Interview mit Hans Laubek über das Referendum in Katalonien, den Generalstreik am 3. Oktober und die Hoffnung auf soziale Veränderung
Nach dem Referendum über die katalonische Unabhängigkeit hat die FAU-Schwestergewerkschaft Confederación Nacional del Trabajo (CNT) zusammen mit anderen Gewerkschaften zum Generalstreik in Katalonien am 3. Oktober 2017 aufgerufen. Sie verfolgt dabei andere Ziele, als „eine Nationalflagge gegen eine andere auszutauschen“. Hans Laubek (FAU Berlin) ist dabei und beantwortet unsere Fragen zu Referendum, Generalstreik und Gemengelage.
Direkte Aktion: Wie hast du den Tag des Referendums am 1. Oktober in Barcelona erlebt?
Hans Laubek: Der Tag fing sehr früh morgens an, Treffpunkt war um 5 Uhr vor einer Schule. Grund für das frühe Treffen war die angesagte Ankunft der Polizei gegen 6 Uhr, die dann die Schule versperren sollte. Vor allen Wahllokalen Kataloniens (Schulen, Altenheime, Rathäuser, etc.) traf sich die Nachbarschaft und verteidigte diese mit jeweils mindestens 50 und teils bis zu 500 Leuten.
Um 8 Uhr wurden die Wahlurnen und Wahlzettel durch mehrere Freiwillige, die die Urnen bei sich zu Hause versteckt hatten, zu den Wahllokalen gebracht. Die einzelnen Wahltische wurden aufgebaut. Um 9 Uhr hatten sich schon riesige Schlangen gebildet – in meiner Schule waren es ca. 1000 Leute. Als es anfing zu regnen, wurden die älteren und schwächeren Menschen in das Gebäude eingeladen und es wurden Stühle aus der ganzen Nachbarschaft herbeigeholt, damit sie sich ausruhen konnten.
Eine zentrales Online-Register ermöglichte es den Menschen in ganz Katalonien zu wählen – unabhängig vom zugeordneten Wahllokal, da viele durch die Repression des Staates nicht in ihrem eigenen Wahllokal den Stimmzettel abgeben durften.
Es fing ein „Hackerkrieg“ an: Die professionellen Informatiker*innen der Polizei schlossen einen Zugang zum Online-Register nach dem anderen, aber die freiwilligen Informatiker*innen auf der Seite des Referendums waren ihnen immer einen Schritt voraus. So konnten die Menschen wählen, auch wenn es ein paar Unterbrechungen gab.
DA: Der Tag des Referendums war auch ein Tag der Polizeigewalt.
HL: Schon vormittags kamen die ersten Videos und Bilder der Polizeirepression über die sozialen Medien an. Man konnte es einfach nicht glauben: Menschen, die über ihre eigene Zukunft bestimmen wollten, wurden gnadenlos geschlagen.
Die Polizeigewalt war in Spanien schon immer bekannt: Regimekritiker*innen wurden schon immer von den repressiven Kräften verprügelt und eingesperrt. Das Neue war, dass diese Menschen sich nicht auf einer Demo befanden: Sie wollten nur Urnen eines Referendums beschützen!
Die Emotionen wurden immer heftiger: Angst, dass die Polizei auch unser Lokal stürmen würde; Freude, dass man hier doch wählen konnte; Wut, über diese faschistischen Praktiken! Menschen fingen an zu weinen, als sie den Stimmzettel in die Urnen steckten, Fremde umarmten sich, um sich gegenseitig zu trösten.
Je mehr Gewalt vom Staat ausging, desto mehr Einheit schlug ihm entgegen: Man nahm uns die Wahlzettel weg, wir druckten noch mehr aus. Man nahm uns die Wahllokale, wir gingen ins nächste. Man warf uns und unsere Genoss*innen zu Boden, wir standen auf und waren stärker als vorher.
Es war einer der emotionsreichsten Tage meines Lebens: 100 % Spannung von 5 Uhr morgens bis 23 Uhr abends, als wir den letzten Wahlzettel ausgezählt hatten.
DA: Schon im Vorfeld des Referendums hatte das Auftreten der nationalen Polizei und der militärischen Guardia Civil viele Menschen empört und der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung Zulauf eingebracht. Hat der Tag des Referendums diese Tendenz verstärkt?
HL: Das Auftreten der Polizei hat nicht nur der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung Zulauf eingebracht, sondern allen sozialen und politischen Bewegungen. Ein Beispiel dafür sind die ca. 150.000 Personen, die „Nein“ gestimmt haben. Diese Menschen haben 2-3 Stunden – zum Teil im Regen – angestanden, um einfach nur das Selbstbestimmungsrecht – und nicht die Unabhängigkeit – zu unterstützen. Es war ein eindeutiges Zeichen an die Regierung von Rajoy, dass die Menschen in ganz Spanien sich nicht mehr von diesem faschistischen Oligarchenhaufen repräsentiert fühlen, bzw. vor denen Angst haben.
DA: Am 3. Oktober haben u.a. die Basisgewerkschaften CGT und CNT zum Generalstreik gegen die Polizeirepression aufgerufen. Wie lief der Streik?
HL: Der Streik war ein riesen Erfolg. Schon bei der Kundgebung um 10 Uhr morgens vor der Zentrale der PP (Partido Popular, Regierungspartei Rajoys) nahmen ca. 2000 Menschen teil. Wir standen bis ca. 11:30 Uhr dort: Es hatten sich zu dem Zeitpunkt schon mehr als 10.000 Menschen zusammengefunden.
Wir traten den Weg zur Plaça de la Universitat an und dem Demozug folgten mehrere Zehntausend Menschen. Immer mehr Menschen schlossen sich an: Autos hupten Beifall, Menschen, die zu Hause bleiben mussten, klatschten oder schlugen auf Töpfe, um ihre Solidarität kundzutun.
Die ganzen Straßen waren eine riesige Demonstration. Alles war voll von Menschen, die sich solidarisch gegen die Repression zeigten. Auf die Demo um 19 Uhr kamen ca. 700.000 Leute, davon ca. 10.000 in den libertären Block.
DA: Der Streikaufruf richtete sich in erster Linie gegen die staatlichen Repressionen, ohne Partei für einen katalanischen Nationalstaat zu ergreifen. Hat diese Differenzierung auf den Straßen tatsächlich eine Rolle gespielt, bzw. wurde dies auch öffentlich so wahrgenommen?
HL: Alles folgte den zwei anarchistischen Rufen: „els carrers seran sempre nostres“ (die Straßen werden immer uns gehören) und „la nostra millor arma, la solidaritat“ (unsere stärkste Waffe: die Solidarität).
Man muss jedoch zugestehen, dass der größte Teil der Leute mit „estelades“ (dem Symbol für die Unabhängigkeit) rumlief. Ich bin immer noch unentschlossen, ob das wirklich ein nationalistisches Symbol oder – wie ich hoffe – ein Kampfsymbol ist.
Das Thema Repressionen wurde durch die Organisationen wie Omnium Cultural (bedeutender katalanisch-nationalistischer Kulturverein) und ANC (Assemblea Nacional Catalana, Bürgerinitiative für die Unabhängigkeit) immer wieder zu einem nationalistischen Thema gemacht. Jedoch konnten wir als CNT immer wieder davon Abstand nehmen und den wahren Grund des Streiks ins Rampenlicht führen. Einerseits durch unsere Reden und auch durch Streikgruppen, die die großen Geschäfte im Zentrum von Barcelona (Apple, Burger King, McDonalds, etc.) schlossen, damit sich unsere Genoss*innen, die dort arbeiten, dem Streik anschließen konnten.
Wir haben gegen die Repressionen gestreikt und das mit Erfolg!
DA: Der spanische Zentralstaat wird infrage gestellt, die Menschen gehen in Massen für ihre Rechte auf die Straße, eine neue Verfassung soll geschaffen werden – welche Chancen siehst du in dieser Situation für emanzipatorische Forderungen, die über kulturelle Selbstbestimmung hinausgehen?
HL: Eine sehr schwierige Frage, muss ich gestehen. Aber ich folge dem Motto: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Ich habe hier erlebt, dass sich die Menschen vom basisdemokratischen Konsens überzeugen konnten. Alles wurde in Versammlungen auf Hauptplätzen entschieden – das Kiezleben ist in der Vordergrund getreten. Es kann in dem oben genannten Satz zusammengefasst werden: „la nostra millor arma, la solidaritat“.
Ich hoffe auf eine soziale, ökologische, feministische und internationalistische Verfassung. Wenn ich mit den Menschen hier spreche – auch Leuten, die vor ein paar Jahren noch eher dem rechten Spektrum zugeordnet werden konnten, merke ich, dass sie auch für eine progressive Verfassung plädieren. Die Menschen fordern ein neues, modernes Land. Man will nicht die gleichen Fehler der alten Regierungen zulassen. Jetzt hängt es von der Kraft der Massen ab, dieses korrupte und repressive System nicht zuzulassen.
DA: Welche Gefahren und (zukünftigen) Konfliktlinien siehst du innerhalb der Bewegung für die Unabhängigkeit?
HL: Ich habe die große Angst, dass die Mächtigen in Katalonien von dieser Unabhängigkeit profitieren wollen. Es gibt hier in Katalonien eine sehr starke, sehr korrupte Schicht, die die Medien und die größten Firmen besitzen. Diese katalanischen Medien sind ein gefährlicher Faktor, da ein Großteil der Bevölkerung ihnen blind vertraut, seit sie bei den jetzigen Bewegungen relativ objektiv berichtet haben.
Wenn die Mächtigen diese Medien für sich beeinflussen, wird die Repression für die Gewerkschaften und libertären Gruppierungen in Katalonien noch stärker als bisher. In einer kleineren Region sind die „Andersdenkenden“ bekannter und die polizeiliche Repression durch die Mossos d’Esquadra (katalanische Polizei) viel präziser und härter.
DA: Was können sich die Arbeiter*innen in Katalonien, aber auch auf der restlichen iberischen Halbinsel von den jetzigen Entwicklungen erhoffen? Und was vielleicht nicht?
HL: Ich kann hier nur sagen, dass die Welle der Solidarität auf der ganzen iberischen Halbinsel zu spüren ist. Es ist aber schwierig zu sagen, wie groß diese ist, da die wichtigen spanischen Medien – gesteuert durch die Zentralregierung – diese Solidarität „verheimlichen“. Das war auch bei der Bewegung des „15-M“ zu merken. Es wurde alles so lange totgeschwiegen und falsch dargestellt, bis die Bewegung stark geschwächt war – dazu kam das Knebelgesetz („ley mordaza“), das Menschen verbot, ihre Meinung und ihre Proteste offen auf der Straße kundzutun.
Die solidarische und basisdemokratische Bewegung, die gemeinsam mit erhobenen Händen gegen wütende und prügelnde Polizisten steht, kann als Beispiel und als Vorreiter für alle sozialen Bewegungen auf der ganzen iberischen Halbinsel wirken. Die Halbinsel ist ein Pulverfass, das die Zentralregierung nicht mehr unter Kontrolle bringen wird. Es liegt an uns allen, dieses Pulverfass in die richtige Richtung hochgehen zu lassen und dabei selbst keinen Schaden zu nehmen. Hierbei sind wir in Zentraleuropa sehr gefragt: Wir müssen die Informationen aus der iberischen Halbinsel über die sozialen Medien teilen, unsere Nachbar*innen und Freund*innen auf die Probleme aufmerksam machen und sie auffordern Teil zu werden eines neuen, modernen, sozialen, ökologischen, feministischen und internationalistischen Europas! Hoch die internationale Solidarität!
Interview mit Torsten Bewernitz und Gabriel Kuhn.
Der revolutionäre Syndikalismus, wie wir ihn kennen, gehört vielleicht der Vergangenheit an. Damit er überleben…
Rezension zum Buch der Sanktionsfrei e.V. Gründerinnen über Bürgergeld, Armut und Reichtum.
Arbeits- und Klimakämpfe verbinden - zum neuen Buch von Simon Schaupp und dem Film Verkehrswendestadt…
Alter Chauvinismus oder die Kehrtwende in eine neue Fürsorglichkeit.
Rezension zu „Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut“
Leave a Comment