Max Nettlau (1865-1945) hat mit der „Geschichte der Anarchie“ einen Meilenstein gesetzt, der allerdings bis heute nicht alle Bände umfasst, die er konzipiert und geschrieben hat. Er wurde der Herodot – also der Geschichtsschreiber – des Anarchismus genannt. Mit der neuen Edition im Libertad Verlag, einer wahren Herkules-Aufgabe, sollen nicht nur erstmals alle Nettlau-Bände erscheinen, sondern auch gleichzeitig ein Internet-Projekt starten, bei dem wir unsere Geschichte selber weiterschreiben können.
Am Ende der 1960er Jahre war die kaum vorhandene anarchistische Bewegung gespalten. Die verbliebenen Alt-Anarchist*innen hatten einen Arbeitsethos, der den 1920er Jahren entsprach, während die langhaarigen Junganarchist*innen etwa lieber einen Joint rauchten. Aber schnell wurde auch festgestellt, dass es ein Reservoir an anarchistischen Theorien und Geschichte gab, die durch die Nazi-Diktatur unterbrochen worden ist und in keiner Tradition mehr stand. Geschichte und Theorien mussten wir uns damals also alle neu anlesen (wobei Verlage wie der Libertad Verlag – damals in West-Berlin-Neukölln ansässig – mit seinen Heftreihen einen großen Anteil hatte).
Zu Beginn der 1990er Jahre schwappte aus den USA zu uns eine neue Welle verschiedener libertärer Richtungen nach Europa, die größtenteils – recht prahlerisch – gegen die „alten bärtigen Männer“ rebellierten und auf Geschichte und Theorien bewusst verzichten wollten – alles „Do it yourself“ und „just in Time“. O.k., kann man machen… Aber die Mühe jedes mal das Rad neu zu erfinden, könnte einem auch erspart bleiben. Und bei dem wohl einflussreichsten, und produktivsten Kollektiv, welches dieser „Neue Anarchismus“ hervorgebracht hat, CrimethInc, merkt man schon, dass die Autor*innen, der z.T. recht umfangreichen Texte zu aktuellen Situationen, sich sehr wohl in der Geschichte und den verschiedenen Theorien auskennen.
Wir können also heute auf eine stattliche Anzahl libertärer Bibliotheken und Archive blicken, wo uns alle Informationen zur Verfügung stehen. Zeitgleich mit dem „Neuen Anarchismus“ entstand das Internet, welches natürlich nicht nur dem Militär, der Staatsgewalt und dem Konsum frönt, sondern eben auch zur Informationsquelle der anarchistischen Bewegung geworden ist, und deren User*innen eben eher ein paar Klicks einem Buch vorziehen. Diese Entwicklung sollte aber nicht einseitig zu Gunsten des Internet allein vollzogen werden. Schon alleine aus Gründen der Sinnlichkeit, die ein Buch mit sich bringen kann, ein Aspekt, auf den gerade wir Anarchist*innen nicht verzichten sollten.
Jedwedem technischen Fortschritt skeptisch gegenüber zu stehen, ist eine anarchistische Grundhaltung, die vor allem mit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert zu tun hat und dem Entstehen eines gnadenlosen Kapitalismus. Allerdings dürften heute die Vorteile des Internet wohl kaum noch von jemandem bestritten werden (wenngleich die Technikverweigerung unter Alt-Anarchist*innen doch noch recht verbreitet ist). Aber in Sachen Computertechnik und Anarchismus gehört der Libertad Verlag mit seinen Bemühungen zu den Pionieren. Der nicht nur mit der Datenbank des deutschsprachigen Anarchismus Akzente setzte, sondern auch Projekte wie die Digitalisierung des „Lexikon des Anarchie“, Gedenkseiten verstorbener Genoss*innen, oder eine Digitale Bibliothek voran trieb.
Das neueste Projekt ist nun die gemeinsame Herausgabe von Nettlaus „Geschichte der Anarchie“ in der Printversion, aber auch gleichzeitig in digitaler Form, die mit den verschiedensten weiteren Möglichkeiten versehen wird, die neue, zeitgemäße Möglichkeiten eröffnen sollen.
Der Libertad Verlag hat sich entschlossen mit seiner Ausgabe wieder mit Band 1 zu beginnen, wobei das Maulen einiger (heutigen) „Alt-Anarchisten“ nicht zu überhören war, die ja – mindestens – die ersten drei Bände schon kennen, denn die erste Ausgabe erschien in den Jahren 1925-1931, dem nach dem Zweiten Weltkrieg noch drei weitere Ausgaben folgten. Nettlau selbst hatte sein Werk auf sieben Bände angelegt. Der Libertad Verlag hat in seinem Editionsplan die Werkausgabe jetzt auf zehn Bände konzipiert, allein auf das umfangreiche Material hin, welches Nettlau hinterlassen hat und den Umfang eines „normalen“ Buches übersteigt. Dazu kommt, dass ein Grossteil der handgeschriebenen Nettlau-Texte erstmals transkribiert werden muss.
Verdienstvoll an dieser neuen Ausgabe ist sicherlich auch die rund 60-seitige Einführung durch den Herausgeber Jochen Schmück, der neben der Projektbeschreibung, einer Editionsgeschichte usw. auch ausführlich über Max Nettlau, sein Leben, sein Werk und seine eigenen Ideen zum Anarchismus schreibt. Es gilt bei dieser Neuauflage nicht nur erstmals dem Historiker Nettlau die entsprechende Ehre zu Teil werden zu lassen, dass endlich sein Werk der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wird, sondern auch der Schatz, der diese Arbeit für unsere Geschichte darstellt, endlich in Gänze gehoben wird. Verlag und Herausgeber stecken da viel Herzblut in die Sache.
Also fangen wir mit Band 1 – wenn nicht gerade bei Adam und Eva – aber so ähnlich, bei den Griechen der Antike an. Dieser hält einem klar vor Augen, dass es eben eine Traditionslinie gibt, die unterbrochen durch christlichen Fanatismus, schon früh ein anti-autoritäres Denken beinhaltet hat. Dass anarchistisches Denken keine Erfindung der Neuzeit ist, sondern eine Kausalität im Denken der Menschen hat, wo es Ungerechtigkeit, Selbstanmaßung und Irrationalität gibt.
Aber auch eine Wiederentdeckung der frühen Querdenker wie Rabelais, La Boétie, Diderot oder Winstanley und viele andere bis hin zum „Erfinder“ der modernen Anarchismus William Godwin lassen sich heute noch Vordenker ermitteln, die wir längst aus den Augen verloren haben. Dazu kommen die Frühsozialisten wie Charles Fourier und Robert Owen, über die amerikanischen Individualisten zu Proudhon, Stirner usw. bis zu Bakunin und die Erste Internationale in London von 1864. Alles in Allem eine durchaus spannende Angelegenheit. Und als Einstieg in weiterführende Lektüre oder aber auch zur Bildung eigener Gedanken, absolut unentbehrlich, weil wir nicht ausschließlich gegen etwas sein sollten, sondern uns auch daran erinnern und begeistern sollten wofür wir einstehen.
Unter dem Kürzel GdA wird Nettlaus „Geschichte der Anarchie“ zum Multimedia-Projekt. Neben der Printausgabe erscheinen die Texte zeitgleich auch ohne Beschränkungen im Internet. Zusätzlich wird jedem/r Käufer*in der Printausgabe ein Zugangscode zur Onlineversion mitgeliefert, der über die normale Nutzung hinausgeht. Mit der Registrierung eröffnen sich Premiuminhalte und -features, die das Projekt in eine Community überführen soll, die mit Hilfe eines Content Managment System (CMS) den heutigen technischen Standard erfüllt. Die Onlineversion soll natürlich auch interessierte Menschen miteinander verbinden und im besten Fall eine direkte internationale Zusammenarbeit und Vernetzung ermöglichen. Nach einer Probephase ist die Onlineversion mit dem ersten Band jetzt unter der oben genannten web-Adresse abrufbar.
Der Historiker Max Nettlau wäre vermutlich über all diese neue Möglichkeiten in heller Freude und der Internationalist sowieso. Die Möglichkeiten des neuen Mediums braucht heute vermutlich niemand mehr erklärt zu bekommen und den jungen Menschen, die inzwischen mit ihm aufgewachsen sind, eh nicht mehr. Es gilt nun das Wissen, welches bereits vorhanden ist, in die neuen Möglichkeiten zu integrieren, es gilt sie zu vermehren und zum Wohle vieler zu nutzen und zu verbreiten.
Max Nettlau, Geschichte der Anarchie. Band 1: Der Vorfrühling der Anarchie. Ihre historische Entwicklung von den Anfängen bis zum Jahr 1864. Werkausgabe herausgegeben von Jochen Schmück. Libertad Verlag Potsdam 2019, geb., 333 S., 38,00 Euro
Internet: https://www.geschichte-der-anarchie.de/
Bilder ©Libertad Verlag
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