Basis des Syndikats durch gemeinsamen Konsum sicherstellen. Wo keine ausreichend klassenbewussten CSAs vorhanden sind, sollten syndikalistische Landwirt:innen, Gärtner:innen und Obstbauer:innen dabei unterstützt werden, eigene zu gründen.
c) die Gewerkschaften sollten sich an allen Kämpfen gegen Flächversiegelung, Bodenvernichtung und Bodenspekulation beteiligen und lokal für die Möglichkeiten kämpfen, dass weitere revolutionäre CSAs gegründet werden können.
d) die Gewerkschaften sollten eine starke organische Anbindung anarchosyndikalistischer CSAs an die restliche Bewegung ermöglichen, bspw. im Rahmen von Betriebsföderationen innerhalb der Lokalföderationen.
e) mit den CSAs zusammen sollte die Erweiterung der CSAs über Gemüsebau und Landwirtschaft hinaus diskutiert werden, so dass sie sich z.B. zu krisenfesten Dorfstrukturen mit Holzgewinnung und Verarbeitung, Handwerksbetrieben, Lebensmittelverarbeitung etc. ausweiten und letztlich die Grundlage für anarchosyndikalistische Dörfer als Versorgungs-Rückgrat in jeder Krise oder Revolte bilden.
Dabei ist auch zu beachten, dass um so mehr das Kapital zum Monopol und zum Aufkauf der Agrarflächen neigt, die Arbeiter:innenschaft sich jedoch mit Kollektivierung in Form von CSAs wehrt, ebenfalls gute Grundlagen für revolutionäre Situationen geschaffen werden: War es geschichtlich oft schwierig, sich mit Kleinbürgertum und rein lokalen Eliten auf kollektive Wirtschaftsweisen oder Umverteilung zu einigen, spielt dieses Problem heute vielerorts eine immer geringere Rolle. Der Konflikt von morgen wird sich vielerorts zwischen den kollektiven, solidarischen Bewirtschafter:innen und den Agrar-Groß-Investor:innen abspielen.
Es sind die Bäuer:innen[6]Deutsch ist eine sehr uneindeutige Sprache, um über dieses Thema zu sprechen. In Deutschland werden Agrar-Konzerne, Großbäuer:innen, Kleinbäuer:innen, Landarbeiter:innen und teilweise sogar Saisonkräfte als Bäuer:innen bezeichnet, währenddessen andernorts viel konkreter differenziert wird. Diese begriffliche Verwirrung zeigte sich u.a. in den Protesten 2023/24 in Deutschland. In diesem Text geht es um Klein-, Subsistenzbäuer:innen, Landarbeiter:innen, Tagelöhner:innen und Landlose. die voran gehen!
Auch wenn es in der anarchosyndikalistischen Theorie- und Strategieliteratur zumindest Deutschlands nicht gerade breit besprochen wird, ist es nichts sonderlich neues, dass es vielmehr die Bäuer:innen und Landarbeiter als die Industrie-Arbeiter:innen waren, die zu anarchistisch inspirierten Aufständen neigten. Wo solche Revolten doch im Wesentlichen von Arbeiter:innen getragen wurden, waren auch diese wiederum vielfach gerade erst vom Land vertrieben worden.[7]Als Beispiele seien genannt: die zapatistische Bewegung (Mexiko 1910), die Machnowschtschina (Ukraine, 1919), der Kronstädter Matrosenaufstand (Russland, 1921), patagonischer Landarbeiter-Aufstand (1922, Argentinien), die spanische Revolution (1936), die neo-zapatistische Bewegung (1994), die syrische Revolution (2011), die sudanesische Revolution (2018) Diese Tatsache hat sicherlich sehr verschiedene Ursachen, einer aber dürfte sein, dass gerade handwerklichen Bäuer:innen ihre eigentliche Autonomie noch sehr bewusst ist: Im Wesentlichen brauchen Bäuer:innen ein Stück Land mit geeignetem Boden, ein paar Kisten Saatgut und gute Gemeinschaft, um überleben zu können. Sie haben also allen Grund, selbstbewusst zu sein.
Im Übrigen haben sie aber auch leider heute wie damals sehr wenig zu verlieren. Ca. 80% der weltweit Hungernden sind Bäuer:innen und Fischer:innen.[8]Julia Bar-Tal, Vorsitzende der AbL Nordost in ihrem Vortrag zu Ernährungssouveränität, Jugendburg Ludwigstein, Oktober 2023 Selbst in Nord- und Mitteleuropa bleibt die Situation extrem, so nahmen sich 2021 allein in Frankreich pro Tag durchschnittlich zwei Landwirte das Leben, die Suizidrate liegt um 50% über den Durschschnittswerten der Bevölkerung.[9]Dr. Olaf Zinke – Selbstmorde von Landwirten, Agrar Heute, 14.9.21 https://www.agrarheute.com/management/betriebsfuehrung/selbstmorde-landwirten-nehmen-krisenzeiten-585274 abgerufen am 22.10.23 Für Deutschland gibt es keine Zahlen, doch wird auch hier von verschiedenen Stellen eine extrem hohe Zahl von Burnouts- und Depressionserkrankungen verzeichnet. Das führt übrigens nicht dazu, dass diese psychischen Reaktionen als Berufskrankheiten anerkannt und Betroffene entsprechende medizinische oder soziale Hilfe erhalten.[10]Siehe dazu die Themenseite von Agrar Heute Bäuer:innen sind überdurchschnittlich oft von den wirtschaftlichen Dimensionen aber auch der nackten Gewalt von Kriegen betroffen. 70% der in der Landwirtschaft tätigen Menschen sind Frauen.
Schlussendlich sind sie die Bäuer:innen, zusammen mit den übrigen grünen Gewerken im Blickpunkt der politischen Fragen der Zeit: Hungersnöte, Lebensmittelknappheiten, Kriege, Klimakatastrophe, Waldumbau, Waldbrände, Agrarwende, Umweltzerstörung, Atomisierung der Gesellschaft in den Städten, kapitalistische Entfremdung, imperialistische Dominanz.
In den Dörfern und auf den Äckern kommt also einiges zusammen: Die Fähigkeit zur relativen Autonomie, teilweise das politische Bewusstsein mehrerer Jahrhunderte der Rebellion, oftmals funktionierende, soziale Gemeinschaften zum einen, die soziale Not zum anderen und schließlich die Verwicklung in die drängendsten, politischen Fragen der Welt.
Das sich daraus nicht nur theoretisch ein enormes Potential für soziale Bewegungen ergibt, zeigt die weltweite Organisation „La Via Campesina“[11]Hier gehts zum monatlichen Newsletter: https://viacampesina.org/en/media-and-publications/our-newsletter/ (zu deutsch: „der bäuerliche Weg“) eindrucksvoll. Mit über 80 Mitgliedsorganisationen und nach eigenen Angaben 200 Millionen Mitgliedern wird sie oft als größte politische Bewegung der Welt bezeichnet.[12]https://de.wikipedia.org/wiki/La_Via_Campesina Mit ihren Kampfzielen einer dezentralen, bedarfsorientierten sowie naturverträglichen Wirtschaft und Ernährungssouveränität stellt sie sich dabei mal eher implizit, immer wieder aber auch explizit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung entgegen. In ihren Reihen finden sich dabei durchaus auch sehr gemäßigte Verbände, die von Chef:innen geprägt sind, aber immer wieder eben auch radikale Landarbeiter:innen- und Landlosenvereinigungen wie die MST aus Brasilien[13]https://de.wikipedia.org/wiki/Bewegung_der_Landarbeiter_ohne_Boden und die SAT aus Spanien.
Als weltweite anarcho- und revolutionär-syndikalistische Bewegung müssen wir diese Bewegung zur Kenntnis nehmen, ihre Standpunkte und Strukturen kennen lernen und unser Verhältnis zu ihr bestimmen.
Die Chancen der ICL
Das Agrarproletariat und die Kleinbäuer:innen erscheinen aus den oben genannten Faktoren in vielen Regionen der Welt überdurchschnittlich politisiert und radikalisiert. In vielen Fällen gehen diese Entwicklungen in reaktionäre Richtungen[14]Was v.a. oft dann der Fall sein wird, wenn es sich um religiös stark gebundene, kleine Familienbetriebe handelt. und doch gibt es auch mindestens ebenso oft einen emanzipatorischen, antikapitalistischen Flügel der Branche. Wo dieser gelagert ist, ist wie die Agrar-Verhältnisse in den verschiedenen Regionen sehr unterschiedlich. In den Konsumländern des „Nordwestens“ werden wir ihn vermutlich oft im biologisch-handwerklichen Sektor finden, in Ländern mit starkem Selbstversorgungsanteil vielleicht öfter bei den Kleinbäuer:innen, vielerorts sicher auch bei Indigenen und ethnischen Minderheiten.[15]Dazu kommen frustrierte und vom politischen System desillusionierte Fachleute aus den Umweltberufen – und mindestens im „Nordwesten“ sicher auch aus dem GaLaBau und verwandten Berufen.
Grüne-Gewerke- (folgend: GG) Sektionen innerhalb der ICL sollten sich aus diesem Grund gut vernetzen. Föderationen innerhalb der ICL ohne solche Sektionen sollten mit den bestehenden GG-Sektionen die Situation in ihren Regionen erforschen und Anknüpfungspunkte kennen lernen. Auch sonst sollten die bestehenden GG-Sektionen beim Aufbau in anderen Ländern unterstützen.
Die ICL als Gesamtföderation sollte zudem ernst nehmen, das dörfliche, kollektive Agrargemeinschaften zum Teil andere Organisationsformen hervorbringen. Sie fokussieren oft stärker auf kommunalistische Organisationsansätze, welche wir in der anarcho-syndikalistischen Theorie am ehesten mit dem Konzept der Arbeiterbörsen vergleichen können.[16]Aus Sicht des Autors blieben diese Konzepte aber zumindest im deutschsprachigen Diskurs eher schlagwortartig und nehmen in der aktuellen Theorie und Praxis der FAU leider nur eine sehr untergeordnete Rolle ein. Als Ergebnis davon, bestehen in solchen Regionen oft keine gewerkschaftlichen Verbände. Ein bekanntes Beispiel mag für viele die Bewegung der Zapatistas[17]https://de.wikipedia.org/wiki/Zapatistas in Chiapas, Mexiko sein. Die ICL muss gemeinsam Konzepte finden, wie wir mit diesen Bewegungen kontinuierlichen Austausch, Beratung und Unterstützung pflegen können – sonst hat unserer Internationalismus für immer weiße Flecken auf der Landkarte.
Sollten unsere Föderationen in der ICL stabile GG-Sektionen und kollektive CSAs aufbauen, dann:
a) Realisieren wir zumindest begrenzte Ernährungssouveränität, steigern die Attraktivität unserer Organisation auf einer weiteren Ebene und festigen unsere Rolle als Schutzorganisationen der Arbeiter:innenklasse.
b) Sind unsere bescheidenen Stimmen im Gespräch mit 200 Millionen neuen Arbeiter:innen und Bäuer:innen.
c) Erweitern wir unser Knowhow, aber auch unsere Gestaltungsmacht im Bereich des ökologisch und klimatisch nachhaltigen Wirtschaftsumbaus erheblich.
d) Haben wir gute Ansatzpunkte um unsere Erfahrungen mit der Organisation basisdemokratischer Konsument:innenmacht zu erweitern.
Was bringen unsere Gewerkschaften den Kolleg:innen?
Aufgrund des vergleichbar hohen Organisations- und Politisierungsgrades in vielen Teilen der Branche könnte der Eindruck entstehen, die ICL braucht zwar die Landarbeiter:innen, die Landarbeiter:innen aber nicht unbedingt die ICL, da sie sich eigene Strukturen schaffen.
Dem ist allerdings nur bedingt so. Einerseits sind gerade in den Industrie- und Konsum-Nationen die Klassengefälle zwischen Landarbeiter:innen und Kleinbäuer:innen beträchtlich. La Via Campesina vertritt dabei länderweise eher das Kleinbürgertum als das Landproletariat.[18]Beispielsweise ist die deutsche Mitgliedsorganisation Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) klar von Chef:innen kleiner und mittlerer Betriebe dominiert. Lediglich in der Jugendorganisation (jAbL) sind eher Auszubildende, Studierende und Arbeiter:innen tonangebend aber auch hier liegt ein thematischer Fokus oft auf Betriebsgründung, die (bis jetzt) nur selten kollektiv gedacht werden. Die GG-Sektionen unserer Gewerkschaften werden also trotzdem oft notwendig sein, um reguläre, betriebliche Klassenkämpfe zu führen. Auf internationaler Ebene ist es dabei eine der wichtigsten Aufgaben, effektive Organisationsformen für international mobile Landarbeiter:innen auszubilden, die allerorten am stärksten von Ausbeutung bis hin zu sklavenähnlichen Zuständen betroffen sind. In vielen Ländern wie bspw. der USA[19]Folge zum Thema beim Format „Last Week Tonight“: https://www.youtube.com/watch?v=41vETgarh_8 ist zudem die Kinderarbeit in der Landwirtschaft immer noch ein großes Thema und entsprechend ebenso ein notwendiges Kampffeld der ICL.
Und es sind natürlich gerade auch diese potentiellen, länderübergreifenden Klassenkämpfe, die die ICL für Landarbeiter:innen so interessant machen können. Nicht nur, wenn es um migrantische Arbeit geht, sondern auch bei Bäuer:innenprotesten. Diese erschüttern, wie am Beginn des Jahres 2024 in Europa, nicht selten mehrere Länder gleichzeitig. In diesem Fall hing dies damit zusammen, dass die gesamte EU-europäische Bäuer:innenschaft stark von gemeinsamen EU-Gesetzen aber auch Förderrichtlinien betroffen ist. Andernorts können länderübergreifende Freihandelsabkommen, internationale Krisen oder Kriege zu gleichzeitigen, länderübergreifenden Kämpfen führen. Via Campesina hat hier, wie bereits erwähnt, oft keinen eindeutigen Klassenstandpunkt, internationalen Zentral-Gewerkschaftsbünden fehlt dieser teilweise auch, teilweise mangelt es hier aber auch massiv am Internationalismus. Die ICL hat gute Chancen zunächst ein Nachrichten- und Verständigungsnetzwerk in diesen Kämpfen zu bilden, später eine koordinierte Kampfplattform, um die Stimme der Arbeiter:innen und Kollektivist:innen in diesen Auseinandersetzungen zu finden und stark zu machen.
Dabei kann die ICL die Kämpfe der Agrarbranche um etwas bereichern, was den rein bäuerlichen Organisationsformen zumeist verwehrt bleibt: Eine organische Verbindung mit einer klassenbewussten und kampfbereiten Konsument:innenschaft. Diese kann einerseits das Verständnis für die Kämpfe auch in die Städte tragen, andererseits die Kampfwellen ebenfalls nutzen, um neue, revolutionäre CSAs anzustoßen, Kämpfe branchenübergreifend zu verbinden oder um Boykotte zu erweitern.
In ruhigeren Zeiten können die ICL-Gewerkschaften kollektivistische Landarbeiter:innen beim Erringen von Land unterstützen, bspw. durch Spendenkampagnen, Acker-Besetzungen, Enteignungs-Kampagnen. Auch hier zeigt sich der Wert eines gemeinsamen revolutionären Gewerkschaftsbundes, haben die Mieter:innen und Konsument:innen in den Städten und landlose Kollektivist:innen doch nicht selten ähnliche Gegner:innen: So erregten in Deutschland die städtischen Enteignungsforderungen gegen den Immobilien-Konzern Deutsche Wohnen einige Aufmerksamkeit, während es gleichzeitig auch von Seiten der Landarbeiter:innen Enteignungsforderungen wegen Landgrabbing gibt, ohne das beide Bewegungen bis jetzt einen wirksamen Schulterschluss hinbekamen.[20]Zu diesem Thema sei der äußerst hörenswerte Beitrag mit der jAbL-Aktivistin Gesine Langlotz empfohlen: https://podcast.dissenspodcast.de/b11-enteignung Gleichsam zeigt sich bei dieser Stoßrichtung auch, dass die ICL sich auch noch intensiv über Konzepte von Enteignung und Sozialisierung jenseits von Verstaatlichung austauschen muss, um hier wirksam tätig werden zu können.
Daran anschließend können und sollten ICL-Gewerkschaften eine wichtige Rolle spielen, wenn es um kollektives Wirtschaften innerhalb des Kapitalismus geht, denn ebenjenes ist ja der Versuch eines Richtigen im Falschen, einer Quadratur des Kreises. Betriebe, die versuchen eine kollektive gemeinwohl-orientierte Kooperationswirtschaft innerhalb der individualistischen profit-orientierten Konkurrenzwirtschaft zu etablieren, werden all zu schnell von den Widersprüchen, in die sie sich begeben, zermalmt. Die Gesamtheit der revolutionären Arbeiter:innen aller Branchen wird diese Widersprüche nur bedingt auflösen können, aber sie kann den Umgang damit gemeinsam verhandeln, Wissen weiter geben, Standards setzen und kontrollieren und für Konsument:innen durch Labeling transparent machen. Das ist eine Win-Win-Situation für kollektive Betriebe und ihre Arbeiter:innen, aber auch für die ICL-Gewerkschaften, die eine Menge Erfahrung sammeln können, die in revolutionäreren Zeiten von Belang sind. Nicht zuletzt kommen Einzelkollektive und Gewerkschaftsföderation so auch zu einer Praxis, in der Branchen bewusst so gestaltet werden, dass sie für revolutionäre oder auch krisenhafte Zeiten vorbereitet werden.
Und da liegt auch ein weiterer Punkt, an dem die Landarbeiter:innen schnell begreifen werden, dass es eine Organisation wie eine schlagkräftige ICL braucht. Denn das Bewusstsein, dass der Kapitalismus und seine Wirtschaftslogik ein Grundhindernis für eine Sicherung der menschlichen Lebensgrundlagen darstellt, ergibt sich für viele Landarbeiter:innen aus dem, was sie jeden Tag erleben, ganz ohne einmal Marx oder Rocker[21]Eine „Notwendigkeit“, die ich allgemein sehr in Frage stellen will. gelesen zu haben. Es wird allen sofort klar sein, dass es eine Organisierung über die eigene Branche und das eigene Land hinaus braucht, um dieses Problem zu lösen. Um so ernsthafter die ICL sich also daran macht, den Kapitalismus überwinden zu können, desto plausibler wird vielen Landarbeiter:innen eine Organisierung erscheinen.
Abschluss: Eine revolutionäre Landwirtschaft
Wie eine revolutionäre Landwirtschaft aussehen sollte, kann heute noch nicht gesagt werden. Sich Fragen nach der Transformation einer Branche zu stellen, ist inspirierend, führt in die konkrete Utopie und macht damit revolutionäre Bewegung greifbarer und sinnstiftender. Gleichzeitig braucht es dafür eine Vielstimmigkeit, die wir wir uns gerade erst aneignen. Nicht nur braucht es unterschiedlichste Erfahrungen der Arbeiter:innen der Branche, ebenso braucht es natürlich die Perspektiven der Konsument:innen, der vielen anknüpfenden Gewerke, einerseits eben der Gärtner:innen, Forstarbeiter:innen und Umweltberufe, aber auch der Wasserwirtschaft, Energiewirtschaft, des Baus, der Lebensmittelindustrie, der Distribution, der Logistik etc. pp. Nicht zuletzt braucht es in einer globalen Ökonomie auch einen globalen Diskurs der Arbeiter:innen. Wird dies nicht beachtet, nicht in einem übergreifenden Dialog erarbeitet, geraten wir schnell in die Gefahr Partikular-Interessen oder auch Mythen unserer Branchen und nationalen Diskurse aufzusitzen und diese nicht kritisch zu hinterfragen. Vor allem ist das Erlernen dieses Dialogs aber auch eine Grundbedingung für eine gesamtgesellschaftliche Veränderung der politischen und wirtschaftlichen Bedingungen überhaupt.
Trotzdem ist klar, dass eine revolutionäre Umgestaltung der Landwirtschaft auf jeden Fall bestimmte Interessen verfolgen wird. Sie wird einen gewichtigen Anteil haben, die Lebensweise der Menschheit wieder mit stabilen Umweltkreisläufen zu versöhnen. Sie muss den Boden, die Wasserressourcen und die natürlichen Rückzugsräume wieder aufbauen und dauerhaft schonen.
Sie wird lernen müssen, wieder stärker mit, anstatt gegen die natürlichen Prozesse zu arbeiten, weniger invasiv und intensiv zu wirtschaften und gleichzeitig die Grundversorgung der Menschheit sicher zu stellen.
Eine Diskussion wird es dabei sicherlich wie in vielen anderen Branchen zwischen einer handwerklichen und einer industriellen Vision geben. Beide Visionen waren dem Anarchosyndikalismus in seiner Geschichte zu eigen, wie auch der Arbeiter:innenbewegung insgesamt. Sehen wir die Zukunft in einer Landwirtschaft, in der viele schwere Arbeitsgänge von automatisierten Maschinen geleistet werden oder in einer Wiederaufnahme und modernen Weiterentwicklung der Handarbeit?
Ganz persönlich spricht für mich einiges für einen Fokus auf den handwerklichen Weg. Die Utopie eines automatisierten „Space-Kommunismus“ speist sich vielfach aus der Vorstellung, die zu automatisierenden Arbeiten seien allgemein unangenehm und zu überwinden. Doch viele Arbeiter:innen in der Landwirtschaft lieben – an sich – ihr Handwerk. Es sind eher Faktoren wie Bürokratisierung, Industrialisierung, starke körperliche Belastung durch zusammengesparte Belegschaften und Intensivwirtschaft in Monokulturen, die die Arbeit wenig sinnstiftend, verschleißend und mühsam machen.
Eine Landwirtschaft, die das Land nicht nur ausraubt, sondern sich gleichsam als Nahrungsmittelproduzentin, Landschaftsgestalterin (im besseren Sinne) und als Bewahrerin natürlicher Ressourcen, Arten und Lebensräume begreift, wäre ein zu tiefst sinnstiftendes und vielfältiges Arbeitsfeld.
Eine handwerklich ökologische Landwirtschaft bleibt dabei lokal und regional, würde zu einer Stütze der relativen, regionalen Autonomie. Und regionale Landwirtschaft wiederum befördert, dass die Gemeinschaften mehr Interesse daran haben, den Schutz ihrer Umwelt mit ihrer Nahrungsmittelproduktion in Einklang zu bringen. Diese Wirtschaftsweisen sind vielfach auf extensive Bewirtschaftung ausgelegt, d.h. Wirtschaftsweisen, die mühsame Arbeit einsparen, Habitate, Naturräume und Wirtschaftsflächen ineinander verzahnen und mit wenig Energie oder seltenen Ressourcen auskommen.
Für die anderen Bereiche der Grünen Gewerke lässt sich ähnliches sagen. GaLaBau, Forst und Landschaftsplanung könnten sich der Aufgabe stellen, Habitate und Siedlungsgebiete konstruktiv miteinander zu versöhnen, das Lokalklima zu verbessern, wieder gesunde Lebens- und Mobilitätsräume für Wildtiere zu schaffen und die lokale genetische Vielfalt in der Flora zu schützen und zu nutzen. Gemeinsam mit der Wildtierbiologie könnten Siedlungsplanung, Baubranche und Grüne Gewerke neue Grundlagen für das Mensch-Wildtierverhältnis schaffen und dadurch nicht zuletzt auch neue philosophische Sichtweisen für den utopischen Fortgang der Menschheit erschließen (wobei der industrialisierte Westen natürlich auch eine Menge von den indigen geprägten Genoss:innen zu lernen hätte).
Ein Gärtner einer hundert Jahre alten Waldgarten-Kooperative formulierte in einem Interview einmal sinngemäß den Anspruch, dass „Landwirtschaft Landschaften schaffen sollte, durch die wir gerne wandern, in denen wir gerne leben und uns als Teil und nicht als Gegensatz zur Natur erleben“. Dieser Anspruch, ausgeweitet auch auf unsere Siedlungsräume, könnte zu einer beflügelnden Vision einer utopistischen Arbeiter:innenbewegung werden. Es gibt viel zu diskutieren und viele Kämpfe – global – zu führen. Machen wir die ICL zur Plattform dafür!
Titelbild: FAU Dresden
Salud Steff,
hat du den Artikel auch an die icl geschickt? Es wäre doch toll wenn er tatsächlich international diskutiert werden würde!
Hey Rudi, danke der Nachfrage. Bis jetzt noch nicht, ich suche noch nach Übersetzer:innen. Wer Lust hat, gerne bei mir melden.