Konstruktiver Sozialismus I

Allgemeine Betrachtungen

Aus: Die Internationale, Nr. 1, Jg. 1 (1927)

Wenn Gustav Landauer in seinem „Aufruf zum Sozialismus“ zu dem Ergebnis gelangte, daß die Verwirklichung des Sozialismus nicht von bestimmten „Gesetzen der Wirtschaft“ abhängig sei, sondern in erster Linie von dem bewußten Wollen der Menschen, die sich hinaussehnen aus der Oede des heutigen Lebens, um Neues zu schaffen auf gänzlich veränderten Grundlagen, so hat er damit eine Wahrheit ausgesprochen, für die man heute vielleicht mehr Verständnis gewinnt als früher. Den Stillen im Lande, die sich nicht dazu herzugeben vermögen, den stupiden Heerbann der Parteipolitiker und marktschreierischer Demagogen zu verstärken, wird es immer klarer: „Sozialismus ist die Willenstendenz geeinter Menschen, um eines Ideales willen Neues zu schaffen“.

Damit ist jedoch nicht gesagt, daß die geistige und materielle Umwelt auf das Werden des Sozialismus keinen Einfluß hätte, oder daß seine Verwirklichung lediglich der inneren Begeisterung und dem guten Willen einer Handvoll Idealisten überlassen bleibe. Das dachte auch Landauer nicht, denn er fühlte zu gut, daß der Trieb nach Gemeinschaft und der Schöpferdrang, der danach lechzt, Neues zu schaffen, erst wieder mächtig aus der Tiefe lodern und sich machtvoll unter den Menschen entfalten müsse, bevor das Neue greifbare Gestalt gewinnen könne. Ihm war es hauptsächlich darum zu tun, jenen spießerhaften Fatalismus zu treffen, der jeden praktischen Versuch im Geiste des Sozialismus von vornherein ablehnt mit der Begründung, daß er den Gesetzen der wirtschaftlichen Entwicklung widerspreche und lediglich als unfruchtbarer Utopismus zu betrachten sei. Und gerade weil er das fühlte, sprach er davon, daß „einmal der Moment kommen könnte, wenn die Völker noch lange zögern, wo das Wort heißen muß: diesen Völkern kann der Sozialismus nicht mehr kommen“.

Sind wir überhaupt dem Sozialismus näher gekommen? Das ist die Frage, die wir uns heute ernsthaft stellen müssen. Es sind schon über hundert Jahre verflossen, daß zum erstenmal der Werberuf des modernen Sozialismus erklungen ist, und eine Arbeiterbewegung mit mehr oder weniger sozialistischem Einschlag besteht schon über siebzig Jahre. Was sind die Ergebnisse, soweit die Verwirklichung des Sozialismus in Betracht kommt? Wir fragen noch einmal: Sind wir dem Sozialismus praktisch näher gekommen oder haben wir uns weiter von ihm entfernt? Sind die Möglichkeiten seiner Verwirklichung heute geringer geworden oder türmen sich ihr größere Hindernisse entgegen, als dies früher der Fall war?

Man verstehe mich recht. Es handelt sich nicht darum, ob die allgemeine Bewegung, die wir heute als sozialistisch bezeichnen, an Zahl stärker geworden ist, ob sie einen bestimmten politischen Einfluß auf das gesellschaftliche Leben bekommen hat oder ob sie heute über weitverzweigte Organisationen und zahlreiche kulturelle Einrichtungen verfügt, an die sie vor fünfzig Jahren noch nicht denken durfte. Um das alles handelt es sich nicht. Die Geschichte hat uns oft genug gezeigt, dass die numerische Stärke einer Bewegung sehr häufig auf die Kosten ihrer ursprünglichen Bestrebungen erkauft wurde, und leider ist es mit der sozialistischen Bewegung nicht besser bestellt. Es handelt sich hier einzig und allein um die Frage, ob wir dem großen Endziel des Sozialismus, der Abschaffung aller wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Monopole und der Reorganisation des sozialen Lebens auf der Basis gemeinschaftlicher Arbeit und gemeinschaftlichen Genusses der erzeugten Werte fühlbar näher gekommen sind.

Ist die geistige und seelische Einstellung der arbeitenden Klassen nach der langen und unermüdlichen Aufklärungsarbeit der sozialistischen Propaganda heute dergestalt, daß sie von der Größe des Problems durchdrungen sind und ihr schöpferischer Sinn nach Mitteln und Wegen Ausschau hält, um der praktischen Verwirklichung des Sozialismus die Bahn zu ebnen? Ist der Drang für das Neue, die innere Begeisterung für eine vollständige Umgestaltung der Gesellschaft heute endlich so stark entwickelt, wenn nicht bei allen, so doch zum wenigsten bei den ausgesprochenen Anhängern der einen oder der anderen sozialistischen Richtung, daß bloß noch das Bollwerk staatlicher Gewalt zu überwinden ist, um dem Sozialismus Eingang zu verschaffen?

Wir sind der Meinung, daß jeder, der über diese Frage ernstlich nachgedacht hat und dem der Sinn durch das öde Schlagwörtertum der Parteien noch nicht vollständig verdreht ist, zu der Ueberzeugung kommen mußte, daß alle einstigen Voraussetzungen sich nicht erfüllt haben, daß wir heute vom Sozialismus weiter entfernt sind als je zuvor, daß die Arbeiter, die doch an der sozialen Umgestaltung am meisten interessiert sein sollten, ihre Kräfte seit Jahrzehnten in hoffnungslosen politischen Parteirankünen zwecklos verpulvern, so daß sie für die großen Fragen des Sozialismus kaum noch Vers ständnis aufbringen. Vor allem aber haben sie sich in einem so unfruchtbaren und öden Doktrinarismus festgerannt, daß ihnen jeder praktische Ausblick für die unmittelbare Tätigkeit im Sinne des Sozialismus verlorengehen mußte.

In derselben Zeit hat sich der Kapitalismus zu einer furchtbaren, alles nivellierenden Macht entwickelt, ohne bei der organisierten Arbeiterklasse auch nur auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Vom Privatkapitalismus vergangener Zeiten sind wir heute in die Phase des Kollektivkapitalismus eingetreten, mit seinen nationalen und internationalen Trusts und Kartellen, seinen sich über alle Länder erstreckenden Verkaufsgesellschaften und seiner Diktatur der Wirtschaft. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, erscheint die praktische Verwirklichung des Sozialismus heute viel schwieriger als je zuvor, und jedem unmittelbaren Versuch im kleineren Maßstab stehen heute von allen Seiten Hindernisse im Wege, die man früher in dieser Stärke überhaupt nicht kannte. Es ist also gar kein Zweifel, daß wir uns nicht nur im Geiste, sondern auch in den praktischen Möglichkeiten heute weiter vom Sozialismus entfernt haben, anstatt ihm in der einen und in der anderen Form näher zu kommen. Es ist sicher keine pessimistische Anwandlung, welche uns zur Feststellung dieser Tatsache veranlaßt, sondern die nüchterne Beurteilung der Verhältnisse, das Bestreben, die Dinge so darzustellen, wie sie in Wirklichkeit liegen, und nicht, wie gefällige Schönfärberei sie vorzustellen beliebt.

Gewiß wird man uns entgegenhalten, daß wir die letzte Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse vollständig verkennen. Man wird uns beweisen wollen, daß die nationale und internationale Vertrustung, die Rationalisierung der Wirtschaft und die Versuche, an Stelle der sogenannten freien Konkurrenz einen geregelten und organisierten Markt zu setzen, ja die ersten unumgänglichen Vorbedingungen für die Verwirklichung des Sozialismus seien. Wir kennen die Weise, wir kennen den Text! Aber wir wissen auch, daß Leute, die solche Behauptungen aufstellen, den Geist und den kulturellen Inhalt des Sozialismus nie verstanden haben, daß das, was ihnen als Sozialismus vorschwebt, im besten Falle ein verkappter Staatskapitalismus ist, dessen Verwirklichung alle Gebrechen und allen Ungeist des heutigen kapitalistischen Systems weit in den Schatten stellen würde. Nur der vollständige Mangel an jeglichem Freiheitsgefühl erklärt eine solche Einstellung, die nie begreifen wird, daß der Sozialismus nur auf der Basis weitestgehender Freiheit bestehen und jeder Versuch in einer anderen Richtung nur zu einem schrankenlosen Despotismus führen kann.

Es gab eine Zeit, wo der Sozialismus sich von dem politischen Radikalismus scharf trennte, indem die Vorkämpfer sozialistischer Anschauungen klar erkannten, daß der Sozialismus seine eigene Wirkungssphäre habe und hauptsächlich in der Reorganisation der Wirtschaft seinen Ausdruck finden müsse. Unter dieser Voraussetzung entwickelte sich der Experimentalsozialismus der ersten Periode. Heute ist das Verhältnis ganz anders geworden. Die sozialistische Bewegung hat alle Bestrebungen des politischen Radikalismus in abgeschwächter Form übernommen, und zwar so sehr übernommen, daß ihre ursprünglichen Ideen immer farbloser geworden sind und deren Verwirklichung in immer weitere Ferne hinausgerückt wurde. Aber sie hat auch die alte Gedankenwelt des politischen Radikalismus nicht umfassender und tiefer gestaltet, im Gegenteil, die unbegrenzte Staatsgläubigkeit ihrer Anhänger hat den Elan dieser Ideen gebrochen und degenerierend auf sie gewirkt, so daß man sich schließlich auch nicht mehr darüber wundern durfte, wenn aus den Reihen der extremsten Staatssozialisten die Freiheit als ein „bürgerliches Vorurteil” bezeichnet wurde.

Als die alten Sozialisten der verschiedensten Richtungen ihre ersten praktischen Versuche anstellten, waren sie ein kleines Häuflein, dessen Ideen der Umwelt vollständig fremd waren und dem keinerlei nennenswerte Organisation, besonders aber keine Organisation im Sinne der heutigen Arbeiterbewegung zur Verfügung stand, die ihnen helfen konnte in ihrer praktischen Betätigung und in der Bearbeitung der öffentlichen Meinung. Sie waren fast lediglich auf ihren guten Willen und ihren inneren Drang, etwas Neues zu schaffen, angewiesen.

Heute hat sich das Bild bedeutend geändert. Die Arbeiter haben in allen Ländern große Organisationen geschaffen, deren Mitglieder nach Millionen zählen. Außer den zahlreichen sozialistischen Kulturgesellschaften auf allen möglichen Gebieten, vom wissenschaftlichen Verein bis zum Sportklub, sind die Arbeiter heute zusammengeschlossen in großen sozialistischen Parteien und gewerkschaftlichen Verbänden, die sich auf alle Berufe ausdehnen und sowohl national als international miteinander verbunden sind. Dazu kommen noch die genossenschaftlichen Organisationen in allen Ländern, die sich allerdings fast ausschließlich auf den Konsum eingestellt haben, aber ebenfalls heute über Millionen Mitglieder verfügen.

Alle diese Organisationen verfügen über eine weitverbreitete Presse, bedeutende finanzielle Mittel und eine Menge öffentlicher Einrichtungen, welche den verschiedensten Zwecken dienen. Es sind also heute Voraussetzungen gegeben, von denen die Sozialisten der ersten Periode sogar nicht träumen durften, Voraussetzungen sowohl für die Möglichkeit praktischer sozialistischer Versuche, wie auch für die fortgesetzte Beeinflussung der Oeffentlichkeit, um diese von der Gerechtigkeit, Nützlichkeit und Notwendigkeit des Sozialismus zu überzeugen.

Vor ungefähr zwanzig Jahren bemerkte Kropotkin einmal in einem Aufsatz in „Freedom“, daß die englische Arbeiterschaft heute über einen Organisationsapparat gebiete, der sie jederzeit in den Stand setze, eine vollständige Umgestaltung des gesellschaftlichen Lebens im Sinne des Sozialismus vorzunehmen. Er berief sich dabei auf die drei großen Bewegungen der englischen Arbeiterklasse: die Gewerkschaften, die Genossenschaften und den Munizipalsozialismus. Nach seiner Meinung waren die Gewerkschaften das geeignetste Instrument für eine sozialistische Umgestaltung der Produktion, die Genossenschaften für eine solche des Konsums, während der Munizipalsozialismus im Verein mit den zahllosen freiwilligen Organisationen für alle möglichen Zwecke am besten der Befriedigung allgemein kultureller Bedürfnisse vorstehen könnte. Es handele sich gegenwärtig hauptsächlich darum, diese drei Bewegungen synthetisch zusammenzufassen und ihnen ein gemeinschaftliches konstruktives sozialistisches Ziel zu geben.

Kropotkin hatte unzweitelhaft recht. Die organisatorischen Vorbedingungen für eine konstruktive sozialistische Betätigung sind tatsächlich vorhanden, und nicht bloß in England, sondern auch in vielen anderen Ländern. Was uns aber heute fehlt, ist der sozialistische Geist und der Wille zum Sozialismus. Wir sehen schon bei jeder Idee des Versuches das unvermeidliche Ergebnis voraus und wundern uns dann, wenn sich die Hindernisse unserer Phantasie zu wirklichen Hindernissen auswachsen. Oder, wie Landauer es so schön zum Ausdruck brachte: „Die Zerstörung aller Hindernisse kommt wenn sie wirkliche Hindernisse sind, wenn wir namlich ganz dicht, so daß nicht der kleinste Zwischenraum mehr ist, bis zu ihnen herangerückt sind. Jetzt sind sie nur Hindernisse der Voraussicht, der Phantasie, des Bangens. Wir sehen schon: das und das wird man uns, wenn’s so weit ist, in den Weg legen — und tun einstweilen lieber gar nichts.“

Das Schlimmste ist, daß diese verschiedenen Formen, in welchen die sozialistische Arbeiterbeweung heute ihren Ausdruck findet, sich ganz und gar auf das Bestehende eingestellt haben und sozusagen Bestandteile desselben geworden sind, ohne daß ihre Träger auch nur eine Ahnung davon haben. Der politische Sozialismus, der seine ganzen Bestrebungen auf die Eroberung der Macht eingestellt hat, kommt schon aus diesem Grunde nicht für konstruktives sozialistisches Werken in Betracht. Die Gewerkschaften haben sich so sehr und so ausschließlich auf die Verhältnisse innerhalb des bürgerlichen Staates eingestellt, daß sie vor jedem Versuch, die Grenzen des Lohnsystems zu überschreiten, zurückbeben und gerade aus diesem Grunde auch im Kampfe für momentane Verbesserungen mehr und mehr versagen müssen. Denn nur wer Großes fordert, dem wird Kleines gewährt. Wer sich aber immer nur mit Kleinem und Kleinstem beschäftigt, der muß sich zuletzt zufriedengeben mit den kärglichen Brosamen, die vom Tisch der Mächtigen herabfallen.

Die Genossenschaften aber haben die einstigen Voraussetzungen ihrer Bestrebungen längst vergessen und sich in Organe der kapitalistischen Gesellschaft umgewandelt. Wir wollen nicht bestreiten, daß sie auch in dieser Form dem einzelnen Arbeiter noch von bescheidenem Nutzen sein können; aber der sozialistische Fernblick, den Robert Owen einst hatte, ist ihnen verlorengegangen und zusammen mit ihm der Drang zu konstruktiver sozialistischer Betätigung.

Und doch stehen wir heute wieder vor einer Wende, wo sich die Notwendigkeit für ein konstruktives Wirken im Sinne des Sozialismus mehr und mehr bemerkbar macht und Verständnis findet. In jedem Lande sind bereits Ansätze eines solchen Wirkens wahrzunehmen. Aus diesem Grunde halten wir eine ernste Betrachtung über die verschiedenen Former des konstruktiven Sozialismus, von den ersten Versuchen des Experimentalsozialismus bis zum modernen Gildensozialismus, für geboten. Dies soll die Aufgabe späterer kommender Ausführungen sein. R.R.

 

Der Experimentalsozialismus

Aus: Die Internationale, Nr. 2, Jg. 1 (1927)

Will man den Charakter und die praktischen Versuche des älteren Experimentalsozialismus richtig beurteilen, so muß man vor allen Dingen seine Träger im Geiste ihrer Zeit zu erfassen suchen und ihr konstruktives Wirken danach bewerten. Auch der größte und am weitesten blickende Geist ist mit tausend Ketten an seine Zeit geschmiedet und muß in seinen Handlungen mit ihrem Maßstab gemessen werden, wenn man ihn anders nicht zur Karikatur verzerren will.

Fourier und sein Kreis, Saint-Simon und die Saint-Simonisten (Streng genommen kann man Saint-Simon nur bedingt zu den eigentlichen Experimentalsozialisten rechnen, wohl aber die Saint Simonisten, deren Bestrebungen man übrigens nicht mit den Ideen des Meisters verwechseln darf), Leroux, Buchez und die Befürworter der Assoziations-Idee, Cabet und die Ikarischen Kommunisten, ebenso wie Owen, Thompson, Grey und die übrigen Vertreter des Experimentalsozialismus in England, vertraten in ihren Anschauungen über das gesellschaftliche Leben und seine Institutionen verschiedene Meinungen. Manche unter ihnen neigten entschieden zu freiheitlichen Ideen, andere waren streng autoritär und wieder andere von ihnen pendelten stets zwischen beiden Polen hin und her, ohne sich je zu einer bestimmten Auffassung durchringen zu können.

Doch gibt es gewisse gemeinsame Züge zwischen ihnen, die sich nicht verkennen lassen. Dazu gehören in erster Linie der friedliche Charakter ihrer Bestrebungen, ihre ausgesprochene Antipathie gegen alle revolutionären Lösungen und der innere Drang, die Welt durch das praktische Beispiel von der Richtigkeit ihrer Ideen zu überzeugen.

Gerade diese Einstellung wurde später oft als Beweis für ihre rückständige Gesinnung und ihren Mangel an praktischer Erfahrung herangezogen. Nun besteht allerdings nicht der geringste Zweifel darüber, daß wir heute eine ganze Reihe von Erfahrungen hinter uns haben, welche die Pioniere des modernen Sozialismus unmöglich haben konnten; auch verfügen wir heute über bestimmte Vorbedingungen für die Verbreitung sozialistischer Ideen, von denen man damals nicht einmal träumen durfte. Doch läßt sich von der anderen Seite nicht bestreiten, daß auch die ersten Träger des modernen sozialistischen Gedankens über eine Reihe wertvoller Erfahrungen verfügten, die uns später wieder ganz verloren gingen. Manche dieser Männer hatten die Stürme der großen französischen Revolution noch selber erlebt; die jüngeren unter ihnen standen noch in dem Bann ihrer unmittelbaren Nachwirkungen. Diese praktischen Erfahrungen übten auf ihr Denken einen unverkennbaren Einfluß, was in ihrem späteren sozialistischen Wirken einen deutlichen Ausdruck fand.

Manches, was wir früher nicht recht begreifen wollten, ist uns durch die praktischen Erahrungen, die wir mit den Revolutionen in Rußland und Mitteleuropa gemacht haben, menschlich näher gekommen. Die falschen und einseitigen Darstellungen der großen französischen Revolution durch die Historiker des bürgerlichen Radikalismus haben auch die meisten Sozialisten unserer Zeit stark beeinflußt. Sie haben die Diktatur des Jakobinertums mit einem revolutionären Nimbus umwoben, der noch durch den gewaltsamen Tod der hervorragendsten Führer jener Partei verstärkt wurde.

Wir hatten uns so sehr daran gewöhnt, in dem revolutionären Konvent die treibende Kraft der Revolution zu erblicken, daß seine Vertreter in unserer Vorstellung jeden menschlichen Maßstab verloren und sich zu Titanen auswuchsen, die der Geschichte den Stempel ihres Willens aufdrückten. So entstand in unserem Geiste die Vorstellung von einem revolutionären Uebermenschentum, dessen menschliche Gebundenheit sich vollständig im Nebel abstrakter Prinzipien verlor und uns deshalb nie zum Bewußtsein kam. Man könnte einwenden, daß nur der Mangel an Verständnis für die wirtschaftlichen Vorgänge der Geschichte zu solchem Heroenkultus führen könnte, wenn unsere eigene Zeit uns nicht eines Besseren belehrt hätte. Man denke an die Vorgänge bei Lenins Begräbnis, an den wilden Fanatismus, der bei einem Teile der Arbeiter und Intellektuellen in der ganzen Welt entfesselt wurde und der sich nicht scheute, begeistert in die Hände zu klatschen, als man die revolutionären Matrosen von Kronstadt wie die Hunde niederschoß und Tausende ehrlicher Revolutionäre in den Kerkern des bolschewistischen Staates lebendig begrub. Keine materialistische Geschichtsauffassung konnte diesen modernen Heroenkultus verhindern, der sogar den Kultus, den man bisher mit den Männern des französischen Konvents getrieben hatte, weit in den Schatten stellt.

Heute, wo wir selber Zeugen großer gesellschaftlicher Veränderungen geworden sind und mehr wie einmal Gelegenheit hatten, das Unzulängliche der neuen Machthaber zu beobachten, blicken die Einsichtigen unter unseren Zeitgenossen auch mit anderen Augen auf die Periode der großen französischen Revolution. Wir haben mit eigenen Augen gesehen, wie man aus Menschen Götter machte und haben erlebt, wie dieselben Menschen ihre Auserwählten aller Göttlichkeit entkleideten und sie der Verachtung und Lächerlichkeit preisgaben. Nichts wirkt so ernüchternd auf Menschen, wie der jähe Sturz der Gewaltigen, welche durch die Gunst des Augenblickes zu ihrer Höhe emporgetragen wurden. Jede Götterdämmerung erschüttert das Prinzip der Autorität in seinen Grundfesten.

Und heute sehen wir, wie Trotzky, der neue „Organisator des Sieges“, und Sinowjew, vor dessen Größe sogenannte Revolutionäre erschauernd in den Staub sanken, wie persische Satrapen vor dem Despoten des Reiches, plötzlich aus der Atmosphäre der Unnahbaren gerissen und als Verräter derselben Revolution gebrandmarkt werden, die sie zu ihrer Höhe hinantrug. War früher kein Wort zu schwülstig und zu überschwänglich, ihre Taten zu preisen und in alle Welt hinauszuposaunen, so ist heute kein Anwurf und keine Gemeinheit groß genug, um ihnen den Eselstritt zu versetzen und sie der Welt als Konterrevolutionäre und Parteimarodeure zu denunzieren.

Wohl brüllt die „revolutionäre“ Hurrakanaille auch heute „Bravo!“, ganz wie damals, als die Gestürzten noch im Zenith ihrer Herrlichkeit thronten; genau wie einst, als dieselbe Menge, die gestern noch Robespierre und Saint Just zu jubelte, am anderen Tage in die Hände klatsche, als ihre Häupter unter dem Messer der Guillotine fielen. Das war immer so, wenn Götter starben.

Aber die ernsten Geister, die sich nicht zu blinden Anbetern des augenblicklichen Erfolges erniedrigen und deren suchende Augen hinter den äußeren Draperien und Fassadendekorationen die Schlingen und Fallen des politischen Ränkespiels und der Parteiintrige erkannten, ihnen fiel es wie Schuppen von den Augen, und ihre ererbte Ehrfurcht vor den „Titanen“ ging für immer in die Brüche.

Gerade darum begreifen wir heute besser denn je zuvor, wenn Männer wie Saint-Simon, Fourier usw. über die revolutionären Ereignisse ihrer Zeit ein anderes Urteil hatten als wir. Wirkte in ihnen doch mit aller Macht der Eindruck einer Zeit, die wir nur aus weitester Perspektive erblickten und deshalb ihrer menschlichen und allzu menschlichen Qualitäten nicht innewerden konnten.

Die französische Revolution hatte den Glauben an die Allmacht des Staates erst recht begründet. Sie hatte den Untertan zum Bürger gemacht und ihm die Ueberzeugung eingeflößt, daß er nun selbst dazu berufen sei, am Wohle der Nation mitzuarbeiten. Schmiedete früher einer die Ketten für alle, so schmiedete fortan jeder seine eigenen Ketten und glaubte dabei frei zu sein. Es war der Jakobinismus, der diesen Wahnglauben an den Staat, welcher noch heute die große Mehrheit der Menschen in seinem Banne hält, bis zum äußersten entwickelt hatte. Seine Träger glaubten tatsächlich, mit der Hilfe des Gesetzes allen menschlichen Leiden und gesellschaftlichen Gebrechen ein Ende bereiten zu können. Die Gesetzgebung war ihnen zur irdischen Vorsehung, der Gesetzgeber zum unbeschränkten Herrn des Schicksals der Nation geworden.

„Der Gesetzgeber bestimmt die Zukunft!“ erklärte Saint Just. „Es ist an ihm, das Gute zu wollen und die Menschen so zu formen, wie er es für gut findet.“

Und die Männer des „unsterblichen Konvents“ wiederholten diese Phrase jeden Tag in allen erdenklichen Variationen. Es ist überhaupt ganz unverständlich, wie wenig Sinn diese Leute für die wirklichen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens hatten. Sie schwelgten geradezu in abstrakten Vorstellungen und glaubten aller Schwierigkeiten durch Dekrete Herr werden zu können, ganz genau wie unsere modernen Jakobiner in Rußland, die in der kurzen Zeit ihrer Existenz mehr Dekrete ins Land schickten, wie alle anderen Regierungen zusammengenommen.

Am auffallendsten trat diese erstaunliche Weltfremdheit zutage, wenn der Konvent über wirtschaftliche Probleme verhandelte. Hier fehlte seinen Vertretern jedes tiefere Verständnis, jeder Fernblick, ja jeder Sinn für die Fragen des täglichen Lebens.

Wie jede große Umwälzung in der Gesellschaft, so löste auch die französische Revolution zunächst eine tiefgehende Erschütterung des wirtschaftlichen Gleichgewichts aus, ein Zustand, welcher durch die feindliche Stellung des Auslands Frankreich gegenüber noch verschärft wurde. Besonders in Paris und den übrigen größeren Städten des Landes nahm mit der zunehmenden Arbeitslosigkeit das soziale Elend ganz ungeheuerliche Formen an und zeigte sich in seiner krassesten Gestalt.

Der Konvent aber glaubte dieser furchtbaren Erscheinung, deren weitere Entwicklung die Errungenschaften der Revolution ernstlich in Frage stellen mußte, durch pomphafte Dekrete begegnen zu können. So erklärte er feierlich das Elend für ein Verbrechen und betraut den Staat damit, die öffentliche Wohltätigkeit zu organisieren, um denen zu helfen, die nicht imstande waren, ihr Leben durch eigene Arbeit zu fristen. Und mit der ganzen theatralischen Einstellung, die ihm eigen war, bestimmte das „revolutionäre Parlament“ einen besonderen Feiertag im Jahr, um das Unglück zu ehren und die öffentliche Mildtätigkeit moralisch in Kurs zu bringen.

Dabei war die Regierung über und über verschuldet und hatte so gar keine Möglichkeit, ein solches System der staatlichen Philantropie auch nur einigermaßen durchführen zu können. Schon der Versuch allein, das soziale Elend durch öffentliche Wohltätigkeit aus der Welt schaffen, zu wollen, zeigt mit erschreckender Deutlichkeit, wie wenig diese Männer imstande waren, auch nur die alltäglichsten Fragen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens zu begreifen. Solange die revolutionäre Phraseologie ihre Wirkung auf die breiten Massen noch nicht eingebüßt hatte, konnte die Regierung sich solche Dinge leisten; aber auf die Dauer konnte die theatralische Geste und das Pathos revolutionärer Rhetorik nicht verfangen. Die Phrase mußte früher oder später an der Wirklichkeit des praktischen Lebens zerschellen. In dem Augenblick, wo diese Ernüchterung eintrat, war das Ende deutlich in Sicht; der Weg zum 9. Thermidor war durch kein Hindernis mehr versperrt.

Die großen Pioniere des Sozialismus, die, wie Saint-Simon und Fourier, den Entwicklungsgang der Revolution vom Sturze der alten Dynastie bis zur Errichtung des ersten Kaiserreiches aus eigener Anschauung kannten, oder wie die anderen, noch unter dem frischen Eindruck der großen Ereignisse standen, hatten erkennen gelernt, daß die Wurzel des gesellschaftlichen Uebels viel tiefer liege, als daß man ihr mit rein politischen Mitteln beikommen könne. Im Gegensatz zu den Befürwortern des politischen Radikalismus erblickten sie in der ökonomischen Basis der Gesellschaft die eigentliche Ursache der politischen und sozialen Vorgänge, und erstrebten daher folgerichtig eine vollständige Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse. Sie erkannten, daß auch die Revolution keine Welt aus dem Nichts schaffen konnte, sondern nur die Keime zur Entfaltung bringen könne, die bereits vorhanden waren und denen die Durchbruchsmöglichkeit bisher fehlte.

Gerade aus diesem Grunde standen sie der Revolution skeptisch gegenüber, denn sie vermochten nur ihre destruktive Seite, nicht aber ihre konstruktiven und schöpferischen Tendenzen zu sehen, die sich allerdings nur in den Aktionen des Volkes, nicht aber in der gesetzgebenden Tätigkeit des Konvents offenbarten.

Ein Denker von der Tiefe Saint-Simons, mußte mit innerer Geringschätzung auf das Gebaren einer „revolutionären“ Regierung blicken, die sich allen wirtschaftlichen und sozialen Problemen gegenüber total unfähig erwiesen hatte. Er hatte einmal die Gesellschaft mit einem Individuum verglichen und dabei den Gedanken entwickelt, daß ebenso wie die Vormundschaft der Eltern über ihren Sprößling mit dessen Reife ihr Ende erreiche, so würde auch das Regieren der Menschen nur so lange währen, bis sie durch die Entwicklung der Wissenschaft und Industrie zur inneren Reife gelangten.

Dann aber müsse die Kunst, die Menschen zu regieren, der Kunst, die Dinge zu verwalten, den Platz räumen. Es versteht sich von selbst, daß ein Mann der in einer Zeit, wo der Glaube an die Allmacht des Staates so mächtig entwickelt war, solche verwegenen Gedanken hegte, weder der Allmacht der Gesetzgeber noch der Revolution der Dekrete irgendwelchen Gefallen abzugewinnen vermochte. Er, der noch auf dem Totenbett die Worte sprach: „Mein ganzes Leben läßt sich auf den einzigen Gedanken zurückführen, allen Menschen die freie Entwicklung ihrer Fähigkeiten zu verbürgen“, konnte sich unmöglich mit dem Gedanken Rousseaus befreunden, daß der Gesetzgeber
dem Menschen „seine eigenen Kräfte nehmen und durch fremde ersetzen müsse“, ein Gedanke, der dem Jakobinertum zum politischen Evangelium geworden war und der allen modernen Jakobinern noch heute als großes Ideal ihres Strebens vorschwebt.

Saint-Simon, der ein leidenschaftlicher Verehrer der Wissenschaft war, begrüßte die Industrie, deren gesellschaftliche Rolle er mit klarem Seherblick voraussah, mit leidenschaftlicher Freude, aber der Gedanke, aus dem Menschen Automaten zu machen, entsetzte ihn. Aus diesem Grunde ist er auch nicht verantwortlich für die späteren Handlungen seiner Schüler, von denen kaum einer imstande war, den kühnen Gedankenflügen des Meisters zu folgen.

Aber auch Fourier konnte in dieser Hinsicht nicht anders fühlen. Er, der in der Assoziation das Mittel erkannte, um der Arbeit den Charakter der Sklaverei zu nehmen, der jede Neigung und Leidenschaft des Menschen durch eine neue Erziehung dem Wohle der Gemeinschaft dienstbar machen wollte, er, der mit seiner Theorie der „attraktiven Arbeit“ dem Sozialismus erst seinen tieferen psychologischen Charakter gab und der sich die Welt der Zukunft als eine Föderation freier produzierender Kommunen vorstellte, deren Netz sich über die ganze Erde erstreckte, konnte sich im Grunde seines Herzen gewiß nicht für die ordnende Weisheit des Gesetzgebers begeistern. Wußte er doch zu gut, wo die eigentlichen Wurzeln der gesellschaftlichen Sklaverei zu suchen waren.

Es ist also klar, weshalb die ersten Träger moderner sozialistischer Ideen nicht revolutionär sein konnten im gewöhnlichen Sinne des Wortes, obgleich ihre Gedanken von einer hervorragend revolutionären Bedeutung gewesen sind. Ihnen kam es in erster Linie darauf an, die Köpfe zu revolutionieren, um sie für die Möglichkeit eines anderen Gesellschaftszustandes empfänglich zu machen und in ihnen den Willen nach einer Veränderung der  gesellschaftlichen Verhältnisse zu erwecken.

Aber gerade bei dieser Arbeit fehlten ihnen so gut wie alle Vorbedingungen, die heute für uns bestehen und uns ganz selbstverständlich erscheinen. Obwohl gerade die werktätigen Klassen in der Gesellschaft an diesen neuen Ideen das größte Interesse haben mußten, konnten sich die Sozialisten jener Periode fast ausnahmslos nur an kleine Kreise der Intellektuellen wenden, da eine Arbeiterbewegung im heutigen Sinne überhaupt noch nicht existierte, außer in England, wo bereits die Anfänge einer solchen vorhanden waren. Es gab kein Versammlungswesen wie heute, keine sozialistische Presse, keine organisierte Bewegung. Das alles mußte erst geschaffen werden. Schon aus diesem Grunde lag der Gedanke sehr nahe, die Aufmerksamkeit der Welt durch das praktische Beispiel auf die neuen Ideen zu lenken und die Menschen durch eine friedliche Propaganda der Tat von ihrer inneren Richtigkeit zu überzeugen.

Damit war das Fundament für den Experimentalsozialismus jener Periode gelegt. R. Rocker.

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