Tripoli macht Angst: die zweitgrößte Stadt des Libanons ist bekannt dafür einer der ärmsten, konservativsten und gefährlichsten Orte des Landes zu sein. Dennoch hat sich die „Hauptstadt des Nordens“ während der Revolution („Thawra“) von 2019 als Hochburg einer kämpferischen revolutionären Bewegung herauskristallisiert und sogar den glorreichen Beinamen „Braut der Revolution“ erhalten.
Die u.a. feministischen Forderungen der Aufständischen haben Tripoli wachgerüttelt und ihre fortschrittliche Vergangenheit wieder aufleben lassen. Die ehemalige Kulturhauptstadt des Osmanischen Reiches (1516-1918) wurde seit der französischen Mandatszeit (1918-1946) und der anschließenden libanesischen Republik von Beirut an den Rand gedrängt. Die einstige Hochburg des Panarabismus und des Kommunismus im Libanon fiel während des Bürgerkrieges (1975-1990) in die Hände der Islamisten und die verarmte Bevölkerung wurde vom Zentralstaat vergessen, der stattdessen ein neoliberales und konfessionelles politisches System aufbaute. Die heutige Krise entstammt aus diesen Machtverhältnissen und trifft Frauen besonders hart. Ich habe zwei Feministinnen getroffen, die mit unterschiedlichen Ansätzen den „Wirtschaftskrieg gegen Frauen“ anprangern, der von einem kapitalistischen und religiösen Patriarchat ausgeht.
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Sarah: „Der Klassenkrieg trifft Frauen* am härtesten“
Sarah Kabout ist 20 Jahre alt und studiert Politikwissenschaft an der Libanesischen Universität in Tripoli.
Neben ihrem Studium jobbt und engagiert sie sich für die linke Bewegung Bürger und Bürgerinnen in einem Staat, die sich für einen säkularen und sozialen Staat anstelle des derzeitigen konfessionellen und ultrakapitalistischen Systems einsetzt. Sie bekennt sich zu einem radikalen, intersektionalen und antikapitalistischen Feminismus, der durch die Revolution, die das Land 2019 in Aufruhr versetzte, gefördert wurde.
„Vor einigen Jahren gab es in Tripoli keine feministische Bewegung und ich musste nach Beirut fahren, um meine Genos*innen zu treffen. Aber die „Thawra“ hat in Tripoli alles verändert. Ich war damals 18-19 Jahre alt und startete eine WhatsApp-Gruppe für Frauen*, in der wir über viele Themen sprechen konnten, die noch tabu waren. Auf einmal ging alles sehr schnell, in den Demonstrationen und Sit-ins traf ich zum ersten Mal Feministinnen in Tripoli! Die sozialen Netzwerke ermöglichten es uns, uns zu vernetzen und unsere Forderungen sichtbar zu machen. Zwei Jahre später haben die Wirtschaftskrise und die Explosion im Hafen von Beirut [am 4. August 2020] der Bewegung einen Schlag versetzt: Wir müssen alle doppelt so viel arbeiten, um zu überleben, und haben nicht mehr das Privileg der Freizeit. Aber es ist keineswegs so, dass der Feminismus hinter anderen Verpflichtungen zurücksteht, im Gegenteil: Es ist ein Überlebensfeminismus, den wir jetzt praktizieren. Es gibt eine große Solidarität, die sich unter anderem auf die Verteilung von Tampons auswirkt, die mittlerweile überteuert und schwer zu finden sind. Viele Frauen müssen sich heute entscheiden, ob sie Tampons kaufen oder eine Mahlzeit essen wollen! Es handelt sich um einen regelrechten Wirtschaftskrieg gegen die Bevölkerung, der vor allem Frauen, Arbeiter*innen und Migrant*innen trifft.
Alle Frauen leiden unter der Wirtschaftskrise und dem Patriarchat, deren Auswirkungen sich vervielfachen. Wir sind die ersten, die in Arbeitslosigkeit gedrängt werden und von ihren Familien abhängig sind. Die Arbeitsbedingungen haben sich verschlechtert und viele Frauen können nicht mehr zu ihrem Arbeitsplatz pendeln, weil die Treibstoffpreise steigen und die Gefahr der Belästigung in öffentlichen Verkehrsmitteln und im öffentlichen Raum zunimmt. Einige sind aufgrund ihrer Herkunft, ihrer sozialen Schicht und ihrer Hautfarbe noch stärker betroffen: Zum Beispiel werden kenianische oder äthiopische Hausangestellte ihrer Rechte beraubt und demonstrieren derzeit für ein Ende des Systems, das sie in Knechtschaft hält. Es herrschen intersektionale Formen der Diskriminierung, und nur ein radikaler Feminismus kann darauf reagieren. Denn sowohl im Libanon als auch in Europa predigen liberale Feministinnen eine Doppelmoral: Sie fordern Rechte und Macht für wohlhabende libanesische Frauen, sie sind Teil der „modernen“ Elite, die von der Krise profitiert und die Macht an sich reißt, sie sind Richterinnen oder Parlamentarierinnen… Sie kritisieren nur bestimmte Aspekte des Staates, nicht aber das gesamte System. Diese Frauen nennen sich Feministinnen, führen aber den Klassenkrieg mit und verweigern Migrantinnen, Geflüchteten, verschleierten Frauen und Arbeiterinnen das Rederecht. Andere Frauen zu diskriminieren ist nicht feministisch!
Es mag lustig oder lächerlich klingen, aber für mich war eine echte Alternative zum Patriarchat, als ich eine Frau ein Taxi fahren sah. Diese einfache Lösung bietet uns einen sicheren Raum, der vor den wiederholten Belästigungen in den öffentlichen Verkehrsmitteln geschützt ist. Im letzten Jahr wurde ich sieben Mal in Bussen oder kollektive Taxis sexuell bedrängt! Ich wünschte, ich könnte mich fortbewegen, ohne eine ständige Anspannung zu empfinden.“
Iman: „Patriarchat, Staat und Religion verstärken sich gegenseitig“
In ihrer Jugend erlebte Iman den bewaffneten Konflikt von 2008-2014 zwischen dem alawitischen Stadtteil Jabal Mohsen und dem sunnitischen Viertel Tebbaneh. Wegen dieser traumatischen Erfahrung entschied sie sich für Sozialarbeit. Nun engagiert sie sich für die Menschen, die am stärksten von der Wirtschaftskrise betroffen sind, insbesondere die 2 Millionen syrischen Flüchtlinge, die sich im Libanon aufhalten – ein Land mit knapp 6 Millionen Einwohnern. Die 27-jährige entwickelte im Kontakt mit den vielen Hilfsorganisationen, für die sie gearbeitet hat, einen eher humanitären Ansatz des Feminismus.
„Ich komme aus einer Gemeinschaft, wo der Sexismus, der Rassismus und die Homophobie die Regel sind: Natürlich war ich auch so! Ich habe den bewaffneten Konflikt von meinem 14. bis 20. Lebensjahr miterlebt, das hat bei mir eine geschlossene Weltsicht geprägt, die sich auf meine Gemeinschaft beschränkte. Ich begann mich durch den Kontakt mit sozialer und humanitärer Arbeit zu verändern: Dadurch wurde mir klar, dass alle Konfliktparteien die gleichen Traumata teilten und das gleiche Bedürfnis zu sprechen hatten. Dies gilt vor allem für Frauen, die in Krisenzeiten vermehrt häuslicher Gewalt ausgesetzt sind.
Die Covid-19 Lockdowns haben natürlich die Gewalt gegen Frauen und Kinder verstärkt, aber die Wirtschaftskrise wirkt am verheerendsten. Für Frauen, die ihre Arbeit verloren haben und zu Hause bleiben müssen, ist der Verlust der finanziellen Unabhängigkeit dramatisch: Es verschärft das Machtungleichgewicht. Sie haben nicht mehr die Ressourcen, um ihr Zuhause zu verlassen, um Zuflucht zu suchen oder gewalttätige Männer anzuzeigen. Dasselbe gilt für LGBTQIA*-Personen: Es gibt eine große Queer-Gemeinschaft in Tripoli, aber die meisten leben in Arbeitervierteln und haben keinen Safe Space. Weil ich ihnen ein tolerantes Ohr biete, kommen viele zu mir, um zu reden. Dasselbe gilt für einige NGOs, Cafés und Bars.
Aufgrund der dramatischen sozioökonomischen Situation in Tripoli müssen wir unsere feministische Herangehensweise an den Problemen vor Ort anpassen. Zum Beispiel vermeiden wir es, Wörter wie „Patriarchat“ zu oft zu verwenden, wenn wir in unterprivilegierten Gemeinschaften wie meiner oder mit syrischen Geflüchteten arbeiten. Denn viele Männer würden denken, dass wir sie anprangern, obwohl sie schon extrem unter Druck stehen – es könnten deswegen umso mehr Spannungen und Konflikte entstehen. Also konzentrieren wir uns auf einen pragmatischen Ansatz, bei dem wir die konkreten Auswirkungen des Patriarchats erklären. Zum Beispiel nehmen in Krisenzeiten die Frühehen in den prekärsten Bevölkerungsgruppen zu, da sie eine Möglichkeit darstellen, die Grundbedürfnisse der Mädchen und ihrer Familien durch die Mitgift zu decken. Wir versuchen in solchen Fällen auf die Traumata hinzuweisen, die diese Mädchen erleiden, und betonen die wirtschaftliche Bedeutung, sie zur Schule und zur Universität gehen zu lassen. Manchmal verschiebt sich dadurch nur das Heiratsalter von 12 auf 15-16 Jahre, aber manchmal verzichtet die Familie ganz darauf – vor allem, wenn wir ihnen finanziell helfen.
Es gibt hier enorme Ungleichheiten: In ländlichen Dörfern oder Flüchtlingslagern sind sich viele Frauen nicht einmal ihrer Grundrechte bewusst, während es gleichzeitig Richterinnen, Unternehmerinnen und Millionärinnen gibt! Das ist extrem toxisch und macht unsere Arbeit noch schwieriger. Gleichzeitig wirken die Religionen als ein erschwerender Faktor: das konfessionelle System verstärkt das Patriarchat. Im Libanon herrscht eine Mischung aus religiösem und säkularem Recht. Wenn es zum Beispiel um Heirat, Scheidung und Sorgerecht für Kinder geht, hat das religiöse Recht Vorrang, sowohl bei Christen als auch bei Muslimen. Und Frauen werden systematisch benachteiligt! Aber auch im Zivilrecht können zum Beispiel libanesische Frauen ihre Staatsangehörigkeit nicht an ihre Kinder weitergeben. Als Feministin fordere ich daher vor allem ein säkulares, tolerantes und gleichberechtigtes Zivilrecht. Für mich wäre das ein erster Schritt hin zu einer konkreten Alternative zum Patriarchat.
Beitragsbild und Bilder im Text, sowie Übersetzung aus dem Französischen: Philippe Pernot
Die Originalinterviews finden sich hier.